Was lehrt der Fall Stefan Gelbhaar? Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen: Von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie vielleicht besser fernhalten
In Umfragen geben 13 Prozent der Deutschen an, sie würden für die Grünen stimmen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Weitere zwölf Prozent sagen, dass sie sich eine Wahl der Grünen grundsätzlich vorstellen könnten.
Was macht die Grünen für Wähler attraktiv? Der Einsatz für den Klimaschutz? Sicher. Der Kampf für Gleichberechtigung und Minderheitenrechte? Auch das. Aber das eigentliche Versprechen ist ein anderes. Dass es in der Gesellschaft menschlich zugehe, dass nicht Neid und Missgunst regieren, sondern Anstand und Ehrlichkeit, das ist das wahre Angebot.
So steht es auch auf den Plakaten. Wo die anderen mehr Rente oder günstigere Mieten in Aussicht stellen, prangt bei den Grünen einfach das Wort „Zusammen“. „Ein Mensch. Ein Wort“, das ist der Satz, mit dem Robert Habeck und Annalena Baerbock für sich werben.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 48 Jahre alt, mit zwei Kindern, seit sieben Jahren sitzen Sie im Deutschen Bundestag. Wenige Tage vor der für Sie entscheidenden Abstimmung, in der über den Listenplatz für die nächste Bundestagswahl befunden wird, tauchen Gerüchte auf, Sie hätten sich Frauen in ungebührlicher Weise genährt.
Es gibt nichts Fassbares, keine Namen oder konkrete Angaben, nur allgemeine, dazu anonyme Anschuldigungen. Aber das reicht, um Ihnen den Rücktritt nahezulegen. Sie müssten zurückziehen, werden Sie aus der Spitze der Partei bedrängt, dazu gäbe es keine Alternative.
Sie sind wie vom Donner gerührt, sie können sich auf alles keinen Reim machen. Dann steigt das Fernsehen ein. Und die Anschuldigungen werden immer wilder. Es heißt, sie hätten sich eine Frau gefügig gemacht, indem sie diese mit K.-o.-Tropfen betäubt hätten. Einer anderen Frau sollen Sie gegen ihren Willen an den Busen gefasst, einer weiteren einen Kuss aufgezwungen haben. Woher die Journalisten die Informationen haben? Sie können nur raten. Bis eben galten Sie als einer der Stars Ihrer Partei, Sie haben eines der wenigen Direktmandate gewonnen. Aber binnen weniger Tage bricht alles zusammen.
Wohin Sie sich auch wenden: Niemand ist bereit, sich für Sie zu verwenden. Die Bundestagsfraktion umfasst 117 Abgeordnete, jeder kennt jeden. Aber auch hier regt sich keine Hand zu Ihrem Schutz. Es gibt allenfalls ein verlegen genuscheltes Wort des Bedauerns, das ist es.
Sie bitten darum, dass man Ihnen die Chance einräumt, sich zu verteidigen. Aber das wird Ihnen verwehrt. Genauere Angaben, was Ihnen vorgeworfen wird? Das sei leider aus Rücksicht auf die Opfer nicht möglich. Sie ziehen einen Anwalt bei und strengen eine Strafanzeige wegen Verleumdung an. Aber es nützt nichts. Am Ende nimmt man ihnen auch noch das Direktmandat.
Eigentlich ist längst entschieden, dass Sie wieder für Ihren Wahlkreis antreten werden. Aber Ihre Gegner setzen eine Wiederholung der Abstimmung an. Die Gegenkandidatin erklärt, sie wolle, dass die Partei auch für Frauen sicher sei. Es klingt, als seien Sie ein gefährlicher Triebtäter, den man unschädlich machen müsse. Sie haben keine Chance.
Ein Mensch, ein Wort? Der Mann, der seinen Ruf und sein Amt verlor, heißt Stefan Gelbhaar. Seit ein paar Tagen kennt ihn die halbe Republik. Denn das alles war erfunden: die Geschichten über den erzwungenen Beischlaf, die aufgedrängten Küsse, der Griff an den Busen. Die wichtigste Belastungszeugin hat es nie gegeben, sie ist die Erfindung einer Parteikollegin. Die Frau, die sich das alles ausgedacht hat: eine Bezirkspolitikerin vom linken Flügel der Partei, gut vernetzt, wie es heißt.
Gibt es einen vergleichbaren Fall in der deutschen Parteiengeschichte? Ich kann mich an keinen erinnern. Dass man in der Politik mit Gerüchten und Unterstellungen arbeitet, um Konkurrenten zu Fall zu bringen, das hat es immer wieder gegeben. Aber eine Verleumdung, die eine Karriere zerstört, ohne dass jemand aus der Parteispitze auch nur eine Nachfrage stellt: Das ist einmalig. Auch einmalig beängstigend.
Viel war in den vergangenen Tagen von den eidesstattlichen Erklärungen die Rede, die vorgelegen hätten, so wollte man den Vorwürfen Glaubwürdigkeit verleihen. „Wer eine falsche stattliche Erklärung abgibt, macht sich strafbar“, hieß es in der ersten Stellungnahme der grünen Parteispitze – so steht es auch auf der Webseite des RBB, der die Anschuldigungen in Umlauf brachte.
Auch das gehört zum Mummenschanz, mit dem Gelbhaar zur Strecke gebracht wurde. Bei Journalisten abgegebene Versicherungen an Eides statt kennt das Strafrecht nicht, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Wie eine Nachfrage des „Tagesspiegel“ ans Licht brachte, hat der RBB sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Identitäten der angeblichen Zeugen zu prüfen. Eine eidesstattliche Versicherung ohne Geburtsdatum und ladefähige Adresse: Das gibt es nur in der Berliner Welt.
Muss man noch erwähnen, dass die personellen Verflechtungen der Redaktion mit der grünen Partei außergewöhnlich eng sind? Man kennt sich, man schätzt sich. Der heutige Wahlkampfmanager der Grünen, Andreas Audretsch, der den Machtkampf gegen Gelbhaar für sich entschied: ein ehemaliger RBB-Redakteur. Der Ehemann der Berliner Spitzenkandidatin für die Bürgermeisterwahl Bettina Jarasch: war unter anderem Leiter der Abteilung „Aktuelle Magazine“.
Es ist nicht ganz klar, was der Ombudsstelle der Grünen vorlag, als sie den Stab über Gelbhaar brach. Waren es die Vorhaltungen, die dann auch beim RBB landeten und die, wie man jetzt weiß, größtenteils auf falschen Vorwürfen beruhten? Lagen ihr weitere Aussagen vor? Und wenn ja, waren diese ebenfalls anonym oder hat sich jemand im Bundesvorstand mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen? Dem Beschuldigten gegenüber wurde die Partei nie konkret, über Andeutungen ging es nie hinaus.
Dem „Business Insider“ gegenüber hat Gelbhaar geschildert, wie ihm die Situation zugesetzt hat. Wie er nächtelang wach lag und darüber grübelte, was vorgefallen sein könnte. Wie er sich mit Beruhigungsmitteln runterzubringen versuchte. „Das Ganze zieht enorm Kraft, es macht einen fertig. Man weiß, da ist nichts dran, aber man sucht trotzdem nach einer Erklärung. Wo kann was so krass missverstanden worden sein, das ist ein zielloses Selbstgespräch. Es zermürbt einen.“
Und nun? Nun will es keiner gewesen sein. Die Schuld trägt aus Sicht der Partei allein der RBB und die bis eben noch für ihre „intersektionale, feministische Perspektive“ geschätzte Bezirkspolitikerin, die den Stein ins Rollen brachte.
Der grüne Kanzlerkandidat zog es zunächst vor, sich gar nicht zu äußern. Wäre man Spötter, würde man sagen, er brauchte halt Zeit, seine Gedanken zu sortieren, um zu überprüfen, wer er ist und was wir sein können. Die Außenministerin erklärte, als Außenministerin könne sie zu dem Fall gar nichts sagen, es gebe gerade andere Herausforderungen weltweit.
Das Tor zur Hölle hat sich nicht durch Zufall geöffnet. Der Verzicht auf die Unschuldsvermutung ist bei den Grünen kein Versehen, es ist für sie Ausdruck von Fortschrittlichkeit. Die Parteispitze hat sich ausdrücklich von dem Prinzip verabschiedet, Anschuldigungen zu überprüfen, bevor man aus ihnen Konsequenzen zieht. „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, erklärt die Ombudsstelle, bei der alle Verfahren landen, ihr Selbstverständnis.
Und daran soll sich auch nichts ändern. Eine feministische Partei könne sich keine Unschuldsvermutung leisten, erklärte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, in Verteidigung der Parteilinie. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber die Grünen seien kein Gericht, sondern eine politische Organisation. Widerspruch vom grünen Kanzlerkandidaten? Keiner, jedenfalls keiner, den man vernehmen konnte. Lassen Sie es uns vielleicht so sagen: Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen – von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie besser fern halten.
© Sören Kunz