Schlagwort: Der schwarze Kanal

Die Verachtung des Spießers

Durch Deutschland geht ein Riss: Hier das progressive Deutschland, in dem man zur Not sogar auf Papa und Mama verzichtet. Dort das „Arschloch-Deutschland“, in dem man nicht einsehen will, was an traditionellen Werten falsch ist. Wer wohl gewinnt?

 Wie sah das Dritte Reich 1940 aus? Unter anderem so: weiblich, sportlich, ordentlich gekleidet im Blau der Polizei. Und selbstverständlich hat man sich vor allem Sorgen gemacht, ob die Menschen noch so reden können, wie sie denken. Denn das weiß ja jedes Kind: Das größte Thema der Nazis war der Kampf gegen das Gendern.

Okay, ich habe mir zugegebenermaßen eine der dämlichsten Reaktionen zum Auftritt der Olympiasiegerin Claudia Pechstein auf dem Konvent der CDU herausgesucht. Diese stammt von Aurel Mertz, einem der komödiantischen Nachwuchstalente des ZDF: „Mir gerade angeschaut, wie eine Polizeibeamtin unter tosendem Applaus der CDU-Führung ein Deutschland-1940-Mindset schlecht abliest. Die CDU labert sich so hart Richtung AfD unter Merz.“ Geschichte ist erkennbar nicht die Stärke des jungen Mannes, aber für eine Karriere beim Jugendprogramm Funk reicht es trotzdem.

Was hat Claudia Pechstein gesagt? Dass sie sich wünschte, die CDU würde sich weiter für die traditionelle Familie einsetzen. Dass Kinder sich wünschen, dass sie Mama und Papa haben, und dass es Wichtigeres gebe, als den Genderstern korrekt auszusprechen oder das Zigeunerschnitzel zu verbieten.

Wohlgemerkt: Claudia Pechstein war bei der CDU zu Gast, nicht bei den Grünen. Sie hat also vor Leuten gesprochen, die gefragt nach ihrer Vorstellung vom Glück nicht sagen: „Ja, Patchwork, das ist genau das, wovon ich träume.“ Aber das ist natürlich keine Entschuldigung!

Außerdem hat Frau Pechstein, die heute bei der Bundespolizei ihren Dienst tut, Uniform getragen. Schlimmer Verstoß gegen die Neutralitätspflicht von Beamten! Komischerweise gilt die Neutralitätspflicht nie beim Hissen von Regenbogenflaggen oder anderen Bekundungen einer progressiven Gesinnung. Im SPD-Land Rheinland-Pfalz machen sie sogar in Uniform Wahlkampf für die Ministerpräsidentin.

Wäre ich Spötter, würde ich hinzufügen: Immer noch besser, im Blau der Polizei aufzutreten, als zu leicht bekleidet. Erinnert sich noch jemand, wie Heiner Geißler auf dem Parteitag 1979 Revuetänzerinnen auf die Bühne schickte? Das kann bei Friedrich Merz nicht passieren.

Manchmal denke ich, es läuft ein großes Experiment, wie man die Leute so aufbringt, dass sie die Partei mit dem größten Empörungsfaktor wählen, um es mal allen zu zeigen. Nach Lage der Dinge ist das die AfD. Wenn man dem hellen Deutschland einen Schlag versetzen will, sagt man bei Umfragen einfach, dass man sich gut vorstellen könne, für die hellblaue Truppe zu stimmen.

Ich bin politisch gefestigt. Eher würde ich mir den Arm abhacken lassen, als mein Kreuz bei der AfD zu machen. Wer einen Mann wie den Joseph-Goebbels-Spätimitator Björn Höcke wählt, ist aus meiner Sicht politisch nicht ganz zurechnungsfähig. Aber gar nicht so wenigen Leuten ist es egal, ob einer jeden Abend im Keller noch einmal die Panzerschlacht von Kursk gewinnt – Haupt-sache, er steht für Provokation. Wenn man den Wählern außerdem den ganzen Tag sagt, dass das, was sie bisher für normal hielten, in Wahrheit rechtes Gedankengut sei, dann sagen sie sich irgendwann: Dann bin ich eben ein Rechter, dann kann ich die auch wählen. Da gilt der Nietzsche-Satz: „Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“

Haben die Leute, die Claudia Pechstein für eine Rassistin halten, eine Vorstellung, wie es im normalen Deutschland aussieht, also in dem Teil, der nicht auf gewachster Altbaudiele in durchgrünter Innenstadtlage mit Lastenfahrrad vor der Tür lebt? Ich war über Pfingsten auf Mallorca. Am Strand kommt man nicht umhin, sich Gedanken über Normalität zu machen, das fängt beim Körperschmuck an und hört bei Ernährungsgewohnheiten nicht auf.

Die CDU überlegt, wie sie den Anschluss an dieses Durchschnittsdeutschland behalten kann. Auch deshalb war die fünfmalige Olympiasiegerin eingeladen. Im Adenauer-Haus hat man noch eine Ahnung davon, dass jemand wie Pechstein tausendmal mehr das normale Deutschland verkörpert als jeder grüne Bundestagsabgeordnete. Die SPD hat den Versuch aufgegeben, den Kontakt zu halten, deshalb liegen die Sozialdemokraten auch nur noch bei 18 Prozent. Bei den Grünen ist man seit jeher stolz darauf, nichts mit der Spießerwelt zu tun zu haben. So sagt man es nicht, aber so denkt man.

Spießerverachtung hat in Deutschland Tradition. Für jede gesellschaftliche Gruppe finden sich Fürsprecher, selbst der Faulenzer kann noch mit einer Verteidigung rechnen. Nur auf den Kleinbürger sehen sie sowohl von unten als auch von oben herab.

Es ließe sich viel Gutes über den Spießer sagen, seine Arbeitsethik, die Umsicht und Gewissenhaftigkeit, mit der er für ein sozial stabiles Umfeld sorgt. Nur Spießer gehen regelmäßig zum Blutspenden, sammeln Altkleider und sind bei der freiwilligen Feuerwehr. Was wäre der deutsche Sozialstaat ohne die spießige Steuerehrlichkeit? Oder Greenpeace ohne sein Herz für Delfine und Wale?

Es nützt nichts: Seine Beharrlichkeit wird ihm als Pedanterie ausgelegt, seine Sparsamkeit als Geiz. Zur Abwertung des Milieus kommt die seiner Gedankenwelt. Sein Alltag wird durchgängig als banal und sinnentleert beschrieben, das Gefühlsleben als schal und abgestanden, seine politischen Überzeugungen als gefährlich.

Friedrich Merz hat sich in seiner Rede bei dem CDU-Konvent mehrfach auf Helmut Kohl bezogen. Er wird wissen, warum er das tat. Denn auch das ist wahr: Normalität kommt von Mehrheit.

Kein Politiker wurde so verspottet wie Kohl. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Mann ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Über alles wurde sich lustig gemacht: die Liebe für einfache Hausmannskost, die dialektale Färbung der Sprache, in der noch Worte wie Heimat, Volk und Vaterland vorkamen, die Betonung des familiären Lebens, die in aufreizendem Gegensatz zur persönlichen Lebensgestaltung stand.

Was all die neunmalklugen Journalisten allerdings übersahen, war, dass sich ganz viele Leute im Spott über den Mann aus der Pfalz mitverspottet fühlten. Und so begab es sich, dass Kohl einfach weiter neben seinem Aquarium und der Münzsammlung im Bonner Kanzleramt saß und sich durch die Welt telefonierte, bis niemand im Land sich mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.

Tatsächlich war Kohl ein sehr gebildeter Mann. In der Bundestagsbibliothek stand er auf der Ausleihliste ganz oben, es gab kaum eine Buchmesse, die er ausließ. Seine Berater haben ihn angefleht, doch auch diese Seite zu zeigen, um das Feuilleton milde zu stimmen.

Aber erst sah Kohl keinen Vorteil, sich den fortschrittlichen Kreisen zu empfehlen, dann wollte er nicht mehr. Also wurde auf Parteitagen weiter die Hammondorgel angeschmissen und zur Demonstration eine Extraportion Saumagen verzehrt, obwohl der Kanzler in Wahrheit Pasta bevorzugte. Er wusste genau, dass das, was seine Verächter zur Raserei trieb, die Anhänger an ihn band.

Das wahre Vergehen von Claudia Pechstein ist, dass sie so schrecklich durchschnittlich ist. „Claudia Pechstein ist Deutschland pur“, merkte der Dramatiker Juri Sternburg in der „taz“ nach Durchsicht ihres Instagram-Kanals an und listete dann penibel die Verfehlungen auf: Videos von Helene-Fischer-Konzerten, Fotos von Radausflügen, Werbung für ein Nackenkissen. „Nichts unterscheidet sie vom Grillfest in sächsischen Schrebergärten, von der Strandbar auf Sylt oder einem Volkswagen 6-Zylinder VR6. Deutschland, einig Arschloch-Land.“

Besser kann man es nicht sagen. Wie dumm nur, dass es mehr Helene-Fischer-Fans als Sternburg-Fans gibt.

© Sören Kunz

Im Spiegelkabinett

Das Wort der Stunde lautet „Machtgefälle“. Ob Herkunft, Bildung oder Persönlichkeit: Wo immer ein Unterschied besteht, droht angeblich Missbrauch. Der Fall Rammstein dient auch dazu, ein MeToo-Strafrecht jenseits der Norm zu etablieren

 Die „Spiegel“-Redakteurin Ariane Fries hat geschrieben, dass es durchaus denkbar sei, dass sie Till Lindemann ebenfalls zum Opfer gefallen wäre. So lautete die Überschrift eines Textes, den der „Spiegel“ am Wochenende veröffentlichte: „Auch ich hätte eines von Lindemanns Mädchen werden können.“

Soweit man das beurteilen kann, gibt es nichts, was Fries mit der Band verbindet. Wie viele junge Frauen in ihrem Metier fühlt sie sich stark dem Feminismus verpflichtet. Sie hat Politikwissenschaften in Bonn studiert und dann Digitalen Journalismus an der Hamburg Media School. Alles weist darauf hin, dass sie ihr Leben in einem Milieu verbracht hat, dem Rammstein immer schon suspekt war. Im Zweifel hat sie zum ersten Mal im Zuge der Recherchen von der Existenz einer Row Zero gehört und was diese bedeutet.

Wie kommt eine eindeutig links eingestellte Social-Media-Redakteurin, deren Welt von der Rammstein-Welt so weit entfernt ist wie der Mars von der Venus, dazu, zu sagen, sie hätte es ebenfalls Backstage erwischen können?

Weil es um Generalisierung geht, darum. In jedem Kerl steckt ein Till Lindemann mit der Peniskanone, das ist die Botschaft. Und jede Frau ist in Gefahr, in eine Situation zu geraten, in der sie hätte Nein sagen wollen, es aber nicht konnte.

Es ist wie mit dem Rassismus: Wo das ganze System auf Unterdrückung und Ausbeutung ausgelegt ist, kann sich niemand selbst freisprechen. So wie der aktuellen Theorie zufolge jeder Weiße Rassist ist, ob er will oder nicht, ist auch jeder Mann Täter. Das macht die Rammstein-Geschichte so groß. Ginge es nur um eine ostdeutsche Rockband, so berühmt sie sein mag, gäbe es keinen Rammstein News-Ticker bei FOCUS Online und keine Dauerberichterstattung in Ihrer Tageszeitung.

Das Wort der Stunde lautet „Machtgefälle“. Wie vieles, was heute unsere politische Kultur bestimmt, stammt es aus den USA. „Power Imbalance“ heißt der Begriff dort, und er hat im Zuge der MeToo-Debatte eine beachtliche Karriere hingelegt, weil er sehr unterschiedliche Tatbestände zusammenfasst und damit einen neuen Raum des Strafbaren jenseits des Justiziablen eröffnet.

Wo das Machtgefälle beginnt? Im Prinzip überall dort, wo Ungleichheit herrscht. Das kann der Bildungsgrad sein. Oder die soziale Herkunft. Oder die persönliche Ausstrahlung. Der eine wirkt charmant und eloquent und tut sich leicht mit Menschen, der andere ist eine verschlossene Auster, dessen Wert erst auf den zweiten Blick erkannt wird.

So schreibt es auch die Spiegel-Redakteurin Ariane Fries: „Egal, ob durch beruflichen Status, Geld, Charisma, Intelligenz oder physische Stärke: Wer einer anderen Person überlegen ist, muss sich dessen bewusst sein und hat die Pflicht, seine Position nicht auszunutzen.“ Und noch einmal, damit es auch jeder versteht: „Wer Macht hat, hat die Pflicht, diese Macht nicht zu missbrauchen. Ganz einfach.“

Die Autorin geht nicht so weit, jede ungleiche Beziehung als missbräuchlich zu bezeichnen. Aber jede Beziehung, in der ein Machtgefälle besteht, ist missbrauchsgefährdet. Weshalb man, so die Logik, am besten ein Machtgefälle vermeidet. Wenn also der Feuilletonredakteur zur Social-Media-Redakteurin sagt, dass er sie leider nicht daten könne, weil er fürchte, dass bei ihm eine schreiberische Überlegenheit bestehe, handelt er nicht arrogant, wie man denken könnte, sondern im Gegenteil verantwortungsbewusst.

Die Missbrauchsdebatte ist ein Spiegelkabinett, in dem man sich leicht verirrt. Schon bei MeToo war nie ganz klar, was genau einen MeToo-Fall konstituiert. Ist es eine Anmache, eine unerwünschte Berührung, oder bereits ein zu langer Blick, der als unangemessen empfunden wird? Einige Beobachter haben angemerkt, dass ein Problem entsteht, wenn man alles in einen Topf wirft: die versuchte Vergewaltigung und den blöden Spruch. Aber genau das Diffuse verschaffte der Bewegung ihre Breitenwirkung. Wo sich jede als Opfer fühlen kann, ist auch jede betroffen.

Damit geht ein radikaler Perspektivwechsel einher. Der moderne Rechtsstaat fußt auf der Annahme, dass sich in einem mühsamen Prozess der Wahrheitsfindung etablieren lasse, was tatsächlich vorgefallen ist. Deshalb die sorgfältige Kodierung der Verfahrensschritte und Straftatbestände. Da ist das MeToo-Strafrecht deutlich weiter: Wo immer sich eine Frau unwohl fühlt, weil der Mächtigere seiner Verantwortung nicht gerecht geworden ist, liegt im Zweifel ein Missbrauch vor.

Die Rammstein-Mitglieder haben in einer Mitteilung darauf hingewiesen, dass die Sachlage ungeklärt ist und sie ein Recht darauf hätten, nicht vorverurteilt zu werden. Das ist formal richtig, aber im Grunde nebensächlich. Die Tatsachenerhebung ist wie die Unschuldsvermutung ein Relikt aus einer Zeit, als man noch dem Rechtsstaat vertraute. Wenn allein das Gefühl zählt, braucht es keine Tatsachenerhebung mehr. Wenn eine Frau sagt, sie habe sich aber missbraucht gefühlt, ist der Fall abgeschlossen. Nichts anderes meint der Satz: Believe the Women, glaube den Frauen.

So sind die meisten Artikel auch als Anklageschrift formuliert. Die Vorwürfe sind notdürftig mit Fragezeichen versehen, weil das Presserecht der aktuellen Entwicklung hinterherhinkt. Aber es besteht kein Zweifel, wem man glaubt. Wenn von „mutmaßlichem Machtmissbrauch“ die Rede ist, dient die Einschränkung „mutmaßlich“ nur noch als Hinweis, dass man sich in einer Welt bewegt, in der die Gesetze von Männern gemacht wurden.

Es ist nicht so, dass Frauen nicht lügen können, das weiß auch die Bewegung. Die Missbrauchsklage der TV-Persönlichkeit Gina-Lisa Lohfink endete mit einer Verurteilung wegen falscher Verdächtigung. Der „Spiegel“ ist wegen seiner Berichterstattung im Fall Luke Mockridge schon zweimal vor Gericht unterlegen. Auch bei Julian Reichelt gibt es starke Zweifel, ob sich die Dinge so zugetragen haben, wie berichtet wurde. Die Angaben der Hauptbelastungszeugin haben sich in weiten Teilen als unplausibel erwiesen.

Aber das ändert nichts an der Sachlage. Wenn Frauen in Missbrauchsverfahren lügen, dann, weil sie sich keinen anderen Rat wissen, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Die Meinungschefin des „Spiegel“, Anna Clauß, hat das neue Rechtsverständnis sehr schön auf den Punkt gebracht. „Selbst wenn Opfer missbräuchlich Tränen und Lügen benutzen, um aus dem strafrechtlich bedeutungslosen Machtmissbrauch einen juristisch besser verfolgbaren sexuellen Missbrauch zu konstruieren, entschuldigt das den Boss nicht.“

Das größte Problem der Bewegung sind nicht starrköpfige Juristen oder uneinsichtige Kolumnisten wie ich. Das größte Problem ist die Trägheit der Masse. Aus der Annahme, dass jede Frau betroffen sei, wird geschlossen, dass sich auch jede Frau betroffen fühlen müsse. Dem ist aber nicht so.

Es war schon immer ein Missverständnis, das voyeuristische Interesse mit dem politischen Interesse zu verwechseln. Als eine Reihe feministischer Gruppen auf dem Höhepunkt der MeToo-Debatte zu einer Großdemo in Berlin aufrief, kamen nicht einmal tausend Menschen.

So ist es jetzt wieder. 240000 Tickets hat Rammstein für vier Konzerte in München verkauft. Die Zahl der rückgegebenen Karten: ein paar Hundert. Und es sind beileibe nicht nur radauhungrige Männer, die ihrer Band die Treue halten. Ein Kollege erzählte mir, dass seine Schwester, Zahnarzthelferin aus Augsburg, samt 18-jähriger Tochter ein Konzert in München besucht habe. Als er sie auf die Vorwürfe gegen Lindemann ansprach, erhielt er zur Antwort, dass ja nichts bewiesen sei.

Auch die Zahnarzthelferin weiß, was Machtgefälle bedeutet. Sie weiß instinktiv, dass ihre Lebenswirklichkeit nichts, aber rein gar nichts gemein hat mit der Redakteurin aus dem Hauptstadtbüro, die ein Rammstein-Auftrittsverbot verlangt. Viele in der arbeitenden Mitte der Gesellschaft haben außerdem eine Ahnung, dass eine Welt, in der es auf die richtigen Kontakte ankommt, um Gehör zu finden, keinen Deut gerechter ist.

Der Rechtsstaat mag langsam sein, aber er steht jedem offen. Er verlangt keinen Instagram-Account und keinen Tik-Tok-Kanal, auf dem man seine Erlebnisse so schildert, dass sie zum Fall werden. Das ist einer seiner Vorteile.

© Silke Werzinger

„Ihr spinnt ja wohl völlig?“

Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Was Sie tun und sagen, ist ohnehin falsch und kann gegen Sie ausgelegt werden

Wie nennt man einen Deutschen, dessen Familie seit Urzeiten in Deutschland lebt? Eingeborener, Kartoffel, Biodeutscher? Die „Zeit“ hat sich für „Urdeutscher“ entschieden. Riesenfehler!

Lange hat es nicht mehr so bei den Kollegen in Hamburg reingeregnet. Was sie sich nicht alles anhören mussten: Sie seien von allen guten Geistern verlassen. Sie würden rechte Strömungen befeuern. Typischer Entsetzensschrei: „Ihr spinnt ja wohl völlig!“

Was die „Zeit“ geschrieben hatte? Diese drei Zeilen auf Twitter: „Integration war gestern: Deutschland ist das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt und die Urdeutschen dürften auf absehbare Zeit zu einer numerischen Minderheit unter vielen werden. Und nun?“

Okay, es war nicht nur das Wort „Urdeutsche“. Es war auch die Bebilderung des Tweets: drei junge, bärtige Männer im BMW-Cabrio, erkennbar nichtdeutschen Ursprungs, der Mann am Steuer mit Handy in der Hand. Wobei: Was heißt schon „erkennbar nichtdeutschen Ursprungs“? Da beginnt das Problem. Irgendwie sind wir ja alle Zuwanderer. Kaum jemand wird seine Ahnenreihe auf Arminius zurückführen können. Und kamen nicht sogar die Vorfahren von Arminius aus Afrika? Eben.

So schallte es jetzt auch den Redakteuren in Hamburg entgegen. Und überhaupt: Die Übernahme der deutschen Gesellschaft durch junge Migranten, das sei doch exakt der Plot jeder rechten Verschwörungstheorie.

Krisensitzung beim Social-Media-Team der „Zeit“. Dann Korrektur: Statt der drei jungen Männer nun das Foto von zwei ukrainischen Frauen. Sieht doch gleich viel freundlicher aus, haben sie sich vermutlich in Hamburg gedacht. Nix da, das Netz kann erbarmungslos sein: „Was zur Hölle, ‚Zeit‘?“, lautete die Reaktion.

Also neuer Versuch. Dieses Mal ein anderer Text. „Früher vertraute Heimat – dann kamen die Anderen. Die Homogenität der 1950er ist bis heute Fixpunkt vieler Einwanderungsdebatten. Dabei gehört Migration seit Jahrhunderten zu Deutschland.“ Welche Homogenität die Redakteure denn meinten, wurde daraufhin gefragt: „Millionen ermordeter Juden, Millionen Displaced Persons, Millionen Vertriebene. An welche ‚vertraute Heimat‘ denken Sie?“

Dritter Anlauf, Kniefall. „Die Wortwahl war missverständlich. Der Text handelt davon, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland statistisch bald nicht mehr in der Minderheit sein könnten.“ Also habe man sich entschieden, den Tweet zu löschen. Kommentar der aufgebrachten Mitleser dieses Mal: „Es wird nicht besser. Jeder hier in Deutschland hat eine ‚Einwanderungsgeschichte‘. Bei den einen liegt sie zwei, bei den anderen zweihundert Jahre zurück.“

Wir sind beim Thema Migration auf der Stufe des „Mindfuck“ angelangt. Wenn schon eine Redaktion, in der nur Leute arbeiten, die garantiert die besten Ansichten und Absichten haben, in Teufelsküche kommt, weil sie sich nicht korrekt genug ausdrückt, wie sollen sich dann erst Leute zurechtfinden, die nicht den lieben langen Tag darüber nachdenken können, wie sich das Verhältnis von Urdeutschen, sorry, von Kartoffeln zu Nichtkartoffeln am besten beschreiben lässt?

„Kartoffel“ geht übrigens, falls Sie jetzt stutzen, das ist von höchster Stelle geklärt. Als die Beauftragte der Bundesregierung für Antidiskriminierung Ferda Ataman noch Kolumnistin beim „Spiegel“ war, hat sie einen Text geschrieben, warum das Wort in Ordnung sei. Auch das gehört zu den überraschenden Wendungen der Debatte.

Manchmal habe ich den Verdacht, es geht bei allem darum, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Migrationsexperten am Laufen zu halten. Ich habe neulich mit einem Kollegen darüber gesprochen, womit all diese Nervensägen ihr Geld verdienen, die offenbar nichts anderes zu tun haben, als andere bei einem Fehltritt zu erwischen. Täusch dich nicht, sagte er, der Bedarf an Beratern, die einem sagen können, wie man durch die Untiefen der neuen Willkommenskultur kommt, ist riesig. Ich würde mir keine Vorstellungen machen, wie groß der Markt für sogenannte Diversity-Trainings sei.

So gesehen trifft es sich gut, dass alles, was man eben gelernt hat, morgen schon obsolet sein kann. Das ist wie mit dem eingebauten Verfallsdatum bei Glühbirnen: Nach dem Diversitätskurs ist vor dem Diversitätskurs.

Waren wir uns nicht zum Beispiel einig, dass man Menschen nicht mehr fragt, wo sie herkommen? Ich erinnere mich, wie sich über Elke Heidenreich ein Empörungssturm entlud, weil sie in einer Talkshow erzählt hatte, dass sie selbstverständlich Taxifahrer, die so aussähen, als kämen die Eltern nicht aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, danach fragen würde, wo sie herkämen. Tagelang tobte das Twitter-Gewitter.

Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman hat selbst ein Buch dazu geschrieben, wie leid sie es sei, immer wieder auf ihre Herkunft angesprochen zu werden. „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!“, heißt es. Und nun? Nun empfiehlt dieselbe Frau Unternehmenschefs, eine „Bestandsaufnahme“ bei den Angestellten zu machen, wo wer herkomme.„Häufig wird Diversität noch mit Frauenförderung gleichgesetzt“, erläuterte sie ihren Vorschlag im „Handelsblatt“. „Vielfalt heißt aber auch, Menschen mit unterschiedlicher sexueller Identität, Religion oder Herkunft in den Blick zu nehmen.“

Der kleine Text in der „Zeit“ hat auch deshalb so viel Empörung ausgelöst, weil er auf eine Wirklichkeit hinwies, die normalerweise ausgeblendet wird. Wenn die Grünen an Einwanderung denken, dann denken sie an die junge Frau mit Migrationshintergrund, die eine Kolumne in der „taz“ unterhält und bei der Böll-Stiftung beredt über den latenten Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft referiert.

„Deutschland wird sich ändern, und zwar drastisch, und ich freue mich darauf“, lautet ein berühmter Satz von Katrin Göring-Eckardt. Ich frage mich inzwischen, für wen die Veränderung wohl drastischer ausfällt: für die deutsche Mehrheitsgesellschaft oder für die Grünen. Ob Katrin Göring-Eckardt schon mal einen Fuß nach Neukölln gesetzt hat? Oder an den Ku’damm, wo sich die Jugend trifft, für die das Auto nicht Untergangssymbol, sondern Freiheitsversprechen ist?

Peter Richter hat in der „Süddeutschen“ gerade eine Meditation über die jungen Männer mit Vollbart angestellt, deren Maskulinität mit der muskulösen Silhouette ihrer Sportwagen korrespondiert. „Immer lautet die Regel nach dem Einparken: erst mal zehn, zwanzig Meter mit breiten Beinen weggehen, dann umdrehen, mit hoch erhobenem Schlüssel, klick, unter Auforgeln aller Lampen den AMG per Funk abschließen, anschließend noch ein wenig mit seligen Blicken über Kotflügel und Diamond-Grill streicheln.“

Auch Bräuche wie das Wagenrennen oder das lustvolle Drehen hochtouriger Boliden auf der Autobahn zum Auftakt einer Hochzeitsfeier sind kaum mit den strengen CO₂-Vorgaben der „Letzten Generation“ vereinbar. Richter schließt seine Betrachtung mit der zutreffenden Beobachtung ab, dass die Autoenthusiasten vom Ku’damm um einiges diverser aufgestellt sein dürften als die recht homogen rötlich blonden Vertreter der Klimaszene.

Ich bin viel in arabischen Ländern unterwegs gewesen, ich mag die Menschen dort. Man findet noch einen Familienzusammenhalt, eine Höflichkeit gegenüber Fremden und einen Respekt vor dem Alter, die bei uns weitgehend verloren gegangen zu sein scheinen. Ich habe auch kein Problem mit offensiv zur Schau gestellter Männlichkeit. Ich fürchte nur, dass in Deutschland nicht alle auf diese eher traditionelle Welt vorbereitet sind.

Mein Rat: Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Die meisten Menschen, die nicht im Diversity-Geschäft sind, finden nichts dabei und geben gerne Auskunft.

Fleischhauer Kolumne Heft 24 2023

© Michael Szyszka

Klassenkampf gegen die da unten: Die Elite-Kinder der „Letzten Generation“

Früher wurde die Arbeiterklasse noch als revolutionäres Subjekt bewundert. Heute steht sie dank der Klimabewegung für alles, was man zu verachten gelernt hat: billiges Essen, billige Witze und billigen Sprit

 Oliver Pocher war neulich bei „Stern TV“. Es ging um Klimaschutz. Die „Stern TV“-Redaktion hatte Bilder vorbereitet, auf denen der Entertainer entweder aus einem teuren Auto ausstieg oder lässig an einem lehnte. Es entspann sich eine Diskussion, ob Pocher ein besonders inniges Verhältnis zu Autos pflege (was er bestritt) und ob solche Fotos auch bei Grünen möglich wären (wie er behauptete).

Es war ein Auftritt, weshalb man Talkshows schaut: ein wenig irre, aber auch irre lustig – bis sich Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“, die zwei Stühle weiter saß, in die Diskussion einschaltete und mit bebender Stimme sagte: „Ich kann nicht glauben, dass wir in diesen Shows sitzen und 2023 diese Debatten führen. Ich kann es nicht mehr aushalten.“

Normalerweise ist an diesem Punkt die Diskussion vorbei. Wenn ein Klimaaktivist an das Weltende erinnert, herrscht spontan Betroffenheit. Nicht so bei „Stern TV“. Was antwortete Pocher? „Dann musst du gehen.“ Ich bin in dem Moment aus dem Stand zum Pocher-Fan geworden. Ich weiß, dieses Bekenntnis wird mein Ansehen in bestimmten Kreisen noch weiter ruinieren (sofern das überhaupt möglich ist). Aber ich bin an dieser Stelle nun einmal zur Wahrheit verpflichtet.

Von Frau Hinrichs war dann erst mal nichts mehr zu vernehmen. Wer Indigniertheit zu seinem Markenzeichen gemacht hat, dem bleibt nur indigniertes Schweigen, wenn ihm pochermäßig in die Parade gefahren wird. Darauf ist man bei der „Letzten Generation“ nicht eingestellt. Schmerzgriffe der Polizei, Beschimpfungen von Autofahrern, Wutattacken – auf all das werden die Mitglieder in Seminaren vorbereitet. Aber nicht auf Pocher bei „Stern TV“. „Dann musst du gehen“ – ein solcher Satz liegt außerhalb der Vorstellungskraft einer Klimaretterin.

Es ist aus der Mode gekommen, die Welt als Welt von Klassengegensätzen zu sehen. Nicht einmal in der SPD ist davon noch die Rede. Lieber spricht man über die Gendergerechtigkeit, der es zum Sieg zu verhelfen gelte, den Kampf gegen den Rassismus und Kolonialismus in unseren Köpfen, den Weg zum Klimafrieden. Auch deshalb ist der Disput zwischen Pocher, dem Trash-Comedian, der nie über den Realschulabschluss hinausfand, und der höheren Tochter aus Bremen, die für die Sache ihr Jurastudium (Berufsziel: Richterin) unterbrach, so aufschlussreich.

Der Klassenkampf ist zurück. Wenn sich die „Letzte Generation“ auf die A 100 setzt, um die Verkehrswende zu erzwingen, treffen zwei Welten aufeinander, die normalerweise streng getrennt sind. Hier die Bürgerkinder, für die das Auto alles verkörpert, was in dieser Gesellschaft falsch läuft – dort das Proletariat, das den in die Jahre gekommenen Volkswagen sofort gegen einen ordentlich motorisierten BMW eintauschen würde, wenn es denn könnte.

Man sieht es schon an den Namen. Eine Mandy oder Charlene sucht man unter den Aktivisten vergeblich. Dafür ist der Raphael dabei und die Aimée und ganz viele Carlas natürlich. Die wenigen Arbeiterkinder, die man im Zweifel bei den Blockaden trifft, finden sich in den Reihen der Polizisten, die mit der Aufgabe betraut sind, die Straße wieder frei zu bekommen, auf die sich Raphael, Aimée und Carla geklebt haben.

Vor zwei Monaten war der große Ver.di-Streik in München. Also „Letzte Generation“ plus öffentlicher Dienst im gemeinsamen Bemühen um die Lahmlegung der Stadt. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt und war extra eine Stunde früher aufgestanden, um das Kind in die Schule zu fahren. Und dann? Die Straßen waren weitgehend leer, nur an den Bushaltestellen standen mehr Menschen als üblich.

Wer konnte, war einfach im Homeoffice geblieben. So ist es auch bei den Sitzblockaden: Gekniffen sind diejenigen, die aufs Auto angewiesen sind, weil sich ihre Arbeit nicht remote erledigen lässt. Also Verkäufer, Handwerker, Servicepersonal, die moderne „Working Class“ eben, die das alte Proletariat ersetzt hat. Das erklärt zum Teil auch die Ruppigkeit der Auseinandersetzung. Eines der ersten Videos dokumentierte einen Lastwagenfahrer, der in so unmissverständlicher Form seinen Unmut über die Blockade zum Ausdruck brachte, dass die Flüche anschließend überblendet werden mussten.

Mit der Klimakrise hat sich auch der Blick auf die da unten verändert. In den siebziger Jahren stand die Arbeiterklasse den Vertretern der Intelligenz nicht näher, aber sie war wenigstens als revolutionäres Subjekt anerkannt. Heute ist sie nur noch ein Residuum verlorener Kämpfe, deren Angehörige für alles stehen, was man in den besseren Kreisen zu verachten gelernt hat: billiges Essen, billige Witze, billigen Sprit.

Der Protestantismus des Weniger funktioniert nicht ohne entsprechende Ausstattung. Um verzichten zu können, braucht es eine materielle Grundlage, die Verzicht erstrebenswert macht. Es ist nicht ganz zufällig, dass mit Luisa Neubauer und Carla Reemtsma zwei Cousinen aus der berühmten Zigarettendynastie an der Spitze der Bewegung stehen. Leute, die schon mit 19 Jahren Urlaubsbilder vom Machu Picchu verschickt haben, sehen anders auf die Welt als Menschen, für die bereits zwei Wochen Malle Luxus sind.

Ist die „Letzte Generation“ eine kriminelle oder gar terroristische Vereinigung, wie manche meinen? Sie ist jedenfalls eine ziemlich verwöhnte Generation. Mit zwei kleinen Kindern und einem schlecht bezahlten Vollzeitjob hat man schlicht keine Zeit, sich in Angst vor dem Klimatod zu verzehren. Manche Obsessionen erledigen sich dadurch, dass man ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt. Deshalb empfiehlt der Psychiater ja dem depressiven Patienten auch viel Bewegung, um die Spirale des Grübelns zu durchbrechen.

Die Wortführer der Linken haben sich immer schwergetan mit dem Volk, dem großen Lümmel. Einerseits waren sie lange von einer sentimentalen Hinwendung erfasst. Vor allem der Arbeiter stand bei ihnen im Ansehen, der ehrliche Malocher, der am Hochofen schwitzt und Eisen biegt. Anderseits waren sie immer wieder erschrocken, wenn sie ihm leibhaftig begegneten. Er ist so roh, so ungelenk, so anders, als man ihn sich vorgestellt hat.

Schon in der Französischen Revolution mussten die Revolutionsführer erkennen, dass zwischen dem Volk, wie sie es sich erdachten, und dem Volk, wie es tatsächlich als revolutionäres Subjekt auf die Bühne trat, ein gravierender Unterschied bestand. „Ich sage nicht, dass sich das Volk schuldig gemacht hat“, erklärte Maximilien de Robespierre im Februar 1793 nach Hungerunruhen und Plünderungen im Pariser Großmarktviertel. „Aber wenn das Volk schon aufsteht, sollte es dann nicht ein seiner Bemühung würdigeres Ziel haben, als es sich nur nach jämmerlichen Nahrungsmitteln gelüsten zu lassen?“

So ist es seitdem immer gewesen: Die Avantgarde macht hochherzige Pläne, die Menge will sich erst einmal den Bauch vollschlagen. Das ist hochgradig enttäuschend, keine Frage.

Auf LinkedIn äußerte sich ein Professor der Hochschule für Fernsehen und Film München dieser Tage folgendermaßen über die Vertreter der „Letzten Generation“: „Es stimmt. Die sind privilegiert. Privilegierte Familien lernen beim Abendessen, über die Gesellschaft zu reflektieren und zu debattieren. Danach wird Cello geübt. Ist das schlimm? Nein. Tiefe Erkenntnis kommt durch stundenlanges Philosophieren. Das ist tatsächlich ein Luxus, dafür Zeit zu haben. Das kann man den KlimaaktivistInnen aber nicht zum Vorwurf machen. Sie werden sich ihrer Verantwortung einfach bewusst. Ich habe größten Respekt für diesen Mut.“

Lässt sich Klassenbewusstsein von oben schöner formulieren? Dank an alle Carlas, dass sie den Luxus ihrer freien Zeit nicht für sich behalten, sondern mit der Gesellschaft teilen!

© Sören Kunz

Deutschland absurd: Wir belohnen die Faulen und schieben die Falschen ab

Deutschland brauche Einwanderung, um seine Sozialsysteme zu stabilisieren, heißt es. Das ist richtig, ohne Zuwanderer wird es nicht gehen. Aber wie kommt es dann, dass 45 Prozent der Hartz-IV-Empfänger keinen deutschen Pass besitzen?

Lassen Sie mich mit einer Zahl beginnen. Fast die Hälfte der Flüchtlinge, die 2015 zu uns kamen, lebt von Hartz IV oder wie es jetzt vornehm heißt: von Bürgergeld. Also der Zuwendung von Menschen, die arbeiten, damit andere nicht arbeiten müssen.

50 Prozent ist eine erstaunlich hohe Zahl. Es sind acht Jahre vergangen, seit sich der große Flüchtlingstreck aus Syrien in Marsch setzte und dann in Deutschland wieder zum Halten kam. Acht Jahre, in denen man Sprach- und Integrationskurse hätte belegen können oder mutmaßlich sogar belegt hat. In denen man eine Familie gründen, Kinder großziehen und Anschluss an die deutsche Gesellschaft finden konnte.

50 Prozent ist auch eine brutale Zahl. Wer nach acht Jahren noch keine Arbeit gefunden hat, bei dem besteht wenig Hoffnung, dass er sie im Jahre neun oder zehn finden wird. Sehr viel mehr spricht für die Aussicht, dass er sich, selbst wenn er im Besitz zweier gesunder Hände und eines breiten Kreuzes sein sollte, weiterhin auf die Hilfsbereitschaft anderer verlässt.

Deutschland diskutiert mal wieder über die Ausländerpolitik. Es ist dieses Mal eine stille Debatte, sie findet abseits der großen Medien statt. Wenn sich die Kommunalpolitiker mit dem Kanzler zum Flüchtlingsgipfel treffen, erreicht sie die ersten Seiten der Zeitungen. Dann wird sie wieder von anderen Themen verdrängt.

Dabei handelt es sich bei den Sozialleistungen, die der deutsche Staat gewährt, um keine Kleinigkeit. 46 Milliarden haben wir im vergangenen Jahre für die sogenannte Grundsicherung ausgegeben, das ist fast so viel wie für die Landesverteidigung. Mit der Umstellung auf das Bürgergeld kommen noch einmal fünf Milliarden hinzu, so steht es im Haushaltsentwurf. Schon der Begriff Bürgergeld ist allerdings irreführend. 45 Prozent der Bürgergeldempfänger besitzen gar keinen deutschen Pass. Man kann natürlich jeden als Bürger bezeichnen, der sich in Deutschland aufhält, aber damit bewegt man sich zumindest außerhalb des Grundgesetzes.

Was läuft da schief? Es ist ja richtig, dass wir Leute brauchen, die mit anpacken. Überall werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Das ist auch das Argument, das sofort fällt, wenn es um die Migration geht: Deutschland sei auf Einwanderung dringend angewiesen. Aber offenbar gelingt es uns nicht oder nur sehr schlecht, die Menschen, die nach Deutschland kommen, dann auch in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Am Wochenende hat Justizminister Marco Buschmann das neue Einbürgerungsgesetz, das den Erwerb eines deutschen Passes einfacher machen soll, so kommentiert: „Wir machen die Einbürgerung für Menschen leichter, die von ihrer eigenen Hände Arbeit leben. Die Regeln für Menschen, die vom Sozialstaat leben, werden verschärft.“ Das sei Nazi-Sprache, hieß es darauf. Von „Parasiten-Semantik“ sprach das linke Gewissen der „FAZ“, der Kölner Salonradikale Patrick Bahners. Jede Einwanderung in den Arbeitsmarkt sei automatisch eine Einwanderung in den Sozialstaat, da Deutschland per Grundgesetz ein sozialer Bundesstaat sei.

Man kann sich immer dumm stellen. Oder alle für dumm verkaufen, denen man eben noch erklärt hat, wie wichtig Einwanderung für die Stabilisierung der Rente sei. Wie wohl die Reaktion ausfiele, wenn der Bundeskanzler den Leuten erklären würde, dass selbstverständlich auch jeder als Zuwanderer willkommen sei, der beschlossen habe, dass ihm das Bürgergeld zum Leben reicht? In den Talkrunden, in denen ich sitze, ist davon jedenfalls nie die Rede.

Ich habe vier Jahre in den USA gelebt. In Amerika kommen jede Woche Tausende über die Grenze, daran kann kein Zaun etwas ändern. Dennoch hat die Diskussion über die Einwanderung nie die Hitzigkeit wie bei uns erreicht. Ein Grund ist, dass die USA zwar relativ lax sind, was den Schutz ihrer Grenze angeht, aber ebenso lax, was staatliche Hilfen angeht. Es gibt sie praktisch nicht. Der Mexikaner, der sich ins Land schleicht, muss sehen, wie er zurechtkommt. Da die meisten Menschen findig sind, wenn ihnen nichts anderes bleibt, als sich anzupassen, gibt es auch relativ wenig Integrationsprobleme.

Wir müssen das System von den Füßen auf den Kopf stellen. Ich wäre dafür, die Sozialleistungen für Zuwanderer radikal zu kürzen. Jeder, der sich legal in Deutschland aufhält, bekommt sofort eine Arbeitsgenehmigung. Im Gegenzug entfallen alle Subsidien, es sei denn, jemand ist zu krank oder zu alt, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das kann man harsch finden. Aber es ist deutlich weniger harsch, als Flüchtlinge aus Angst vor den Kosten in Lager zu pferchen, damit sie Deutschland nie erreichen.

Wir haben zum Teil aberwitzige Hürden errichtet, um Asylbewerber von geregelter Arbeit fernzuhalten, auch das gehört zur Wahrheit. In den Ausländerbehörden klammern sie sich an die Fiktion, dass die Flüchtlinge selbstverständlich wieder in ihre Heimat zurückkehren werden, sobald der Fluchtgrund entfallen ist. Deshalb wird alles getan, um zu verhindern, dass sie hier Wurzeln schlagen.

Eine der stärksten Wurzeln ist eine Arbeitsstelle. Von hier aus bilden sich Bekanntschaften, Freundschaften, Nachbarschaften. Irgendwann gehört man dazu. Weil wir nicht wollen, dass jemand dazugehört, solange wir nicht entschieden haben, dass er sich dazugehörig fühlen darf, sperren wir ihn lieber in einer Unterkunft ein, wo er den lieben langen Tag an die Wand starrt.

Wir sind auch erstaunlich hartherzig, wenn es darum geht, noch die absurdesten Regeln durchzusetzen, wenn wir sie durchsetzen können. Im „Spiegel“ stand neulich die Geschichte eines 14-jährigen Mädchens aus dem Jemen, das in Pinneberg eine neue Heimat gefunden hatte. Das Mädchen hatte alles richtig gemacht. Es war fleißig, wissbegierig, zielstrebig. Sie lernte schnell Deutsch. Sie wurde zur Schülervertreterin gewählt. Nach dem Abitur wollte sie Elektrotechnik studieren. Der Markt an Elektrotechnikern ist in Deutschland leer gefegt.

Dann kam sie eines Morgens nicht mehr zur Schule. Die Polizei war nachts erschienen und hatte sie und ihre Mutter mitgenommen. Da die beiden über Rumänien nach Deutschland gekommen seien, müssten sie zurück nach Rumänien, um sich dort um Asyl zu bemühen, hatte jemand in der Verwaltung nach drei Jahren befunden. „Was ist das für eine Politik? Warum drei Jahre investieren und dann wegwerfen?“, schrieb die Klassenlehrerin an die Behörde. „Das ist ein absoluter Widerspruch in allen Debatten über die Asylpolitik. All die Rufe nach Integration und Fachkräften sind nichtig, wenn wir uns diesen Fall anschauen.“

Warum es immer das Mädchen aus dem Jemen trifft und nicht den Tunichtgut aus Gambia? Es ist viel einfacher, die ordentlich integrierte Musterschülerin ins Flugzeug zu setzen als den Unruhestifter. Die Musterschülerin muss man nur an der Haustür abpassen, wenn sie vom Unterricht nach Hause kommt. Die Ausweispapiere liegen selbstverständlich griffbereit in der obersten Schublade im Flur. Sie hat auch nicht ihren Namen vergessen oder wann sie geboren wurde oder aus welchem Land sie stammt. Sie will ja hier ankommen, also hält sie sich an die Regeln. Das wird ihr dann zum Verhängnis.

Da ist der Drogenhändler aus Gambia, der im Stadtpark seinen dunklen Geschäften nachgeht, cleverer. Stammt er überhaupt aus Gambia? Das soll man ihm erst einmal nachweisen! Und wenn es gelingt, dann wird seine Botschaft schon dafür sorgen, dass er Deutschland nicht so schnell verlässt. Warum jemanden zurücknehmen, der in Deutschland doch sehr viel besser aufgehoben ist als in seiner afrikanischen Heimat?

Wir belohnen Menschen, von denen wir uns Unterstützung erwarten, fürs Nichtstun und schieben die Falschen ab. Die deutsche Ausländerpolitik ist wirklich absurd.

© Silke Werzinger

Jan Böhmermann ist Grund genug, den Rundfunkbeitrag zu verweigern

Jan Böhmermann steht für das, was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen falschläuft: maximale Einseitigkeit, laxer Umgang mit journalistischen Standards und bei Fehlern ein Höchstmaß an Arroganz. Dennoch wird er mit Preisen überhäuft. Warum?

Einmal im Jahr vergibt das Grimme-Institut in Marl den Grimme-Preis. Es ist die höchste Auszeichnung, die in Deutschland für Fernsehproduktionen verliehen wird, kein Moderator hat sie so oft erhalten wie Jan Böhmermann. Sechs Mal wurde er in seiner Karriere mit der begehrten Trophäe ausgezeichnet.

Auch in diesem Jahr ging ein Preis wieder an den Entertainer aus Köln, dieses Mal für seine Sendung „ZDF Magazin Royale“. Böhmermanns Konzept basiere auf einer simplen Überlegung, hieß es zur Begründung: „In einer Welt, in der Politiker:innen wie Clowns agieren, haben echte Clowns keine andere Wahl, als selbst politisch zu werden: Jan Böhmermann macht daraus Unterhaltung mit Informationswert – oder Information mit Unterhaltungswert, ganz wie man will.“

Was den Informationswert der gelobten ZDF-Sendung angeht, weiß man seit dem vergangenen Wochenende genauer, was davon zu halten ist. Nach einem sechs Monate währenden Verfahren hat das Bundesinnenministerium auf Nachfrage eingeräumt, dass sich die Vorwürfe gegen ein prominentes Böhmermann-Opfer, den ehemaligen Leiter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik Arne Schönbohm, als haltlos erwiesen haben.

Der Name wird vielen vermutlich nichts sagen. Selbst die Innenministerin dürfte ihn bei Dienstantritt nicht gekannt haben. Das änderte sich schlagartig, als das „ZDF Magazin Royale“ den Beamten im Oktober in den Mittelpunkt einer Sendung stellte. Schönbohm unterhalte engen Kontakt zu einem dubiosen Verein, der von russischen Spionen unterwandert sei, lautete der Vorwurf. Ein „Cyberclown“ mit Geheimdienstkontakten nach Moskau an der Spitze der deutschen Cybersecurity – was für ein Witz, hahaha!

Normalerweise ist ein Beamter gegen Intrigen gut ge-schützt, die Innenministerin ist per Gesetz verpflichtet, sich vor ihre Leute zu stellen. Aber beim „ZDF Magazin Royale“ handelt es sich nicht um irgendeine Sendung, sondern um eines der Aushängeschilder des Zweiten Deutschen Fernsehens. Wenn das ZDF jemanden als Sicherheitsrisiko bezeichnet, schrillen in Berlin die Alarmglocken.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser entfernte den Mann umgehend von der Behördenspitze, ungerechtfertigter- weise, wie sich nun herausstellt. Es gebe keine Hinweise auf ein fehlerhaftes Verhalten, teilte das Innenministerium den Anwälten des Behördenleiters vor ein paar Tagen mit. Die angebliche Russland-Nähe war keine, es gab sie nur in den Köpfen der „ZDF Magazin Royale“-Redaktion.

Einen Menschen öffentlich verspotten und dann um seinen Job bringen, das ist keine Kleinigkeit. Man sollte eine Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung der Verantwortlichen erwarten. Ich habe nachgesehen: Zu dem Vorgang gibt es bislang weder eine Einlassung von Böhmermann noch eine des ZDF. Im Gegenteil: Die Siegesmeldung „Nach Böhmermann-Recherche: BSI-Chef Schönbohm muss gehen“ steht weiterhin auf der ZDF-Homepage. Auch auf der Website des Grimme-Instituts sucht man vergeblich nach einer Erläuterung, wie man die Verbindung von Information mit Unterhaltungswert im Lichte der neuen Informationen sieht.

Böhmermann steht für alles, was beim öffentlich-rechtlichen Fern-sehen falschlaufen kann: maximale Einseitigkeit, laxer Umgang mit journalistischen Standards und bei Fehlern statt Einsicht ein Höchstmaß an Arroganz. Wenn jemand nach einem Grund suchte, über eine Aussetzung der Zahlung seiner Rundfunkgebühr nachzudenken, ich würde sagen: Hier wäre er.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass eine Böhmermann-Recherche aus dem Ruder läuft. Ein Beitrag über den CSU-Mann und Bosnien-Beauftragten Christian Schmidt enthielt so viele Fehler, dass es ganze Zeitungsseiten brauchte, um die Sache geradezurücken. Auch von der größten Enthüllung, der Story über die Maskendeals des Influencers Fynn Kliemann, blieb am Ende wenig übrig, jedenfalls nichts Strafwürdiges. Vor wenigen Tagen hat die Staatsanwaltschaft Stade ein Ermittlungsverfahren gegen den Kliemann-Partner Tom Illbruck eingestellt.

Man muss an dieser Stelle vielleicht doch einmal an den Medienstaatsvertrag erinnern, der die Geschäftsgrundlage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bildet. Die „Zeit“ oder die „Süddeutsche“ dürfen sich so einseitig aufführen, wie sie wollen. Wenn die „Zeit“ beschließt, morgen jeder Ausgabe einen Wahlaufruf für die Grünen beizulegen, dann liegt das im Ermessen der Chefredaktion. Ich würde nicht dazu raten, da es viele Leser gibt, die schon jetzt den Eindruck haben, dass die „Zeit“ den Grünen zu nahe steht. Aber die Entscheidung ist allein eine Entscheidung des Blattes.

ARD und ZDF sind nicht so frei, wen sie bevorzugen und wen nicht. Die Sendeanstalten sind per Staatsvertrag gehalten, unvoreingenommen und überparteilich zu berichten. Dafür werden ihnen Privilegien eingeräumt, die sonst nur Finanzbehörden haben. Satire kann schlecht überparteilich sein, das liegt in der Natur der Sache. Aber man könnte sich bemühen, für einen Ausgleich zu sorgen. Doch die Antwort auf Böhmermann ist nicht ein Böhmermann von der anderen Seite, sondern „Reschke Fernsehen“, also ein Programm, das im Zweifel noch linker sein will als das Original.

Es gibt offenbar auch keine Programmaufsicht, wenn man für die richtige Sache streitet.

Der Rundfunkrat kann sehr pingelig sein, so ist es nicht. Als Frank Plasberg einmal nach Ansicht einer Gleichstellungsbeauftragten die falschen Gäste zu einer Talkshow über Gleichberechtigung eingeladen hatte, musste die Sendung wiederholt werden, damit auch die Landesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros zufrieden war. Nur bei Böhmermann gibt es nie ein kritisches Wort, jedenfalls keines, von dem man wüsste. Wer als politisch zuverlässig gilt, darf sich alles erlauben, auch als Dreckschleuderle.

Vor ein paar Wochen hat der Herausgeber der „Berliner Zeitung“, Holger Friedrich, den Springer-Konzern darü-ber informiert, dass ihm der ehemalige „Bild“-Chef Julian Reichelt vertrauliche Informationen angeboten habe. Allgemeine Bestürzung über diesen Verstoß gegen den Informantenschutz. In der „FAZ“ wurde sogar eine Enteignung des Herausgebers erwogen.

Friedrich ist nicht der Einzige, der es mit dem Informantenschutz nicht so genau nimmt, wie die Investigativplatt- form „Correctiv“ zutage förderte. In einem Interview mit den „Correctiv“-Leuten berichtete der Produzent des be-rühmten Ibiza-Videos, dass er das Material als Erstes Jan Böhmermann angeboten habe. Der zeigte sich nicht interessiert, der Informant wandte sich darauf an „Spiegel“ und „Süddeutsche“. Aber das hielt den Moderator nicht davon ab, sich wichtigzutun. Bei einer Preisverleihung machte er Andeutungen über das, was er gesehen hatte, womit er die Veröffentlichung, über die dann die österreichische Regierung stürzte, in Gefahr brachte.

Böhmermann hat über seine Anwälte mitteilen lassen, er habe nie eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben. Das hatte Holger Friedrich allerdings auch nicht. Es gibt Grundsätze, die man nicht extra unterschreiben muss, damit sie gelten. Dazu gehört die Regel, dass man keine Leute hinhängt, die sich einem anvertraut haben. So steht es übrigens auch im Pressekodex: „Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis.“ Aber woher soll Böhmermann das wissen? Er tut ja nur so, als ob er Journalismus betreibe.

Zum Jahreswechsel konnte man im „Spiegel“ ein Porträt der Frau lesen, die für Böhmermann die Recherchen koordiniert. Die Frau heißt Hanna Herbst. In dem Text findet sich ein bemerkenswerter Satz zum Selbstverständnis des „ZDF Magazin Royale“. Das Einzige, was die Redaktion interessiere, seien Richtigstellungen – „solange die ausbleiben: Wo ist das Problem?“. Das ist eine sehr eigenwillige Auslegung des Presserechts: Solange uns nicht vor Gericht nachgewiesen wird, dass wir falschlagen, lagen wir richtig.

Anderseits, wenn man darüber nachdenkt: Wäre das nicht einen Grimme-Preis wert – als journalistische Innovation des Jahres?


© Michael Szyszka

Die Tücken des Lagerdenkens

Putins Chefpropagandist ein „russischer Woody Allen“ – die Frau, die für Putin die Entführung ukrainischer Kinder organisiert, eine „kümmernde“ Mutter: Was ist mit dem Journalisten Roger Köppel geschehen?

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ Damit ist eine Malaise deutscher Publizistik benannt.

Es wird jeden Tag unerhört viel geschrieben. Wir stehen vor einem unübersehbaren Angebot an Zeitungen und Zeitschriften. Dazu kommen die sozialen Kanäle, die ebenfalls gefüllt werden wollen. Man sollte einen Jahrmarkt der Meinungen erwarten, aber viele Journalisten sind sich in der Beurteilung der Themen erstaunlich einig.

Boris Palmer ist ein Hetzer, Markus Söder ein furchtbarer Populist. Die Freidemokraten sind ein Haufen verantwortungsloser PS-Freunde, und der Klimawandel ist ein Thema, bei dem es keine Neutralität mehr geben darf. Habe ich etwas vergessen? Ach so, ja, selbstverständlich müssen wir uns vor Männern in Acht nehmen, die eine toxische Arbeitsatmosphäre verbreiten.

Til Schweiger ist stark alkoholisiert zum Dreh erschienen (Stress für die anderen!). Außerdem hat er nachts einfach Drehbücher umgeschrieben, sodass die Crew am nächsten Tag die Drehpläne über den Haufen werfen musste (noch mehr Stress!!). Lückenlose Aufklärung hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth verlangt. Schade, dass ihr so etwas immer nur einfällt, wenn sie ausnahmsweise mal nicht selbst für einen Skandal in der Kulturwelt verantwortlich ist.

Es ist ein Labsal, wenn man zwischendurch einen Text findet, der nicht zum hundertsten Mal wiederkäut, was schon an anderer Stelle zu lesen stand. Man könnte ja zum Beispiel darauf hinweisen, dass auch Rainer Werner Fassbinder und Billy Wilder ihren Ideen zum Entsetzen der Produktionsleitung freien Lauf ließen. Aber das findet sich allenfalls als Zweispalter im Feuilleton der „FAZ“, und auch das nur, weil dort mit Claudius Seidl ein Kulturjournalist beschäftigt ist, der noch weiß, was Fassbinder für ein Ungeheuer war.

In gewisser Weise verstehe ich die Wut auf Schweiger. Dass ein Film wie „Manta Manta“ die Kinocharts anführt und nicht das sensible Dokudrama über lesbische Liebe in Somalia, macht alle guten Menschen fertig. Aber kleiner Trost: Wenn sie mit Schweiger durch sind, schlägt endlich die Stunde von Nora Tschirner, dem großen Nachwuchstalent des deutschen Films. Dann werden die deutschen Arbeitsschutzbestimmungen so mustergültig eingehalten, dass Änderungen am Drehbuch nur noch nach basisdemokratischer Abstimmung möglich sind.

Sorry, ich habe mich hinreißen lassen. Eigentlich wollte ich über die Gefahren des Lagerdenkens schreiben. Als ich im Journalismus anfing, dachte ich, ein gewisser Widerspruchsgeist sei Voraussetzung für den Beruf. Da habe ich mich getäuscht, wie ich schnell feststellen konnte. Der Herdentrieb macht auch vor Redaktionsräumen nicht halt. Manchmal habe ich den Eindruck, hier ist er sogar besonders ausgeprägt.

Ich mochte immer Leute, die sich nicht um die Meinung anderer scheren. Beziehungsweise diese zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, ob man die Dinge nicht auch ganz anders sehen könnte. „Letters to a Young Contrarian“, heißt ein Buch des britischen Autors und Über-Contrarian Christopher Hitchens, das ich allen ans Herz legen kann, die sich mehr Streitlust wünschen.

Das Dagegensein hat allerdings seine Tücken. Wenn man aus Prinzip immer die andere Seite vertritt, läuft man Gefahr, an einer Biegung herauszukommen, an der man nie herauskommen wollte.

Ich will ein Beispiel nennen, das mich sehr beschäftigt hat. Ein Bekannter von mir ist Roger Köppel, der Chefredakteur der „Weltwoche“ aus Zürich. Wir haben uns 2005 in Berlin kennengelernt, als er für kurze Zeit die „Welt“ leitete. Für mich war Köppel immer die Schweizer Ausgabe von Christopher Hitchens: maximale Provokationsfreude, gepaart mit einem Schalk, der selbst Feinde entwaffnen konnte.

Vor drei Wochen war Köppel in Moskau. Er hat dort eine Reihe von Putin-Getreuen getroffen, darunter Marija Lwowa-Belowa, die Frau, die für die Entführung und Zwangsadoption Tausender ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Die Kinderverschleppung ist eines der schrecklichsten Verbrechen in diesem Krieg, der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Lwowa-Belowa erlassen.

Das Interview in der „Weltwoche“ beginnt so: „Frau Lwowa-Belowa, Sie sind eigentlich Musikerin, Dirigentin. Was hat Sie bewogen, sich hauptberuflich um Kinder zu kümmern?“ Wenn man unterstellt, dass sich auch Kinderschänder um Kinder kümmern, ist „kümmern“ das passende Wort. Der internationale Haftbefehl? Eine Farce. Putin? Ein herzensguter Mensch, ein echter Vater Russlands.

Anschließend war Köppel noch bei dem Chef-Propagandisten und Talkshow-Star Wladimir Solowjow, der den Lesern als „blitzgescheit“ und „lustig“ vorgestellt wird, ein „russischer Woody Allen“. Zufälligerweise habe ich ein paar Programme von Solowjow gesehen. Wenn Solowjow der russische Woody Allen ist, dann war Joseph Goebbels der erste deutsche Stand-up-Comedian mit Millionenpublikum. „Wollt ihr den totalen Krieg?“: eine herrliche Persiflage auf den Fanatismus der Zeit – so wie Solowjows Ausfälle gegen „unwertes Leben“ ganz sicher nur die russische Propaganda demaskieren sollen.

Was ist mit meinem Freund Köppel geschehen? So wie er es sieht, hassen die Linken Putin, weil er für alles steht, was sie verachten: Familie, Religion, Männlichkeit, Machtpolitik. Hinzu kommt, dass seit Beginn des Krieges bei keiner Partei die Unterstützung für die Ukraine so ausgeprägt ist wie auf dem ehemals pazifistischen Flügel. Wenn die Leute, die man politisch ablehnt, sich für Waffen starkmachen, kann daran etwas nicht stimmen, also ist man dagegen – das ist die Logik dahinter.

Auch für mich waren die ersten Monate der Ampel nicht einfach. Ich schreibe lieber darüber, welchen Unsinn die Grünen anstellen, als ihnen zuzustimmen. Aber es hilft nichts: Es waren nun einmal die Grünen, die als Erste erkannten, welche Gefahr Putin für Europa bedeutet. Hätte ich darüber hinwegsehen sollen, um mein Feindbild zu bewahren?

Ich habe auch alle Angriffe auf Annalena Baerbock eingestellt. Es ist mir nicht leichtgefallen, wie Sie sich vorstellen können. Ich will meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass es so bleibt. Wenn ich lese, dass der nigerianische Staatspräsident die Benin-Bronzen, die eben noch mit großer Geste zurückgegeben wurden, zum Privatbesitz erklärt, spüre ich ein leichtes Zucken. Dennoch: Es ist unter anderem der Beharrlichkeit der Außenministerin zu verdanken, dass die Bundesregierung am Ende die Panzer herausgerückt hat, die sie in Kiew so dringend brauchen.

Ich glaube, es zahlt sich aus, einen Standpunkt zu haben und den auch dann beizubehalten, wenn es Überwindung kostet. Aus Prinzip dagegen zu sein führt erst in den Zynismus und dann in den moralischen Bankrott. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit der Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Wer seine Haltung davon abhängig macht, wer einem zustimmt, ist genauso unfrei wie derjenige, der immer die Gegenposition einnehmen muss.

Mir wird oft unterstellt, dass ich provozieren wolle. Aber das ist ein Missverständnis. Ich würde nie etwas schreiben, hinter dem ich nicht stehen kann. Wenn man schon verprügelt wird, dann doch lieber für Dinge, die man auch so meint – jedenfalls zu 51 Prozent.

Es gibt zwei Grundsätze, an die ich mich halte, seit ich diesen Job mache. Die eine Regel lautet: Kein böses Wort über Leute, die ohnehin schon am Boden liegen. Wenn sich alle im Verdammungsurteil einig sind, braucht es nicht noch einen Kommentar von mir. Im Zweifel ergreife ich für den in Bedrängnis Geratenen lieber Partei, wenn es sonst keiner tut.

Die andere Regel habe ich von Harald Schmidt übernommen: Keine Witze über Leute, die weniger als 10 000 Euro im Monat verdienen. In dem Fall kann ich nicht garantieren, dass ich meinem Anspruch immer gerecht werde. Als Kevin Kühnert noch nicht SPD-Generalsekretär, sondern lediglich Juso-Vorsitzender war, musste ich eine Ausnahme machen. Aber ich bemühe mich. Sie sehen, auch bei mir ist noch nicht alles verloren.

© Sören Kunz

Das N-Wort-Verbot: Über den verzweifelten Versuch, die Wirklichkeit zu korrigieren

Dass man das „N-Wort“ nicht mehr sagt, ist klar. Aber auch aus Romanen und Reportagen soll es verschwinden, bald ist sogar die Abkürzung tabu. Über den verzweifelten Versuch einer Wirklichkeitskorrektur

Ein Buchhändler aus München hat mich angeschrieben, um mich auf einen Roman aufmerksam zu machen. Genauer gesagt: auf eine Seite darin.

Das Buch stammt von dem Berliner Reporter Dirk Kurbjuweit und heißt „Der Ausflug“. Es handelt von vier jungen Westdeutschen, die zu einer Kanutour nach Ostdeutschland aufbrechen, einer der vier ist schwarz. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es zu Problemen mit der einheimischen Bevölkerung.

Auf der Seite, die mir der Buchhändler zuschickte, hat der trinkende Dorfnazi seinen Auftritt. Die vier Freunde sitzen in der Ortskneipe und stoßen auf die bevorstehende Kanutour an. „Seit wann können N… paddeln?“, ruft der Nazi dazwischen.

Ich habe das Wort nicht abgekürzt, die Auslassungszeichen hat der Autor vorgenommen. Nimmt man den Satz wörtlich, muss man zu dem Schluss kommen, dass inzwischen auch ostdeutsche Nazis darauf achten, nicht unter Rassismusverdacht zu geraten. Aber so ist es selbstverständlich nicht gemeint.

Das Buch bewegt sich auf der Höhe der Zeit, das muss man anerkennen. Gerade hat sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in einem Anfall von politischem Tourette unmöglich gemacht, indem er einen Auftritt an der Frankfurter Uni dazu nutzte, das verfemte Wort mehrfach auszusprechen. Am Montag gab Palmer seinen Austritt bei den Grünen bekannt. Er wolle professionelle Hilfe suchen, um an sich zu arbeiten, erklärte er außerdem.

Wenn es nach mir ginge, könnten wir morgen die Auslöschung des „N-Wortes“ beschließen. Ich habe nie zu denen gezählt, die finden, dass man an Worten festhalten müsse, nur weil man sie schon immer benutzt habe. Uns ist auch nichts verloren gegangen, als wir uns von „Schlitzaugen“, „Fidschis“ oder „Spaghetti“ als Bezeichnung für andere Menschen verabschiedet haben.

Dummerweise halten sich nicht alle an das Aussprechverbot, das böse Wort wird in bestimmten Kreisen weiter seinen Reiz haben. Es wird vermutlich sogar Menschen geben, die es jetzt erst recht wertschätzen, weil der Beleidigungscharakter in dem Maße zunimmt, in dem man einen Begriff unter Tabu stellt. Auch das muss man im Zweifel hinnehmen.

So sehr ich den Wunsch teile, Beleidigungen aus der Welt zu schaffen: Ich fürchte, die Konsequenzen sind nicht durchdacht. Wenn nicht nur das gesprochene, sondern auch das geschriebene Wort als so anstößig gilt, dass man es besser vermeidet: Warum bei Romanen stehen bleiben? Auch Zeitungsreportagen, wissenschaftliche Studien und überhaupt jede Form der Wirklichkeitserfassung muss sich dann eine Überprüfung gefallen lassen.

Ich sehe die Diskussion bei der „Zeit“ oder der „Süddeutschen“ vor mir. Ein junger Reporter war im Osten unterwegs und liefert Szenen aus dem AfD-Milieu. Einer der darin auftauchenden Funktionäre liebt es, rassistisches Vokabular zu benutzen, er ist geradezu besessen davon. Darf der Reporter nun die Realität beschreiben, auch in ihren abstoßenden Seiten? Oder muss er sie filtern, indem er Abkürzungen oder Umschreibungen des Gesagten benutzt?

Es schließt sich ein weiteres Problem an. Das verfemte Wort ist ja nicht aus der Welt, indem man es abkürzt. Was meint der Dorfnazi bei Kurbjuweit mit „N…“, was verbirgt sich hinter den drei Pünktchen? Neuling, Normalo, Nichtsnutz? Vermutlich meint er genau das, woran wir denken, wenn wir den Buchstaben lesen. So ist es ja auch gedacht: Alles andere würde der Intention des Romans zuwiderlaufen und den späteren Handlungsverlauf unverständlich erscheinen lassen.

Kurbjuweit erwartet also, dass sich im Kopf des Lesers das Wort formt, das er selbst nicht nennen will. Wenn der Autor aber davon ausgeht, dass ohnehin jeder weiß, was gemeint ist, warum nennt er es dann nicht selbst? Aus Rücksichtnahme, würde er vermutlich sagen. Aber müsste echte Rücksichtnahme nicht bedeuten, dass man ganz auf die Nennung verzichtet?

In den USA hat sich genau so ein Fall zugetragen, der Amerika-Korrespondent René Pfister erwähnt ihn in seinem Bestseller „Ein falsches Wort“. Ein Juraprofessor an der University of Illinois Chicago benutzte in einer Klausur, in der die Studenten einen Diskriminierungsfall zu beurteilen hatten, das „N-Wort“ in der abgekürzten und damit scheinbar zulässigen Form. Mehrere Studenten wandten sich darauf an die Unileitung und beklagten, jede Erinnerung an das Leid der Sklaverei wirke traumatisierend, dazu zähle auch der Buchstabe „N“, da er ja stellvertretend für die Abwertung stehe. Der Professor wurde suspendiert.

Schreibweisen ändern sich, Wortbedeutungen ebenfalls. Was eben noch okay war, kann morgen als Herabwürdigung gelten. Das geht mitunter sehr schnell. Auf Twitter kursierte in den vergangenen Tagen ein Videoclip, in dem sich Jan Böhmermann darüber lustig macht, dass man zu Negerküssen nun Schokoküsse sagen solle. Er nennt das Wort „Negerkuss“ mehrfach mit großer Wonne. Der Clip ist von 2016. Ich kann mir nicht vorstellen dass Böhmermann sich heute noch trauen würde, so zu reden.

Es gibt auch die fröhliche Brutalität der zur Schau gestellten Unschuld. Ich weiß noch, wie ich mich innerlich wand, wenn mein Vater von „Schwatten“ redete. Wieso, sagte er, das ist doch nicht böse gemeint. Ich fand das Beharren auf die vermeintliche Harmlosigkeit des Gesagten befremdlich. Wenn eine überwältigende Mehrheit der Angesprochenen einen Begriff als Beleidigung empfindet, tut man gut daran, nicht darauf zu bestehen, dass man besser als sie wisse, was eine Beleidigung sei.

Aber inzwischen frage ich mich, ob wir nicht zu viel des Guten tun. Von der Rücksichtnahme im Umgang miteinander zur Verfälschung der Wirklichkeit ist es nicht weit. Wenn der Rassist nicht mehr wie ein Rassist reden darf, gibt es irgendwann keinen Rassismus mehr. Auch so lässt sich das Problem des Rassismus lösen. Ich bezweifele nur, dass der Sache damit gedient ist.

Heute sind es die People of Color, die auf einer Umschreibung der Wirklichkeit bestehen, morgen die Transmenschen. Das Gesetz dazu ist schon in Arbeit. Im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz findet sich eine Vorschrift, wonach die Nennung des alten Namens künftig unter Strafe stehen soll. Wer über eine Transfrau sagt, dass sie als Mann geboren wurde, verstößt gegen das „Offenbarungsverbot“ und riskiert eine Geldstrafe von bis zu 10000 Euro. Es ist nicht ganz klar, ob sich die Regelung auch auf Journalisten erstreckt. Etwas nebulös ist in dem Gesetzentwurf davon die Rede, dass „besondere Gründe des öffentlichen Interesses“ vorliegen müssten, um von einer Strafe abzusehen.

Deadnaming ist in der Szene eine ernste Angelegenheit. Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, in die der „Spiegel“ geriet, als er seine Leser darüber unterrichtete, dass die Schauspielerin Ellen Page jetzt Elliot heiße. Ich möchte nicht in der Haut von Nachrichtenredakteuren stecken. Wie sollen sie ihrem Publikum mitteilen, dass ein bekannter Mensch das Geschlecht gewechselt hat, wenn bereits der Hinweis auf die bisherige Karriere unter anderem Namen als Verstoß gegen die guten Sitten gilt? Ohne Ellens Filme wüsste niemand, wer Elliot ist.

Meine Frau sagt, warum schreibt dein Kollege überhaupt über Nazis im Osten. Hätte er sich nicht ein anderes Thema suchen können? Das ist, wenn man so will, die pragmatische Sicht auf die Dinge. Einfach umschiffen, was unangenehm werden könnte. Aber wenn man damit anfängt, um alles einen Bogen zu machen, womit man sich Ärger einhandeln könnte, kann man als Journalist oder Schriftsteller einpacken. Dann bleibt als Ausweg nur noch Enid Blyton.

Ich sehe auch keine einfache Lösung. Vielleicht ist eine Antwort, dass man zwischen gesprochener und geschriebener Sprache unterscheidet. Man könnte auch Texte, die böse Worte enthalten, mit einem Warnhinweis versehen: „Achtung, Weiterlesen auf eigene Gefahr.“ Klingt vielleicht lächerlich. Aber wenn das der Preis ist, dass wir nicht vor der Realität die Augen verschließen, dann wäre ich bereit, ihn zu zahlen.

© Silke Werzinger

Sex-SMS an den „Bild“-Chef: Auch im Fall Reichelt gibt es nicht nur Gut und Böse

In der MeToo-Berichterstattung bevorzugen viele Medien Geschichten ohne Grautöne: hier das Opfer, dort der Täter. Die Wirklichkeit ist unübersichtlicher, wie SMS-Nachrichten im Fall Julian Reichelt zeigen

 Eine Geschichte aus dem Leben. Ein Mann und eine Frau treffen sich in Wien. Beide arbeiten bei derselben Firma, beide sind beruflich in der Stadt. Es entspinnt sich per SMS eine Konversation, die über den Tag anhält und erst in den frühen Morgenstunden endet.

13:20 Mann: Du bist auch in Wien?

13:34 Frau: Ja, Opernball

13:34 Mann: Ich auch nachher

13:35 Frau: Treffen?

13:36 Mann: Yes, bin erst mit Freunden essen. Danach Drink?

13:36 Frau: Ja, bin auch mit einer Freundin unterwegs. Sag Bescheid.

18:44 Frau: Sicher, dass Du später Zeit hast?

18:59 Mann: Nichts ist sicher außer Allah. Aber ziemlich. Wir können ja auch alle erst mal zusammen was trinken.

19:10 Frau: Machen wir so. Bin ab halb zehn im Schwarzen Kamel

Ein SMS-Verlauf, wie er so oder ähnlich jeden Tag tausendfach vorkommt. Einerseits. Andererseits auch wieder nicht, denn bei den beiden Personen, die am Ende dieses Tages ein Hotelbett teilen werden, handelt es sich um zwei Menschen, deren Beziehung erst die Compliance-Abteilung des Springer-Verlags, dann die Rechtsanwaltskanzlei Freshfields und kurz darauf alle großen Medien, von der „New York Times“ bis zum „Münchner Merkur“, beschäftigen wird.

Der Mann ist Julian Reichelt, vier Jahre Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, bis er nach Vorwürfen, er habe seine Macht missbraucht, gekündigt wurde. Auch die Frau kennt die Öffentlichkeit, allerdings nicht unter ihrem richtigen Namen. In der Berichterstattung über den Fall firmiert sie als Constanze Müller. Sie ist die Hauptbelastungszeugin im Verfahren gegen Reichelt; viele der ihm zur Last gelegten Vorgänge beruhen auf ihren Aussagen.

Was am 7. Februar 2018 in der Hotelnacht in Wien geschah, ist ein Dreh- und Angelpunkt des Skandals. Die Frau wird später erklären, Reichelt habe ihr befohlen, zu ihm ins Hotel zu kommen. Ihr sei auf dem Weg „kotzübel“ gewesen, nach dem Treffen habe sie angefangen, unkontrollierbar zu weinen. Aber sie habe sich nicht getraut, sein Verlangen nach „Sex auf Abruf“ abzuweisen.

So steht es auch in der Klageschrift, die sie in Los Angeles einreichte, um in Amerika die Gerechtigkeit zu erfahren, die ihr in Deutschland verwehrt blieb. Die Klage umfasst 132 Seiten, sie ist wie ein Drehbuch verfasst. Das meiste bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Außer eben, was diese Nacht in Wien angeht, da wird es konkret.

Eine Andeutung, dass es sich anders zugetragen haben könnte als bislang geschildert, findet sich bereits in der Geschichte der „Zeit“ vor zwei Wochen über die privaten SMS des Springer-Chefs Mathias Döpfner. „Oft ist es die Frau, die von sich aus über Sex spricht und Reichelt fragt, ob er noch vorbeikommen wolle“, schreiben die Autoren, ohne allerdings Einzelheiten zu nennen. Die lieferte am Freitag vergangener Woche dann der Medienredakteur Marvin Schade im Branchendienst „Medieninsider“.

Ich habe mit Schade telefoniert. Er ist aus gutem Grund vorsichtig, was die Bewertung angeht. Er sagt nicht, dass alles ganz anders war, als es die Frau schilderte. Aber der nun vorliegende Chat weise klar darauf hin, dass die Affäre einvernehmlicher war, als es bislang berichtet wurde. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Vor allem Journalisten sollten das eigentlich wissen.

23:34 Frau: Die Mädels wollen nach Hause.

23:34 Mann: In welchem Hotel bist Du?

23:39 Frau: Trendhotel Astoria.

23:53 Mann: Ich irgendwas mit Ferdinand. Bist Du noch unterwegs?

23:53 Frau: Ja.

00:01 Frau: Wollen jetzt aufbrechen.

00:17 Frau: Ist das auch ein Trend Hotel, in dem Du bist?

00:18 Mann: Jetzt schon…

00:18 Frau: Haha. Wo bist Du denn jetzt?

00:19 Mann: Noch im Restaurant. In ca. 20 los hier. Und Du?

00:21 Frau: Fast im Hotel. Wenn Dein Hotel das ist, was ich glaube, ist es 300 Meter von hier.

00:25 Mann: Das ist doch ganz praktisch, oder?

00:26 Frau: Gar nicht schlecht. Frage: Du zu mir oder ich zu Dir?

00:29 Mann: Ich glaub, meins ist besser.

00:30 Frau: Da bin ich mir sogar sicher. Schick mir mal die genaue Adresse.

00:30 Mann: Schubertring

00:38 Frau: Sind wirklich nur 300 Meter.

00:50 Frau: Yes or no?

Um das klar zu sagen: Ich hege keine besondere Sympathie für Julian Reichelt. Ich bin bis heute mit ihm per Sie, wir haben uns noch nie privat getroffen. Es soll auch das letzte Mal sein, dass ich mich zu der Sache äußere. Viele Journalisten haben eine Obsession mit dem Hause Springer entwickelt, ich will nicht den gleichen Fehler machen. Wenn ich trotzdem noch einmal über Reichelt schreibe, dann weil ich glaube, dass der Fall ein paar wichtige Lektionen bereithält.

Ich verstehe das Bedürfnis nach Übersichtlichkeit. Wo sich jeder so verhält, wie es das Drehbuch vorsieht, muss man weniger erklären. Überraschungen können nerven. Aber sollte man nicht gerade von Journalisten etwas mehr Gespür für die Fallstricke der Wirklichkeit erwarten? Malen nach Zahlen soll beruhigende Wirkung haben, als Methode beim Schreiben ist es furchtbar öde.

Ich bin unter anderem Journalist geworden, weil ich es immer reizvoll fand, die andere Seite zu hören. Der Mensch ist ein Bündel an widerstreitenden Motiven und Emotionen. Es mag Menschen geben, die das absolut Böse oder die reine Tugend verkörpern. Aber die meisten tragen beides in sich, mit größeren Anteilen des einen oder anderen. Deshalb sind ihre Handlungen oft komplex, mitunter auch kompliziert. Das macht es ja so interessant.

Nicht nur den Männern, auch den Frauen wird in der MeToo-Berichterstattung diese Komplexität verweigert. Sie kommen entweder als armes Hascherl vor, das nicht weiß, wie ihm geschieht – oder als ins Unglück Gestoßene, die sich dem Druck nicht erwehren konnte. Dass auch Frauen Avancen machen, weil sie sich Vorteile erhoffen oder weil sie es einfach aufregend finden, mit ihrem Chef eine Affäre zu haben, das kommt nicht vor.

Ist es möglich, dass man sich betrogen und ausgenutzt fühlt, obwohl man selbst es war, der eine Affäre initiierte? Auch das ist möglich. Es ist sogar denkbar, dass man einen Vorgesetzten manipuliert und dennoch als Verlierer endet. Aber mit dieser Erkenntnis bewegt man sich auf einem Terrain, das deutlich unübersichtlicher ist als die Geschichten, in denen der Mann immer der Täter und die Frau sein Opfer ist, ohne Graustufen dazwischen.

Eine Lehre aus dem Fall Relotius war, dass es saugefährlich werden kann, wenn Reporter dem Bedürfnis nachgeben, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. Weil sich die Wirklichkeit dem Wunsch nach Eindeutigkeit widersetzt, muss der Autor nachhelfen, indem er Fakten unterschlägt oder, wie bei Relotius geschehen, Teile der Realität erfindet. Es sieht so aus, als ob es vielen schwerer fällt, die Welt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit in den Blick zu nehmen, als man sich das eigentlich vorgenommen hatte.

Im Sommer vergangenen Jahres hat der „Spiegel“ den Henri-Nannen-Preis für seine Reichelt-Berichterstattung erhalten. Nach Sichtung der Belege stellte der Chefredakteur des Branchendienstes „Kress Pro“, Markus Wiegand, die Preiswürdigkeit infrage, die Faktenlage erschien ihm zu dünn. Die Beleglage ist nicht besser geworden, muss man sagen.

@ Michael Szyszka

SMS-Leaks: Worum es bei dem Angriff auf Springer-Chef Döpfner in Wahrheit geht

Springer-Chef Mathias Döpfner steht in der Kritik, weil er sich in privaten SMS drastisch geäußert hat. Ein Skandal? Ja – für alle, die es immer schon unmöglich fanden, wie die Springer-Blätter die Grünen angehen

Was denkt Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der „Zeit“, über Politiker, die er für unfähig hält? Flucht er manchmal über sie? Hegt er hässliche Gedanken über Ossis, Muslime oder Angela Merkel?

Was schreibt Steffen Klusmann vom „Spiegel“ im Vertrauen, wenn er sich ärgert? Gestattet er sich Schimpfwörter? Hat Wolfgang Krach, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, jemals eine SMS verfasst, von der er sich wünscht, er hätte sie nie geschrieben?

Nein, nein, nein. Ich bin sicher, diese Zeitungsführer schreiben auch in ihren schwärzesten Stunden so, dass es sich jederzeit für einen Leitartikel eignen würde. Niemals würde ihnen ein Wort wie „ficken“ über die Lippen, geschweige denn in die Tastatur kommen. Oder ein Ausdruck wie „AfD-Wichser“.

Selbstverständlich würden sie noch unter dem härtesten Einfluss von Alkohol oder anderer potenziell toxischer Substanzen in perfekter Orthografie darauf beharren, dass man auf keinen Fall ganze Volksgruppen über einen Kamm scheren dürfe. Schon gar nicht kämen sie auf die Idee, politische Gegner in die Opposition zu wünschen oder ihre Zeitungsmacht zu nutzen, damit sie dahin zurückkehren. Ein Verdikt wie: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten“? Bei ihnen undenkbar!

Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns, ist kein so beherrschter Mensch wie seine Journalistenkollegen. Er hat, wie man spätestens jetzt weiß, ein überraschend entflammbares Temperament, das sich gelegentlich auch in Flüchen und Schimpfkanonaden entlädt.

Zehn Tage ist es her, dass man in der „Zeit“ einen Teil der SMS lesen konnte, die er an Julian Reichelt, den ehemaligen Chefredakteur der „Bild“, geschickt hat, als dieser noch leitender Redakteur im Hause Springer war. So einen Freudentag hat man im übrigen Mediendeutschland seit Langem nicht mehr erlebt – kein Wunder, dass man ihn dort durch immer neue Kommentare und „Nachdrehen“ zu verlängern sucht.

Im „Spiegel“ war zu lesen, wie enttäuscht man von dem Mann sei, den man sich immer als Feingeist und Freund der schönen Künste vorgestellt habe. Und nun so ordinär und rabiat im Auftritt: schrecklich! Die brave „SZ“ fiel so sehr von einer Ohnmacht in die andere, dass sie der Causa über zehn Artikel widmete, darunter ein Streiflicht, eine Seite drei, einen Kommentar und zwei Medienaufmacher.

Darf man Ostdeutsche als Faschisten und intolerante Muslime als Gesocks bezeichnen? Natürlich darf man das. Es ist ungerecht, es ist unmanierlich, aber solange man damit nicht an die Öffentlichkeit tritt, liegt kein Grund für irgendwas vor. Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Private Mails und Textnachrichten sind es auch.

Aber weil Döpfner nicht irgendwer ist, sondern der Chef des mächtigsten europäischen Medienhauses, heißt es nun, die SMS seien gar nicht richtig privat, jedenfalls nicht so privat, dass man daraus nicht zitieren dürfe. Dieses Argument wird kurioserweise vor allem von Leuten vorgebracht, die ansonsten bei jedem Verstoß gegen den Datenschutz einen Herzanfall bekommen.

Sie hätten die wirklichen privaten Nachrichten ja nicht veröffentlicht, rechtfertigen sich die „Zeit“-Redakteure. Also alles über Familie und Frauen hat man draußen gelassen, soll das wohl heißen. Andere machen aus den SMS-Fetzen umstandslos Dienstanweisungen an einen Untergebenen, womit es sich um quasi offiziöse Verlautbarungen handelt. Wenn es darum geht, eine Begründung zu liefern, warum man auch Sachen veröffentlicht, die man eigentlich nicht veröffentlichen sollte, waren Medien schon immer kreativ. Im Zweifel erfindet man irgendein „überragendes öffentliches Interesse“, dem man dient.

Wer das Verhältnis von Mathias Döpfner und Julian Reichelt kennt, weiß, dass es sich hierbei nicht um ein normales Arbeitsverhältnis gehandelt hat. Die beiden sahen sich als Kampfgefährten, als „Brothers in Arms“. Deshalb fiel ja auch die Trennung so schwer. Döpfner hielt noch an Reichelt fest, als alle ihm schon rieten, ihn loszuwerden. Reichelt wiederum entwickelte einen geradezu mörderischen Hass auf Döpfner, als der ihm am Ende die Tür wies. Schlimmer als ein zerbrochenes Arbeitsverhältnis ist enttäuschte Liebe.

Ein Bekannter, der für eine Zeitung in Berlin arbeitet, schrieb mir: „Die Scheinheiligkeit ist kaum zu ertragen. Wenn meine linken Freunde hören, dass ich in der Uckermark lebe, sagen sie immer: ,Echt? Da leben doch nur Nazis.‘ Das ist dann völlig akzeptierte Redeform.“ Aber auch das ist den Redakteuren in Hamburg vermutlich gänzlich unbekannt. Sie besitzen weder Häuser in der Uckermark, noch würden sie Ostler jemals als Nazis bezeichnen. Den einzigen Ossi, den sie in Hamburg beim Namen kennen, ist Gregor Gysi, und den mögen alle.

Um was es geht? Ganz einfach: Es geht darum, das einzige Medienhaus in Deutschland, das verlässlich gegen Rot-Grün antritt, in die Knie zu zwingen. Springer ist die letzte publizistische Macht, die in der Lage und vor allem auch willens ist, der Bundesregierung geschlossen das Leben schwer zu machen. Glaubt jemand ernsthaft, die „Süddeutsche“ würde einen Abgrund von „Menschenverachtung“ beklagen, wenn Döpfner seine Redaktionen angehalten hätte, entschiedener gegen den Klimawandel anzuschreiben und statt der FDP Annalena Baerbock zu unterstützen?

Marc Felix Serrao hat in der „NZZ“ darauf aufmerksam gemacht, dass das, was die „Zeit“ nicht für problematisch hält, mindestens so interessant ist wie das, was sie empörend findet. Nicht problematisch ist zum Beispiel eine Nachricht der Gesellschafterin Friede Springer an ihren Chefredakteur, in der sie den „lieben Julian“ bittet, er möge doch der „erfahrenen Bundeskanzlerin“ im Umgang mit der Corona-Pandemie zur Seite stehen. Es kommt eben ganz darauf an, für wen man Partei ergreift, damit ein Skandal daraus wird.

Man mag einwenden, dass es einen Unterschied macht, ob ein Vorstandsvorsitzender oder ein Chefredakteur seine Leute auf eine Blattlinie verpflichtet. Das ist formal richtig, aber für den Redakteur, den es trifft, fühlt sich beides gleichermaßen übergriffig an. Und dass dies ein Tabubruch wäre, können nur Leute behaupten, die frisch von der Journalistenschule kommen, wo man Pressekampagnen lediglich dem Namen nach kennt.

Der „Spiegel“ ist groß geworden, indem er Partei ergriff, erst für Brandts Ostpolitik, dann gegen Helmut Kohl. Auf 36 Titeln variierte die Redaktion die Zeile „Kohl kaputt“, bis es dann, nach 16 Jahren, endlich geschafft war. Ich habe in meinen 30 Jahren beim „Spiegel“ viele Ressortleitersitzungen mitgemacht. Lassen Sie es mich so sagen: Auch nach 1998 wurde dem Kampagnenjournalismus nicht abgeschworen. Fragen Sie Gerhard Schröder, der kann ein Lied davon singen.

Erst als Angela Merkel in der Flüchtlingskrise zur Kanzlerin der Herzen aufstieg, wandelte sich das Blatt. Seitdem sieht man sich in der Hauptstadtredaktion als kritischer, aber konstruktiver Begleiter der Regierung. Daher auch die unfassbare Langeweile, die viele Artikel heute verströmen. Wenn doch mal jemand ins Visier gerät, wie neulich der treue Merkel-Knappe Peter Altmaier, dann kommt die Geschichte garantiert nicht aus dem Berliner Büro.

Die eigentliche Pointe ist, dass die veröffentlichten SMS einen Döpfner abbilden, den es so gar nicht mehr gibt. Der neue Döpfner ist ein Mann, der möchte, dass die „Bild“ weniger bullig auftritt. Der seinen Führungskräften Awareness-Seminare verordnet, in denen sie den inklusiven, gendersensiblen Sprachgebrauch erlernen, und der mit Kommentaren eingreift, wenn in einem seiner Blätter Wissenschaftler die verrückte These aufstellen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt.

Man darf getrost davon ausgehen, dass 60 Prozent der Deutschen die Lage so sehen, wie der Mann an der Spitze des Konzerns sie in seinen Nachtnachrichten schilderte. Dass Merkels Energiepolitik ein Unglück fürs Land war und ihre Corona-Politik übertrieben, dass Scharia-Muslime eine Gefahr darstellen und die Angst vor dem Klimawandel hysterische Züge trägt: Das kann die Mehrheit sofort unterschreiben. Dieser Mehrheit eine Stimme zu geben war bislang die Stärke der „Bild“.

© Sören Kunz

Kunst als Tabu-Bruch? Bloß nicht, es könnte sich jemand beleidigt fühlen!

Der Künstler als Tabubrecher, der Grenzen überschreitet und das Publikum verstört? Das war gestern. Heute wird vom Kunstschaffenden verlangt, dass er niemandem zu nahe tritt. Wenn es doch mal passiert, gibt’s Ärger

Jetzt ist also Wolfgang Koeppen dran. Suhrkamp-Autor, Georg-Büchner- und Arno-Schmidt-Preisträger, einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur, nach Meinung mancher Kritiker sogar größer als Heinrich Böll und Günter Grass.

Marcel Reich-Ranicki, der nicht nur etwas von Literatur, sondern auch von den Abgründen der deutschen Seele verstand, hat keinen Schriftsteller so gefördert wie den Mann aus Greifswald. Wenn es jemanden gab, der der Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vorhielt, wie es so schön heißt, den kleinen und großen Nazis, die selbstverständlich alle im inneren Widerstand gewesen waren, als der Wind umschlug, dann Koeppen.

Und nun? Nun hat eine Gymnasiallehrerin aus Ulm entdeckt, dass die antisemitischen, ressentimentgeladenen Spießer in Koeppens Roman „Tauben im Gras“ so reden, wie antisemitische, ressentimentgeladene Spießer nun einmal reden – und seine Entfernung von der Liste der Schullektüre verlangt. Die mehrfache Verwendung des Wortes „Neger“ in den Dialogen sei eine „Waffe“ und damit eine Form sprachlicher Gewalt, befand die brave Frau. Gewalt aber will man am Gymnasium nicht dulden, nicht als gesprochenes Wort und nicht in Schriftform.

Ach Ulm, ist man versucht zu sagen. So geht es nun einmal zu in einer Stadt, deren bedeutendster Beitrag zur Gegenwartskultur der bekannte Zungenbrecher ist, der einen immer wieder in und um Ulm herumführt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass der Literat Koeppen Anstoß erregt. Schon den Zeitgenossen galt er als verdächtiger Kamerad. Zu modern, zu unversöhnlich im Blick auf die verdruckste Heimeligkeit des Aufbaudeutschlands, so lautete das Urteil. Der Autor beschmutze seine Landsleute: wie unanständig, wie garstig!

Aber was weiß man auf der neuen Linken schon von Literatur oder Geschichte? Zwei Judith-Butler-Zitate reichen heute, um bei jeder Kulturdebatte mitzuhalten. Deshalb findet sich auch in der Berliner Tageszeitung „taz“ die Forderung, dass Koeppen von der Liste muss. „Der Roman reproduziert rassistische Sprache.“ Außerdem: „Es braucht auch die Literatur weißer Männer nicht, die an zukünftige Leser*innen of Color wohl keinen Gedanken verschwendet haben.“

Koeppen ist der vorerst Letzte in einer Reihe von Autoren, die als so anstößig gelten, dass man ihre Texte entweder glättet oder am besten ganz aus dem Verkehr zieht. Zuerst hat es Roald Dahl erwischt, den britischen Kinderbuchautor, der – shocking – in Personenbeschreibungen Worte wie „fett“ verwendet. Dann teilte der Verlag von Ian Fleming mit, dass der Bond-Erfinder einer gründlichen Überarbeitung unterzogen werde. Auch Agatha Christie muss den Lesegewohnheiten angepasst werden.

Allen Autoren geriet zum Verhängnis, dass sich in ihren Werken Stellen finden, die von zartbesaiteten Gemütern als belastend empfunden werden können, weil sie entweder Klischees bedienen oder Worte enthalten, die man heute bestenfalls in abgekürzter Form benutzt wie das N-Wort oder das Z-Wort. Im ersten Moment glaubte ich an einen Marketingtrick, um tote Autoren vor dem Vergessen zu retten. Aber dann stellte ich fest: Die Verlage meinen es ernst.

Der Empfindlichkeit sind keine Grenzen gesetzt. Dass man Chinesen heute nicht mehr Gelbgesichter nennt: klar, leuchtet ein. Aber „fett“? Überall, wo bei „Charlie und die Schokoladenfabrik“ das hässliche Wort auftaucht, steht demnächst „enorm“. Der Kollege Martenstein wies darauf hin, dass eine berühmte deutsche Hip-Hop-Band damit um die Umbenennung wohl nicht mehr umhinkommt. „Enormes Brot“? Gewöhnungsbedürftig, zugegeben, aber dafür korrekt, jedenfalls so lange, bis „enorm“ unter Diskriminierungsverdacht fällt.

Es nützt auch nichts, wenn es sich bei den inkriminierten Stellen um Zitate handelt, der Autor also anstößige Ausdrücke benutzt, um Personen als besonders üble Vertreter ihrer Gattung zu kennzeichnen. Der Rassist befleißigt sich ja selten einer gendersensiblen Sprache. Es wäre zweifellos wünschenswert, auch der Totschläger würde von „PoC“ oder besser noch „BIPoC“ sprechen, wie der aufgeklärte Mensch „People of Color“ nennt. Allein der Weg ins Genderseminar von Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky blieb dem Rohling versperrt, weshalb er noch immer so redet, dass man sich schütteln muss.

Eine Reihe von Verlagen ist dazu übergegangen, sogenannte Sensitivity Reader mit der Begutachtung der zur Veröffentlichung vorgesehenen Manuskripte zu betrauen. Die „Zeit“ hat sich neulich den Spaß gemacht, einen Artikel über die Einrichtung dieser Bewusstseins-Lektoren von einem Bewusstseins-Lektor gegenlesen zu lassen. Um unbeanstandet durchzukommen, empfiehlt es sich, lieber stets einen Genderstern zu viel zu setzen, lernte man. Und immer Begriffe wie „weiß“ oder „schwarz“ großschreiben, um hervorzuheben, „dass es sich um eine ,Race‘, eine konstruierte Menschengruppe und nicht etwa um die Farbe handelt“!

Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als die Kunst stolz darauf war, quer zu den Erwartungen der Gesellschaft zu liegen. Als sich Künstler damit brüsteten, widerborstig und unanständig zu sein. Dass Kultur verstört und gegen Tabus verstößt, galt nicht als Manko, sondern im Gegenteil als Beweis von Relevanz und Lebendigkeit. Nichts wäre für einen Künstler tödlicher gewesen als der Ruf, er unterlasse alles, was das Publikum herausfordern oder gar schockieren könnte. Der arme Mensch wäre sofort erledigt gewesen.

Heute ist die Kenntnis und Beachtung der Empfindlichkeitszonen geradezu Bedingung, um eine Beschäftigung zu finden. Nicht Originalität, sondern Affirmation ist die Voraussetzung für eine Karriere im Kulturbetrieb.

Geht den Leuten der Gouvernantenton, die andauernde Belehrung und Zurechtweisung nicht furchtbar auf die Nerven? Doch tut es, und wie sogar. Das Publikum ist intelligenter als die Macher. Die Münchner Kammerspiele, die stolz darauf sind, eines der politisch fortschrittlichsten Programme der Republik zu bieten, erleben einen beispiellosen Niedergang.

Unter der Überschrift „Da geh ich nicht mehr hin“ zeichnete die Theaterkritikerin Christine Dössel vor wenigen Tagen in der „Süddeutschen“ das Bild einer Bühne, die statt Kunst vor allem Gesinnung bietet. Das Gros der Inszenierungen begnüge sich damit, „queere, feministische, antirassistische Positionen zu vertreten oder – Lieblingswort – zu empowern“, schreibt die Kritikerin: „Die Kammerspiele kommen einem vor wie ein gesellschaftspolitisches Institut mit angeschlossenem Spielbetrieb.“ Dabei sei es alles andere als ausgemacht, dass Schwule, Lesben und People of Color nicht auch zuerst große Kunst sehen wollen und keine zielgruppenbemühte Ansprache. „Es gibt in München seit jeher ein offenes, dankbares, nach Theater lechzendes Publikum. Eigentlich dumm, das nicht zu bedienen.“

Das Ergebnis ist an den Einspielergebnissen ablesbar. Gerade mal 60 Prozent Auslastung, darüber kommt die Bühne kaum noch hinaus. Und dass die Bilanz nicht noch desaströser ausfällt, ist ausschließlich dem Komiker Gerhard Polt zu verdanken. „A scheene Leich“, das Stück, mit dem er gastiert: natürlich ausverkauft. Und selbstverständlich meldete die Dramaturgie sogleich Bedenken an, als Polt einen indischen Pfarrer parodierte.

Im vergangenen Jahr hat die Stadt München 1,2 Millionen Euro nachschießen müssen, für den laufenden Spielbetrieb ist es knapp eine Million. Aber irgendwie hat man sich darauf geeinigt, dass die Zuschauer schon noch lernen werden, welches Glück es für sie bedeutet, dass ihnen das Theater Bewusstseinsbildung statt Kunst liefert.

Ich bin da skeptisch. Auch im Theater gilt, was in meinem Gewerbe traurige Wahrheit ist: Wer als Abonnent einmal weg ist, der kommt nicht wieder. Das gilt übrigens auch für die treuen Buchkäufer, die man mit immer neuen Sprachmätzchen malträtiert. Wie sagte der alte Hopi-Indianer: Irgendwann werden sie feststellen, dass man Gendersterne nicht essen kann.

© Silke Werzinger

Habecks Schattenmann: Lernen Sie Deutschlands gefährlichsten Beamten kennen

Die Energiewende ist ins Stadium der Torheit eingetreten. Auch nach dem Krisengipfel gilt: Ab Januar 2024 sollen keine neuen Öl- und Gasheizungen zugelassen werden. Dabei sind viele Häuser für Alternativen ungeeignet

Ich möchte Ihnen einen Mann vorstellen, der es verdient hat, dass man ihn beim Namen kennt. Der Mann heißt Patrick Graichen. Herr Graichen ist verbeamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Das ist sein offizieller Titel. Ich würde sagen: Er ist der Mann, der es in der Hand hat, 35 Millionen Immobilienbesitzer so arm zu machen wie noch kein Staatssekretär vor ihm.

Patrick Graichen ist der Vater der Wärmepumpe. Vor vier Wochen hat ein Gesetzentwurf sein Haus verlassen, in dem steht, dass ab Januar 2024 in deutschen Häusern keine Gas- oder Öltherme mehr eingebaut werden darf. Ich dachte erst, es gehe um Neubauten. Das hätte ich verstanden. Wer ein neues Haus plant, kann Platz für Alternativen schaffen.

Aber nein, der Gesetzentwurf betrifft alle Heizungen in Deutschland. Das heißt: Wenn Sie nach dem 1. Januar 2024 einen neuen Brenner brauchen, dann haben Sie ein Problem, und zwar ein großes. Daran hat auch der Krisengipfel nichts geändert, der am Dienstag nach zähen Verhandlungen zu Ende ging.

Falls Sie beim Blick auf die „Bild“-Schlagzeile („Habecks strenges Heizungsverbot gekippt“) dachten, die Bundesregierung habe sich besonnen, muss ich Sie enttäuschen. Alles bleibt im Grunde beim Alten. Es gibt nur eine Änderung: Alte Heizungen dürfen länger in Betrieb bleiben, wenn sie mit klimafreundlichen Gasen laufen. Die Regierung nennt das „technologieoffen“. Da grüner oder blauer Wasserstoff so schnell nicht zur Verfügung stehen wird, kommt eigentlich nur Biogas infrage. Wohl dem, der über einen Misthaufen vor der Haustür verfügt!

Ich habe mich mit dem Thema aus Eigeninteresse ausführlich beschäftigt. Ich wohne in Pullach, im Süden von München. Das Haus ist von 1993. Der Vorbesitzer hat nicht viel machen lassen. Fast alles, was ich vorfand, als ich es vor fünf Jahren kaufte, war im Originalzustand.

Wie das so ist, wenn man renoviert, man fängt mit dem Dringlichsten an. Also Boden, Badezimmer, Leitungen, Fenster. Vor anderthalb Jahr war dann die Gasheizung dran. Ich habe den Monteur meines Vertrauens, den Fachbetrieb Daniel Dietze aus Pullach, angerufen und um Vorschläge gebeten. „Wie wär’s mit einer Wärmepumpe?“, habe ich gefragt. „Soll super sein. Außerdem gibt’s doch Zuschüsse, wie ich gehört habe.“

Herr Dietze hat mich mitleidig angesehen und dann geantwortet: „Erstens ist Ihr Heizungsraum zu klein, da passt nie und nimmer eine moderne Wärmepumpe hinein. Und zweitens: Auch die Wärmepumpe läuft nicht mit Luft und Liebe. In Ihrem Haus werden Sie am Ende des Jahres eine Stromrechnung bekommen, dass Sie vor Weinen nicht mehr in den Schlaf finden.“ Es ist dann ein moderner Brenner von Buderus geworden.

Mit der Wärmepumpe erreicht die Energiewende das Stadium der Märchenstunde. Oder soll man sagen: der Torheit? Alle wissen, dass das Vorhaben scheitern muss, aber keiner traut sich, es auszusprechen.

Viel war in den vergangenen Tagen von den Kosten die Rede. Das kommt ja dazu: So eine Wärmepumpe ist wahnsinnig teuer. Für meinen Gasbrenner habe ich alles in allem 13000 Euro bezahlt, inklusive Einbau und Inbetriebnahme. Dafür spare ich jetzt etwa 30 Prozent an Energie. Die Bilanz kann sich sehen lassen, wie ich finde. Aber das reicht den Leuten im Wirtschaftsministerium nicht. Deshalb muss jetzt auch die arme Oma auf dem Lande ran, die froh ist, dass sie ihr Häuschen abbezahlt hat.

Die entscheidende Frage wird interessanterweise selten gestellt: Funktioniert die Umstellung überhaupt? Beziehungsweise: Die Frage wird gestellt und auch beantwortet (und zwar abschlägig), aber die Antwort dann ignoriert. Im „Spiegel“ kam neulich die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker, lange Zeit Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, zu Wort. Wie sie den Wärmepumpenplan der Regierung bewerte, wurde sie gefragt. Das sei ein Irrweg, den Wirtschaftsminister Habeck am besten sofort beenden sollte, lautete ihr Urteil. Viele Häuser in Deutschland seien für den Einsatz nicht geeignet. Außerdem gebe es weder genug Geräte noch Handwerker.

Möglicherweise liest man Wochenpresse im Wirtschaftsministerium nicht. Oder man denkt dort: Frauen auf dem Bau, die kann man ohnehin nicht ernst nehmen. Herr Graichen hat Politikwissenschaft studiert, bevor er bei einer grünen Lobbyfirma anheuerte. Politik ist ein schönes Studium. Bauphysik kommt da allerdings nicht vor. Ich bin der Letzte, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Ich habe Physik in der 10. Klasse abgewählt. Aber ich entwerfe eben auch keinen Energiemasterplan für Deutschland.

Die Bürger sollten sich keine Sorgen machen, heißt es jetzt, das Wärmepumpen-Projekt werde sozial abgefedert. Wer es sich nicht leisten könne, solle nicht mehr für eine Wärmepumpe als für eine Gasheizung zahlen müssen. Niemand werde im Stich gelassen, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil am Dienstag. Das ist jetzt der Plan: Wir nehmen Milliarden in die Hand, um ein Vorhaben zu finanzieren, von dem alle wissen, dass es nicht funktionieren kann. Das ist die Torheit auf die Spitze getrieben.

Bleibt noch die Frage nach dem Einbau. Wann haben der SPD-Vorsitzende oder der Bundeswirtschaftsminister das letzte Mal versucht, einen Handwerker zu bekommen? Aber vielleicht läuft es ja wie bei der Bahn: Um ihr Image zu verbessern, hat die Bahn ein Programm aufgelegt, wonach Pünktlichkeit garantiert ist, sobald ein Spitzenpolitiker den Zug besteigt. Möglicherweise gibt’s das jetzt auch für Monteure.

Was sagt Herr Graichen zu allem? Vor ein paar Monaten war der Staatssekretär zu Gast beim Verband der Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Geht eine Hand hoch: Wo denn die 60000 Handwerker herkommen sollen, die es schätzungsweise bräuchte, um die ehrgeizigen Pläne der Bundesregierung in die Tat umzusetzen? Na ja, sagte der Herr Staatssekretär, dann müssen halt ein paar Fliesenleger weniger Fliesen verlegen. Es gab ein sehr lautes Klack, als allen die Kinnlade runterfiel.

Eine Lösung: Solange es noch erlaubt ist, den alten Brenner durch einen neuen ersetzen. Dann ist man erst einmal auf der sicheren Seite. In jedem Fall aber würde ich dazu raten, Ersatzteile zur Seite zu legen. Reparaturen sind weiterhin erlaubt, wie Robert Habeck vor ein paar Tagen sagte: „Wer kaputte Ölheizungen oder Gasheizungen hat, der kann sie heile machen. Und zwar nicht nur einmal, sondern so lange, wie es irgendwie geht.“

Also: Austausch ist ab Januar verboten, aber „heile machen“ ist okay. Ich prophezeie Ihnen, Ersatzteile für Öl- oder Gasheizungen sind ab nächstem Jahr das neue Gold. Falls Sie mir nicht glauben: Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Die Professorin im Rat der Wirtschaftsweisen, Veronika Grimm, spricht vom „Havanna-Effekt“. So wie die Kubaner immer noch mit brüchigen Oldtimern durch die Straßen fahren, werden viele Deutsche mit allen Mitteln versuchen, ihre alte Heizung über die Zeit zu retten.

Aus München erreichte uns diese Woche übrigens die Nachricht, dass sich die Besit-zer von Elektrofahrzeugen auf höhere Strompreise einstellen müssen. An den Schnellladestationen der Stadtwerke München steigt der Preis bei Gleichstrom auf 79 Cent pro Kilowattstunde. Das macht umgerechnet auf 100 Kilometer 15,80 Euro. Da fahren viele Verbrenner günstiger.

Anderseits: Wer hat gesagt, dass der Umstieg auf Strom Geld spare? Seien Sie froh, wenn überhaupt Strom fließt. Die Besitzer von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen sollten sich auf Engpässe einstellen, hat kürzlich der Chef der Bundesnetzagentur gewarnt, es könne zu Stromrationierungen kommen.

Vielleicht ist die Pelletheizung die Lösung, und sei es als Back-up. Holz gibt’s immer.

© Sören Kunz

E bitzeli käuflich, e bitzeli feig: So ist sie, die Schweiz. Leider

Die Schweiz bildet sich viel auf ihre Rechtschaffenheit ein. Es braucht nicht die Credit Suisse, um Zweifel zu bekommen. Schon das Verhalten gegenüber der Ukraine hat gezeigt, dass die Moral oft nur bis zum nächsten Geldautomaten reicht.

Mit der Schweiz verhält es sich ein wenig wie mit China. Spektakuläre Natur. Jeder erdenkliche Luxus für diejenigen, die es sich leisten können. Überhaupt ist touristisch einiges geboten. Man darf nur nicht nach den Grundsätzen fragen, die das Ganze zusammenhalten.

In China war ich zwei Mal in meinem Leben. Ich kann nicht sagen, dass es mir gefallen hätte. Dass die Leute ständig auf den Boden spucken, lässt sich noch unter „regionale Eigenheit“ abbuchen. Aber dass sie einen am laufenden Band wissen lassen, dass sie das auserwählte Volk seien, ist auf die Dauer etwas enervierend. Es gibt, soweit ich das sehe, keine andere Nation, bei der Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung so weit auseinanderfallen.

Der Schweizer spuckt nicht auf den Boden, davor bewahrt ihn schon die Nähe zu seinen Nachbarn. Wer weiß, wenn er könnte, wie er wollte, wäre er möglicherweise in Versuchung. Aber die Lage zwischen Italien, Frankreich und Österreich ist an dem kleinen Bergvolk nicht spurlos vorübergegangen. Der Schweizer reibt einem auch nicht ständig unter die Nase, dass er die Schweiz für den Nabel der Welt hält. Sich allen überlegen zu fühlen, ist das eine – es bei jeder Gelegenheit herumzuposaunen etwas ganz anderes.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich war, anders als in China, immer gerne in der Schweiz. Die Berge sind toll. Es gibt ordentliche Weine und prima Käse. Fledermäuse sind von der Speisekarte ausgenommen. Außerdem ist alles sehr sauber und aufgeräumt. Im Grunde so wie in Baden-Württemberg, plus Alpen und Paradeplatz. Manche Leute beklagen sich über den Dialekt, aber in der Hinsicht bin ich pragmatisch: Sprachbarrieren können einen auch vor Enttäuschungen bewahren.

Man sollte nur nicht genauer nachfragen, womit sie ihr Geld verdienen, wenn man sich sein Schweiz-Bild erhalten möchte. Niemand sagt das so offen, aber ein nicht unbeträchtlicher Teil des Reichtums verdankt sich der Tatsache, dass man in der Schweiz Leute akkommodiert, denen man andernorts nicht mal den kleinen Finger reichen würde.

Raten Sie mal, mit wem die Credit Suisse groß geworden ist, jenes berühmte Geldinstitut, das gerade für ein mittleres Bankenbeben in Europa gesorgt hat. Mit der Vermögensvermehrung ehrbarer Handwerker und Kaufleute, die ihr Erspartes brav zum Bankangestellten ihres Vertrauens trugen?

So steht es vielleicht in der Firmenchronik. In Wirklichkeit war die Credit Suisse immer schon eine erste Adresse für alle, die ihr Geld aus, sagen wir, inoffiziellen Quellen beziehen. Es würde mich nicht wundern, wenn die neuen Besitzer bei einer Besichtigung des Tresorraums auf Schließfächer stießen, auf denen sich noch die Namen von Albert Speer oder Idi Amin finden.

Das Nationalheiligtum der Schweiz ist die Neutralität. Auf kaum etwas ist man so stolz wie auf die Tatsache, dass man sofort die weiße Flagge hisst, wenn es irgendwo Ärger gibt. Neutralität klingt so schön vornehm, ein wenig nach Rotem Kreuz und Internationalem Gerichtshof. Tatsächlich ist es nur ein anderes Wort für die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs unter veränderten Bedingungen. So wie sie in der Schweiz Neutralität verstehen, ist es ein Freibrief, es sich unter keinen Umständen mit jemandem verderben zu lassen, auch nicht mit den übelsten Halsabschneidern und Blutsäufern.

Vor ein paar Wochen mussten die Schweizer entscheiden, ob sie der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen helfen sollen. Die Hürde war denkbar niedrig. Sie hätten noch nicht einmal selbst helfen müssen. Sie hätten nur erlauben müssen, dass Deutschland die Panzermunition, die man in der Schweiz für den Gepard gekauft hat, an Kiew weitergeben darf. Der Gepard spielt bei der Verteidigung der Ukraine eine wichtige Rolle. Dass es dem geschundenen Land bislang gelungen ist, den russischen Drohnenangriffen einigermaßen standzuhalten, verdankt sich nicht zuletzt den Kanonen des deutschen Flugabwehrpanzers.

Auch in der Schweiz ist man selbstverständlich für das Selbstverteidigungsrecht eines Volkes. Man will halt nur nicht dabei erwischt werden, dass man etwas dafür tut, dass sich jemand auch verteidigen kann. Nicht auszudenken, was Wladimir Putin denken würde, wenn er erfährt, dass die Schweiz dabei geholfen hat, Kinder vor dem sicheren Bombentod zu retten!

Also taten sich die Schweizer Volkspartei und die Grünen zusammen und brachten die Liefergenehmigung zu Fall. Von der SVP weiß man, dass die Moral nur von hier bis zum nächsten Geldautomaten reicht. Dass sich auch die Grünen zu den Russlandhelfern gesellt haben, hat manche überrascht. Bei der SVP denken sie, dass sie die Schweiz verkörpern würden. Aber in Wirklichkeit kommt der Schweizer in den Grünen zu sich selbst: ein bisschen käuflich, ein bisschen feig, aber dafür immer unterwegs mit erhobener Nase.

Selbstverständlich trägt man in der Schweiz auch nur widerwillig die Sanktionen mit. Wo fühlt sich der Oligarch besonders wohl? Richtig, am Genfer See. Praktischerweise bringt die Schweiz alles mit, was der russische Oligarch schätzt: urige Chalets, teure Uhren, viele Millionäre, mit denen er sich messen kann, und gemäßigte Temperaturen, die seiner Körperfülle entgegenkommen. Die Mädels gibt’s obendrauf.

Wie schade wäre es, diese lukrative Beziehung aufs Spiel zu setzen, nur weil die Amerikaner darauf drängen. Dass man den Weg-gefährten des russischen Diktators andernorts die Häuser und Jachten konfisziert, gilt in den einschlägigen Publikationen des Landes als himmelschreiendes Unrecht. Muss man noch erwähnen, dass Putins Freundin Alina Kabajewa unter allen Ländern der Welt die Schweiz als bevorzugten Überwinterungsort gewählt hatte? Wie man liest, besitzt sie sogar die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Wenn sie in der Schweiz sagen würden: Seht her, uns gehen die eigenen Interessen über alles – das würde man verstehen. Nicht gut finden, aber verstehen. Aber so ist der Schweizer nicht. Er will gleichzeitig als guter Europäer gelten, dem die Werte des Westens am Herzen liegen. Also kleidet er seine Weigerung, Bedrängten zur Hilfe zu kommen, in den Mantel der Rechtschaffenheit.

Wer weiß, heißt es jetzt, vielleicht ist man noch einmal dankbar, dass sich die Schweiz herausgehalten hat, wenn man einen neutralen Verhandlungsort braucht. Hat es sich nicht schon im Dritten Reich als Segen erwiesen, dass es ein Land in der Mitte des Kontinents gab, in dem die Nazis nichts zu sagen hatten?

Beim Dritten Reich landet man unweigerlich, wenn man mit Schweizern redet. Die Hunderttausende, die man angeblich vor der Verfolgung gerettet hat, waren bei Licht besehen nur mehrere Tausend. Lieber als jüdische Flüchtlinge waren einem ohnehin jüdische Vermögen. Leider hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg dann vergessen, dass auf den Konten beträchtliche Guthaben lagerten, deren Besitzer als verschollen galten. Es war übrigens die Credit Suisse, die sich auch beim Vergessen der „nachrichtenlosen Vermögen“ besonders hervortat.

Dass die Sache aufflog und in einem Milliardenvergleich mit der Jewish Claims Conference endete, verdankte sich einem Zufall. Ein Nachtwächter der Schweizerischen Bankgesellschaft, dem bei einem Kontrollgang Akten aufgefallen waren, die man zum Schreddern vorgesehen hatte, nahm einige Dokumente an sich und übergab sie einer jüdischen Organisation in Zürich. Dass sich der Wachmann anschließend nur durch Asyl in den USA vor der Verfolgung durch die Schweizer Behörden wegen Verletzung des Bankgeheimnisses retten konnte, rundet die Sache auf bezeichnende Weise ab.

Die Schweizer leben in der Vorstellung, dass es sie nichts angeht, wenn ein Land den Nachbarn überfällt. Sollte der Russe morgen, wie angekündigt, Ostdeutschland übernehmen, dann stellt man in den Geschäftsbeziehungen eben auf Rubel um. Wer weiß, vielleicht haben sie recht. Auch Hitler war die Schweiz letztlich zu unbedeutend, um einzumarschieren. Die Schweizer Legende will es, dass der Führer vor der Alpenfestung zurückschreckte. Die Wahrheit ist: Er bekam auch so, was er wollte.

© Silke Werzinger

„Letzte Generation“ vor Gericht: So fing es bei der RAF auch an

Das Gerede von der „Klima-RAF“ sei Unsinn, heißt es, man könne die „Letzte Generation“ nicht mit den Extremisten der 70er Jahre vergleichen. Die Verachtung des Rechtsstaats kommt einem allerdings seltsam vertraut vor.

Im Januar 1971 stand der Kommunarde Fritz Teufel in München vor Gericht. Verglichen mit dem, was noch kommen sollte, ging es um vergleichsweise harmlose Delikte. Die Staatsanwaltschaft legte Teufel, der sich bei den Achtundsechzigern einen Namen als Politclown gemacht hatte, die Mittäterschaft beim Bau eines Brandkörpers zur Last. Der Brandsatz war in einem Hydranten des Münchner Amtsgerichts entdeckt worden. Allein technische Fehler hätten eine Zündung verhindert, stellte die Strafkammer fest.

Obwohl Teufel eine Tatbeteiligung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, verurteilte ihn das Gericht zu zwei Jahren Haft. Die Urteilsverkündung endete im Tumult. „Feuer unterm Richterarsch verkürzt den langen Marsch“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, skandierten die im Gerichtssaal befindlichen Sympathisanten, worauf der Zuschauerraum von einer Hundertschaft Polizei geräumt wurde.

„Erich, ich will deinen Seich heute nicht mehr hören und möchte jetzt gehen“, erklärte im Anschluss auch der Angeklagte an die Adresse des Richters gewandt. Der Bitte wurde entsprochen, der Rest der Urteilsbegründung fand dann ohne Publikum und Beschuldigten statt.

So begann das Kapitel „die Achtundsechziger und die Justiz“. Was eher heiter startete („Angeklagter, erheben Sie sich“, „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“), schlug schon bald in offene Verhöhnung und Ablehnung um. Dass der Rechtsstaat der verlängerte Arm des Repressions- systems sei, das es zu beseitigen gelte, war fortan fester Bestandteil linker Rhetorik.

Schon vier Jahre nach Teufels Verurteilung, bei dem Stammheim-Prozess gegen die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe, waren nur noch Hass und Verachtung sichtbar. Wer sich einen Eindruck von der Atmosphäre im Gerichtssaal verschaffen will, dem sei der Film empfohlen, den der Regisseur Reinhard Hauff nach den Gerichtsprotokollen (und einem Skript von Stefan Aust) gedreht hat.

Das Vergangene ist so fern, aber auf gespenstische Weise auch wiederum nah. In Frankfurt mussten sich im Februar fünf Aktivisten der „Letzten Generation“ wegen Nötigung verantworten. Sie hatten sich von einer Autobahnbrücke abgeseilt und so die Vollsperrung eines Autobahnabschnitts herbeigeführt.

Statt sich zur Sache einzulassen, zogen die Angeklagten den Prozess mit Anträgen zu gendergerechter Sprache sowie Vorträgen über Klimaschutz und Polizeigewalt in die Länge. Unterstützer unterbrachen immer wieder mit Beifall und Gelächter die Sitzung, die Pausen nutzten sie für Yoga-Übungen.

Seinen Höhepunkt erreichte das Verfahren mit einer Erklärung des Angeklagten Hauke L.: „Gerichte sind widerliche, ekelhafte, menschenverachtende Scheißmaschinen, die täglich Menschenleben zerstören. Ich verachte euren Scheißverein und dieses Scheißsystem zutiefst. Ich würde jetzt einfach gehen, wenn da nix dagegenspricht.“ Das hätten die Angeklagten in Stammheim nicht schöner sagen können.

Die meisten politischen Beobachter sind sich einig, dass es Unsinn sei, die Klimaaktivisten in die Nähe der RAF zu rücken. Ich war bislang der gleichen Meinung. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Kleber und Sprengstoff. Aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob wir nicht Zeugen einer Entwicklung werden, die wir kennen. Auch die RAF hat nicht mit Erschießungen und Sprengstoffattentaten begonnen, sondern mit Flugblättern und Aufrufen zum zivilen Ungehorsam.

Am Anfang der radikalen Linken stehen empfindsame junge Menschen, deren Idealismus erst in Verzweiflung und dann in Schießwut umkippt. Andreas Baader war immer ein Tunichtgut, der nur auf Krawall aus war. Aber die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin oder die Journalistin Meinhof trieb die Überzeugung an, für eine gerechte Sache zu streiten. Meinhof war übrigens ebenfalls eine eher leise, zurückhaltend auftretende Person.

Dass man für höhere Ziele streitet, die einen normalen Bewertungsmaßstäben entheben, diese Überzeugung findet sich auch bei der „Letzten Generation“. Weniger rüde als sein Kamerad Hauke L., aber ebenso entschlossen äußerte sich ein Mitstreiter in Heilbronn über die irdische Gerichtsbarkeit. „Für mich zählt nicht das Urteil von heute, für mich zählt das Urteil der Geschichte“, verkündete er, nachdem ihn das Gericht Anfang März zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt hatte.

Das ist ein bemerkenswerter Satz, über den es sich nachzudenken lohnt. Wer davon überzeugt ist, dass er nur seinem Schöpfer beziehungsweise der Geschichte gegenüber verantwortlich ist, hat jedenfalls gedanklich schon mal ein paar Bremsen gelöst, die normalerweise vor kriminellen Handlungen schützen.

Mit der Klimakrise könne man nicht verhandeln, lautet ein beliebter Satz. In der „Süddeutschen“ las ich den Satz einer Aktivistin: „Die Klimakrise lässt keinen Kompromiss zu.“ Es liegt in der Logik der Sache, dass man zu immer entschiedeneren Maßnahmen greifen muss, wenn die Gegenseite kein Einsehen zeigt. Jedes Zurückweichen wäre ein Zeichen der Schwäche, jedes Entgegenkommen Verrat.

Es heißt, Geschichte wiederhole sich nicht. Manches kommt einem allerdings wahnsinnig bekannt vor. Da sind die Anwälte, die sich nicht nur als Rechtsbeistand, sondern als Mitstreiter verstehen. Die Sprecherin und Mitbegründerin der „Letzten Generation“, Carla Hinrichs, lässt sich von einem Juraprofessor vertreten, der wie die Anwälte der 70er Jahre keine Scheu vor gewagten Analogien hat.

„Meine Generation hat ihre Eltern gefragt: ,Habt ihr den NS-Staat geduldet oder gar unterstützt, oder habt ihr Spielräume genutzt, um ihn zu bekämpfen‘“, schmetterte der Jurist dem Richter entgegen. „Diese Frage stellt sich mit der noch größeren Katastrophe, die auf uns zukommt, neu, und sie wird auch Ihnen, Herr Präsident, gestellt werden.“ Wie gesagt, die Klimakrise kennt keine Kompromisse, auch nicht bei der Wahl von Nazi-Vergleichen.

Es gibt auch wieder eine ausgeprägte Sympathisantenszene. In der Politik ist die Zuneigung zu den Aktivisten etwas erkaltet. Dafür drückt man ihnen in den Medien und der Kultur weiter die Daumen. Die Methoden der Extremisten seien abzulehnen, sicher, erklärten die Unterstützer vor 50 Jahren. Aber die Anliegen, die seien doch ehrenwert! Und war es nicht der Staat, der die jungen Menschen durch seine Unnachgiebigkeit in die Isolation und damit die Radikalisierung trieb? Dass die Terroristen im Grunde Opfer der Verhältnisse gewesen seien, ist eine These, die der grüne Bundestagsabgeordnete und ehemalige RAF-Anwalt Hans-Christian Ströbele bis ins hohe Alter vertrat.

Vier bis fünf Jahre geben die Aktivisten uns noch, danach ist es angeblich zu spät, weil eine Spirale von Kipppunkten das Leben auf dem Planeten unerträglich macht. Möglicherweise bleiben uns wirklich nur noch wenige Jahre, das Ruder rumzureißen, wer weiß.

Prognosen über mehrere Jahre sind allerdings enorm fehleranfällig. Im Netz kursierte die Woche ein Tweet, den Greta Thunberg im Juni 2018 abgesetzt hatte. Sie zitierte darin die Vorhersage eines Klimaforschers, wonach die gesamte Menschheit bis Juni 2023 ausgelöscht sei, wenn die Welt nicht sofort aufhöre, fossile Brennstoffe zu nutzen. Angeblich hat Thunberg angefangen, ihre alten Tweets zu löschen. Das ist wie bei den Zeugen Jehovas, die auch mehrfach den Weltuntergang neu festlegen mussten, weil sich das Ende der Welt immer wieder verzögerte.

Was geschieht, wenn man der Überzeugung ist, dass die Menschheit nur noch ein Schritt vom Abgrund trennt? Ich würde sagen, es ändert den Blick auf alles. Man sieht die Debatten im Bundestag und möchte nur noch schreien. Man hört die Politiker reden und denkt: Habt ihr denn gar nicht begriffen, um was es geht?

Die Ersten haben bereits zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Ich rede nicht vom Kleben, wobei auch das große Überwindung kostet. Teile der Szene sind schon weiter, indem sie sich jeden Kinderwunsch versagen. Wenn die Alternative das Aussterben der Menschheit ist, dann relativiert sich vieles, auch die Wahl der Mittel.

© Michael Szyszka

„Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“​: Warum die SPD in Berlin die Grünen verlassen hat

Die Grünen in Berlin können es nicht fassen: Die Sozialdemokraten haben sie verlassen – für einen 50-jährigen Versicherungsmakler mit Glatze und einem Hund, der Casper heißt. Was sagt der Therapeut?

Trennungen sind schmerzhaft. Erst recht, wenn man der Verlassene ist. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben. Es heißt „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“ – das ist der Satz, mit dem sich meine erste Frau von mir verabschiedete.

Ich habe überlegt, ob ich den Grünen in Berlin ein paar Exemplare schicken soll. Vielleicht hilft es ihnen, über den ersten Schock hinwegzufinden. Es ist immer die gleiche Geschichte: Bis eben noch schien alles in Ordnung. Und dann, bäm, liegt die Beziehung in Scherben. Statt, wie vereinbart, die sogenannte Fortschrittskoalition fortzusetzen, hat die SPD plötzlich alle Gespräche abgebrochen, um sich der CDU an den Hals zu werfen. Das tut schrecklich weh.

Ich gehe auf den Twitteraccount von Renate Künast, und ich sehe die Verzweiflung über die Zurückweisung. Die Fassungslosigkeit, vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Auch das Unverständnis, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

„Abstoßend“ sei das Verhalten der SPD, schreibt die grüne Bundestagsabgeordnete aus Berlin. Kurzes Atemholen, dann der nächste Ausbruch: Die Sozialdemokraten erdreisten sich, den Grünen in einer Trennungserklärung die Schuld zuzuschieben? Ha! „Eine SPD, die in 34 Jahren in Berlin nichts hingekriegt hat, alles versemmelt von BER bis Schule, selbst hochzerstritten, schreibt so ein Papier der Niedertracht.“ SHAME ON YOU!

So geht es über Tage. Dazu immer wieder Retweets von Unterstützern („Es gibt keine rationale Erklärung für das Verhalten der SPD Berlin.“ „Ich habe selten mehr Heuchelei von einer Politker*in gehört. Ein Neuanfang hätte bedeutet, dass Franziska Giffey ihren Hut nimmt und komplett zurücktritt – und nichts anderes.“). Ich habe über meine Ex-Frau nicht anders geredet. Was habe ich sie verflucht! Allerdings war ich damit nicht auf Twitter.

So ist es meist: Den Zurückgewiesenen trifft der Trennungsentschluss aus heiterem Himmel. Als mir meine Frau eröffnete, dass sie sich von mir scheiden lassen wolle, war ich wie vom Donner gerührt. Sicher, wir hatten unsere Streitigkeiten gehabt. Aber nichts hatte mich auf das vorbereitet, was kommen würde.

Die erste Reaktion ist Unglaube. Dann kommt die Wut. Dann die Hoffnung, alles könnte sich als großes Missverständnis erweisen. Dann Resignation. Ganz am Ende steht so etwas wie Akzeptanz. Bei den Grünen schwanken sie noch zwischenUnglaube und Wut. Was die Traumabewältigung angeht, stehen sie ganz am Anfang.

Wäre ich Grüner, würde ich mir ebenfalls den Kopf zerbrechen, was in die SPD gefahren ist. Die SPD steigt mit dem Wechsel zur CDU ja nicht nur aus dem Fortschrittsprojekt aus, das sie eben noch selbst gefeiert hat. Sie muss auch aus dem Roten Rathaus ausziehen. Der Verlust einer geliebten Immobilie ist leider bei vielen Paaren eine unabwendbare Folge der Trennung.

Sich freiwillig in die Arme einer anderen Partei begeben, wenn man die Macht behalten könnte: Wie verrückt ist denn das?, fragen sie in der Grünen-Spitze. Und die Mehrheit im Bundesrat hat man auch noch für immer gegen sich. Ja, sind sie denn bei der SPD von allen guten Geistern verlassen!

Aber so ist das, wenn einer sich entschieden hat zu gehen: Dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Wenn der Ärger über den Partner so groß ist, dass man seinen Anblick keinen Tag länger erträgt, dann will man nur noch weg, egal was es kostet.

Ich glaube, der Beschluss der SPD-Führung, die Koalition mit den Grünen aufzukündigen, ist in seiner Tragweite noch nicht wirklich erfasst. Es geht ja um mehr als einen Wechsel des Koalitionspartners. Der Entschluss markiert das Ende einer Ära.

Bis gestern galt Rot-Grün als natürliches Bündnis. Wo immer sich die Möglichkeit bot, eine sogenannte Zukunftsallianz zu schmieden, reichten die Sozialdemokraten den Grünen die Hand. Dass man aus einer Koalition mit den Freunden von der Ökopartei aussteigt, obwohl man hätte weiterregieren können, das hat es in 40 Jahren nicht gegeben.

Und die Alternative ist ja auch nicht so, dass jeder sagen würde: Klar, da muss man seinem Herzen folgen. Meine Frau hat mich damals für einen 15 Jahre jüngeren Mann verlassen, erfolgreicher Jurist, Kulturmensch durch und durch (man hatte sich über das Abonnement fürs Deutsche Theater in Berlin kennengelernt). Das habe ich verstanden. Nicht gebilligt, aber verstanden.

Aber der Abbruch einer langjährigen politischen Beziehung wegen eines 50-jährigen Versicherungsmaklers aus Spandau, der Heinrich Lummer zu seinen Vorbildern zählt und dessen Hund Casper heißt? Man fragt sich unwillkürlich: Was ist denn da vorgefallen?

Der Therapeut hätte gewusst, dass es auf Dauer nicht gut gehen kann. Wenn einer der beiden Partner den Eindruck hat, dass er in der Beziehung nur draufzahlt, wächst der Frust. Bei der Wiederholungswahl vor vier Wochen haben alle Parteien links der Mitte verloren. Aber für die SPD war es ein Desaster. Gerade mal 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, so tief sind die Sozialdemokraten in Berlin in 70 Jahren nicht gefallen.

Es war immer ein Missverständnis, dass der sozialdemokratische Wähler für grüne Botschaften empfänglich sei. Das Bioprogramm mit Lastenfahrrad, Genderstern und Antirassismusanschluss mag in der Altbauetage in Charlottenburg der Hit sein. Aber das Publikum, das dort wohnt, hat ohnehin schon vor Jahren zu den Grünen rübergemacht. Außer ein paar Jusos, die sich das WG-Leben von ihren Eltern in Stuttgart finanzieren lassen, ist da nichts mehr zu holen.

Wer heute noch sozialdemokratisch wählt, lebt in der Regel in Gegenden, die Grüne nur aus der Sozialreportage kennen. Oder im Vorort, also dem Albtraum des aufgeklärten Großbürgers aus Schottergarten, Nachbarschaftsterror und rassistischem Dünkel.

Der Sozialdemokrat im Außenbezirk fährt nicht Fahrrad, jedenfalls nicht, wenn er zur Arbeit muss. Er wird auch nie verstehen, warum man Clan-Kriminalität jetzt nicht mehr „Clan-Kriminalität“, sondern „familienbasierte Kriminalität“ nennt. Wenn er den Eindruck gewinnt, dass das wichtigste Projekt des Senats statt der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Schulen und Behörden die Stilllegung einer Einkaufsstraße in Berlin-Mitte ist, dann sagt er sich: Macht mal, aber ohne mich.

Man kann diese Verweigerungshaltung sehr schön am Farbwechsel in den Wahlkreisen sehen. Die Innenstadtbezirke sind auch nach der Wahl am 12. Februar mit wenigen Ausnahmen grün. Aber außerhalb des S-Bahn-Rings, also da, wo sich Innenstadt und Vorort trennen, ist alles, was vorher noch rot war, nun schwarz gefärbt.

Am stärksten war die SPD immer dann, wenn sie Leute an der Spitze hatte, in denen sich die Wähler wiedererkannten. Gerhard Schröder war so jemand, der mühelos den Kontakt nach unten wie oben herstellen konnte. Auch die Grünen verfügen durchaus über volkstümliche Charaktere. Tarek Al-Wazir in Hessen ist so jemand, Winfried Kretschmann und Boris Palmer in Baden-Württemberg. Aber gerade in den Großstädten dominiert oft noch der grüne Urtyp, dessen Selbstbewusstsein nur vom Sendungsbewusstsein übertroffen wird.

Dummerweise hat die SPD an der Seite der Grünen alles zu verachten gelernt, was sie einmal groß gemacht hat. Die SPD war ursprünglich nicht gegen Technik, sie war auch nicht gegen Atomstrom oder Wachstum. Dass Atomkraft des Teufels sei, Wachstum gefährlich und erst ein ökologisch vorbildliches Leben ein erstrebenswertes Leben, das haben sie sich bei den Grünen abgeschaut. Leider sind ihnen bei diesem Bewusstseinswandel die eigenen Wähler abhandengekommen.

Was sagt nun der Therapeut, warum die Sozialdemokraten in Berlin mit den Grünen Schluss gemacht haben? Wie heißt es so schön: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Sie ertragen bei der SPD einfach die Besserwisserei der grünen Apostel nicht mehr, diese unendliche Arroganz und Hochnäsigkeit. Sie sagen sich: besser vier Jahre an der Seite eines etwas mediokren CDU-Bürgermeisters als eine weitere Wahlperiode Belehrung und Zurechtweisung.

So sehr mein Herz mit den Verlassenen schlägt: Ich kann es Franziska Giffey und ihren Leuten nicht verdenken.

© Sören Kunz

Melden, beschuldigen, einschüchtern: Rot-Grün ist die Macht zu Kopf gestiegen

Bei Rot-Grün ist ihnen die Macht zu Kopf gestiegen. Vielen Vertretern reicht es nicht mehr, wichtige Ministerien zu besetzen. Sie möchten auch mit Leuten aufräumen, die ihnen schon lange ein Dorn im Auge sind

Ist Hans-Georg Maaßen ein Holocaust-Verharmloser? Das ist eine sehr ernste Frage. Von der Antwort hängt ab, ob der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ein Fall für den Staatsanwalt wird oder nicht.

Eigentlich wollte ich zur Causa Maaßen nichts mehr schreiben. Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich vor vier Wochen zu Papier gebracht. Dachte ich. Aber dann las ich, dass sie im grünen Teil der Regierung überlegen, Maaßen seine Beamtenpension zu kürzen. Maaßen habe immer wieder antidemokratische Positionen verbreitet und den Holocaust verharmlost, das könne nicht folgenlos bleiben. So lässt sich der Obmann der Grünen im Innenausschuss, Marcel Emmerich, im „Spiegel“ zitieren.

Die Leugnung oder Verharmlosung des Judenmordes ist in Deutschland eine Straftat, die empfindliche Strafen nach sich zieht. Sie wird auch entsprechend verfolgt. Der ehemalige RAF-Anwalt Horst Mahler saß wegen fortgesetzter Leugnung des Holocaust über zwölf Jahre in Brandenburger Gefängnissen. Nicht einmal die Tatsache, dass ihm zwischenzeitlich beide Unterschenkel abgenommen werden mussten, führte zu einer vorzeitigen Entlassung.

Herr Emmerich beruft sich bei Nachfrage, wie er zu seiner Einschätzung komme, auf ein anderes Mitglied der Bundesregierung, den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. Herr Klein hat derzeit alle Hände voll im eigenen Haus zu tun, sollte man meinen. Die oberste Antisemitismusförderin der Bundesregierung sitzt direkt gegenüber im Kanzleramt. Nachdem Claudia Roth erst der Documenta, der größten judenfeindlichen Kunstschau in Deutschland seit 1945, eine Unbedenklichkeitserklärung ausstellte, steht jetzt die Förderung eines ehemaligen Al-Qaida-Mannes an. 100000 Euro aus dem Hauptstadtkulturfonds für eine Buchmesse, zu deren Kurator der ausgewiesene Israelfeind Mohamedou Ould Slahi Houbeini berufen wurde: Das wäre doch ein lohnendes Thema für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung

.Aber lieber schaut Herr Klein, was Leute außerhalb der Regierung von sich geben, und da ist er bei Hans-Georg Maaßen fündig geworden. Herr Klein hat einen Tweet gelesen, in dem Maaßen davon sprach, dass Teile der Linken einen „eliminatorischen Rassismus gegen Weiße“ verfolgen würden. Ich halte das für groben Unsinn. Rassismus gegen Weiße mag es geben. In der Realität bleibt dieser Rassismus allerdings in der Regel ohne Folgen.

Aber ist die Behauptung eine Verharmlosung des Holocaust? Doch, ist sie, sagt Herr Klein, und zwar wegen des Wortes „eliminatorisch“. Weil der Holocaust-Forscher Daniel Goldhagen 1995 in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ von „eliminatorischem Antisemitismus“ gesprochen habe, sei Maaßens Wortwahl die „Übernahme von Vokabular, das zur Beschreibung der nationalsozialistischen Verbrechen geprägt wurde“. That’s quite a stretch, würde man im Englischen sagen. Mit dieser Form von Hermeneutik kann man jeden umstandslos zum Nazi erklären. Eine noch wildere Konstruktion ist es dann, von einer Meinungsbekundung zu einer Tatsachenbehauptung zu kommen, die anschließend unwidersprochen in einem großen Nachrichtenmagazin steht.

Mein Eindruck ist, bei Rot-Grün ist ihnen die Macht etwas zu Kopf gestiegen. Es reicht führenden Vertretern nicht, Ministerien zu besetzen und die Leitlinien der Politik zu bestimmen. Sie möchten auch mit Leuten aufräumen, die ihnen schon lange ein Dorn im Auge sind. In gewisser Weise kann ich das verstehen: Warum sich mit dem politischen Feind argumentativ auseinandersetzen, wenn man ihn anderweitig erledigen kann?

Die beliebteste Form der Erledigung ist immer noch der Vorwurf, jemand stehe außerhalb der Verfassung. Gerade hat das Innenministerium ein „Demokratiefördergesetz“ auf den Weg gebracht, dessen wesentliches Ziel es ist, die Finanzierung entsprechender Vorfeldorganisationen zu „verstetigen“, wie es dort heißt. Wer sich gegen „Hass im Netz“ engagiert, „gegen Rassismus, Antiziganismus oder Islam- und Muslimfeindlichkeit“ darf künftig dauerhaft mit Überweisungen aus der Staatskasse rechnen.

Längst beschränkt sich die Förderung auch nicht mehr auf den klassischen Kampf gegen Rechtsextremismus. Für Aufsehen sorgte die Amadeu Antonio Stiftung mit der Einrichtung einer Meldestelle gegen Antifeminismus. Ein vom Bundesfamilienministerium geförderter Verein, der dazu aufruft, Bürger anzuschwärzen, weil sie Gendersprache ablehnen oder der Meinung sind, dass Genderstudies Geldverschwendung seien? Selbst der „Tagesspiegel“, der vermutlich über die wokeste Redaktion Deutschlands verfügt, mochte da nicht mitgehen.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist, was Meldungen angeht, einschlägig bewandert. Vor vier Jahren fiel sie mit einer Broschüre auf, in der Erziehern Tipps an die Hand gegeben wurden, woran man rechte Kinder erkenne. So sollten die Pädagogen darauf achten, ob ein Kind im Morgenkreis schweigsam und passiv sei. Das könne ein Zeichen für ein völkisches Elternhaus sein, da rechte Eltern viel Wert auf Gehorsam legten. Bei Mädchen könnten außerdem Zöpfe und Kleider ein Hinweis auf eine verdächtige Gesinnung sein.

Dass Politiker dazu neigen, sich die Sache einfach zu machen: Daran hat man sich gewöhnt. Aber dass auch immer mehr Journalisten das Verdächtigungsspiel mitspielen, finde ich etwas deprimierend. Neulich saß der ehemalige FOCUS-Chefredakteur Ulrich Reitz im „Presseclub“. Es ging um die neue Migrationskrise. Reitz sprach vom Schleuserstaat Serbien als „Einfallstor“, worauf ihm die „Spiegel“-Redakteurin Ann-Katrin Müller entgegenhielt, die Wortwahl finde sie superschwierig. Das klinge so, als würden die Hunnen kommen und die Deutschen überfallen. Als Reitz darauf beharrte, dass er von Einfallstor und nicht von Hunnen gesprochen habe, antwortete Müller, für sie klinge das aber gleich. Man wisse ja, was Sprache mache.

So funktioniert das heute: Es reicht, dass ein Wort als problematisch empfunden wird, damit es problematisch ist. Und wenn es nicht problematisch genug ist, erfindet man halt etwas dazu.

Es gibt ein spezielles Verdächtigungsvokabular, aus dem man sich bedienen kann. „Zündeln“ ist zum Beispiel ein beliebtes Wort, um jemandem unlautere Absichten zu unterstellen. Verdächtige Zeitgenossen „raunen“ auch oder „fischen am rechten Rand“, indem sie „Stimmungsmache“ beziehungsweise „Populismus“ betreiben. Ein weiterer Signalbegriff ist „Diskursverschiebung“, gerne kombiniert mit dem Universalwörtchen „gefährlich“.

Gefährlich ist im Zweifel schon ein kritischer Artikel über eine Energieökonomin, die sich bei ihren Vorhersagen oft irrt. Wenn die „Zeit“ über Claudia Kemfert schreibt, dass sie die Wissenschaft manchmal zugunsten der Politik vernachlässige, bestärkt das aus Sicht von Luisa Neubauer „die gefährliche Tendenz, Expertinnen in der Öffentlichkeit Kompetenzen abzusprechen“. Ein klarer Fall für die Meldestelle der Amadeu Antonio Stiftung, wenn nicht alles täuscht.

Bis vor Kurzem galt es bereits als Verharmlosung, wenn man darauf hinwies, dass sich ganz links und ganz rechts mehr zu sagen haben, als vielen Linken lieb ist. Ich weiß noch, welchen Verwünschungen ich mich ausgesetzt sah, als ich bei einer „Maybrit Illner“-Sendung auf die Hufeisentheorie zu sprechen kam, nach der sich die Extreme annähern. Das immerhin hat sich mit Sahra Wagenknechts neuer Sammlungsbewegung erledigt.

Darf man als Journalist kein klares Wort mehr wagen? Natürlich darf man das. Ich lasse meine Leser auch nicht im Unklaren, was ich zu einzelnen Personen denke. Aber meine Urteile sind erkennbar subjektiv. Man kann meine Schmähungen oder Beleidigungen für unangebracht halten – sie erheben keinen Wahrheitsanspruch und zielen auch nicht darauf, Leute aus dem Verkehr zu ziehen.

Ich habe noch nie Listen von Leuten angelegt, die mir nicht passen, oder andere aufgefordert, solche Listen zu erstellen. Wobei, vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee. Eine Liste von Journalisten, die sich wie die „Spiegel“-Heulboje Ann-Katrin Müller Woche für Woche in den Dienst der grünen Sache stellen, das würde immerhin zu einer gewissen Klarheit beitragen.

© Silke Werzinger

Ich habe Schwarzer bewundert – jetzt sehe ich bei jedem toten Soldaten ihr Lachen

Worum geht es Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit ihrem Friedensaufruf? Um ein Überleben der Ukraine? Nichts könnte die beiden weniger interessieren. Nein, es geht ihnen zunächst einmal um sich selbst.

Ich habe länger überlegt, ob ich diese Kolumne schreiben soll. Ich schreibe normalerweise nicht schlecht über Leute, über die bereits halb Twitter-Deutschland hergefallen ist. Außerdem war Alice Schwarzer, um die es hier gehen wird, eine Heldin meiner Kindheit.

Ich war dreizehn Jahre alt, als sie in mein Leben trat. Als ich meiner Mutter wie jede Woche die Wäsche reichte, sah sie mich kurz an, gab mir dann das Wäschebündel zurück und sagte: „Ab jetzt bist du alt genug, für dich selbst zu sorgen.“ Damit hatte die Lektüre der „Emma“ (meine Mutter war Abonnentin der ersten Stunde) auch in meinem Elternhaus die Verhältnisse umgekrempelt.

Ich verdanke Alice Schwarzer nicht nur eine ordentliche feministische Erziehung. Ich gehöre darüber hinaus zu einer Generation von Männern, die umstandslos mitemanzipiert wurden. Was Hausarbeit angeht, kann ich bis heute sehr pingelig sei. Expertentum und Pedanterie liegen nah beieinander.

Anders als viele meiner Altersgenossen habe ich Schwarzer immer bewundert – für ihren Mut, ihre Frechheit, auch ihren Starrsinn. Ohne Schwarzer hätte es den Feminismus so in Deutschland nicht gegeben, jedenfalls nicht so schnell. Sie hatte ja außerdem meist recht. Sie sehen, mich verbindet ein starkes sentimentales Band mit dieser Frau.

Aber dann stieß ich vor zwei Wochen beim Surfen im Netz auf ein Video, in dem sie neben Sahra Wagenknecht stand und ein „Manifest für den Frieden“ vorstellte. Beide Frauen lachen in die Kamera. Sie knuffen und herzen sich. Vor allem Schwarzer scheint bester Stimmung. „Manche von euch sind vermutlich überrascht, mich hier mit Sahra Wagenknecht Schulter an Schulter zu sehen“, sagt sie strahlend in die Kamera.

Mir geht das Bild der lachenden Alice seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Immer wenn ich Meldungen aus der Ukraine lese, sehe ich diesen Ausbund an guter Laune. Es ist wie ein Fluch. Ich lese über gefallene Soldaten oder verschleppte Kinder – und zack ploppt das Bild der fröhlichen Alice vor meinem geistigen Auge auf.

Worüber lacht Frau Schwarzer? Was verschafft ihr so gute Laune? Sie selbst sagt, dass es einen sehr ernsten Grund für ihre Intervention gebe, nämlich das Sterben und die Zerstörung in der Ukraine. Das sind ihre Worte. Aber sie stehen in eigenartigem Kontrast zu ihrem sonnigen Auftritt.

Ich glaube, was sie in dem Moment mit einer Freude erfüllt, die den ganzen Raum erhellt, ist die Aussicht, endlich wieder im Zentrum des medialen Interesses zu stehen. Alice Schwarzer ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, welchen Wert es hat, wenn sie sich mit Sahra Wagenknecht zusammentut. Zwei Supernovas des Ich-Geschäfts gegen die Waffendeppen der Bundesregierung – da kann selbst das Talkshowduo Welzer / Precht einpacken!

Wir sind alle gegen den Krieg. Ich kenne niemanden, der sich darüber freut, dass in der Ukraine das Sterben weitergeht. Selbst die sogenannten Kriegstreiber wünschen sich ein Ende des Leids. Ich will sogar doppelt so viel Frieden wie Wagenknecht und Schwarzer. Ich war schon Teil der deutschen Friedensbewegung, da ist Frau Wagenknecht noch mit dem FDJ-Holzgewehr um den Sandkasten gelaufen.

Ich verstehe auch, dass Leute Angst haben. Putin ist alles zuzutrauen. Wird er als Nächstes Dresden überfallen, falls sich Deutschland nicht raushält, wie seine Propagandisten verkünden? Niemand weiß es.

Der Punkt, an dem die Meinungen auseinandergehen, ist die Frage, wie man das Töten beendet. Leute wie ich sind der Meinung, dass es erst Aussicht auf Frieden gibt, wenn man die Einsatzfähigkeit der russischen Armee so weit dezimiert hat, dass sie für die nächsten fünf, sechs Jahre keinen weiteren Angriffskrieg führen kann. Das deckt sich zufällig mit der amerikanischen Strategie in der Ukraine.

Die Friedensfreunde, die gegen mehr Waffen für die Ukraine sind, wollen es lieber nicht auf einen Showdown ankommen lassen. Sie glauben, dass man zu einem Waffenstillstand finden kann, wenn man die Hand nach Moskau ausstreckt. Was in fünf Jahren ist, sieht man dann, sagen sie. Ich halte beide Standpunkte für legitim, auch wenn ich nicht erkennen kann, dass der Mann im Kreml Interesse an Verhandlungen zeigt.

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht geht es aber gar nicht um den Krieg, das ist der Witz dabei. Sie sagen zwar, wie sehr ihnen die Ukraine am Herzen liege. Aber das ist Gerede. Ein paar Beileidsbekundungen, die man sich abquetscht, damit der Friedensappell nicht ganz so trostlos wirkt. Ihnen geht es darum, eine neue politische Bewegung zu formen. Endlich wieder ganz vorne in der ersten Reihe mitspielen: Das ist es, was ihr Herz höherschlagen lässt.

Ich habe vor ein paar Tagen einen Kurzfilm über die vielleicht größte Tragödie dieses Krieges, die massenhafte Deportation von Kindern, gesehen. Die Verschleppung ukrainischer Kinder in das russische Hinterland hat biblische Ausmaße genommen. Zehntausende wurden ihren Eltern entrissen und Adoptiveltern in Russland übergeben. Sie bekamen neue Namen und Pässe, und wie es aussieht, wird es für sie nie mehr einen Weg zurück zu ihren Familien geben.

In dem Film sieht man, wie vermummte Soldaten Kindergärten und Krankenhäuser durchkämmen. Sie gucken unter jedes Bett und in jeden Schrank, ob sich da jemand versteckt hält. Ist davon an irgendeiner Stelle im „Manifest für den Frieden“ die Rede? Nein, natürlich nicht. Dann müsste man sich ja auf eine Diskussion über die Natur des Feindes einlassen, mit dem man es zu tun hat.

Ich kann sogar verstehen, wenn Leute sagen, wir sollten uns raushalten, weil wir nichts mit der Ukraine zu schaffen haben. Ich bin dezidiert anderer Meinung. Ich glaube im Gegensatz zu denjenigen, die die Ukraine am liebsten sich selbst überlassen würden, dass Putin nicht haltmacht, wenn er Kiew gefressen hat. Aber es gibt keinen Beistandspakt, nach dem wir zur Hilfe verpflichtet wären. Die Ukraine ist nicht Teil der Nato, sie ist nicht einmal in der EU.

Aber so reden Schwarzer und Wagenknecht nicht. So kalt und herzlos wollen sie dann doch nicht erscheinen. Sie verweisen im Gegenteil auf die Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Gerade aus „Solidarität“ mit der Ukraine müsse man weiteren Waffenlieferungen entgegentreten und die „Eskalation“ der Waffen stoppen. So steht es in ihrem Aufruf. Das ist allerdings eine Form des sprachlichen Sadismus, da ist mir jede Krämerseele lieber.

Wie soll ich meine Gefühle beschreiben? Ich bin selten wütend, schon gar nicht über Politiker. Ich bin auch so gut wie nie empört. Wenn ich lese, dass jemand als Journalist über eine Äußerung schockiert oder entsetzt sei, denke ich insgeheim: Job verfehlt. Aber in dem Fall spüre in mir so etwas wie Wut aufsteigen, ich kann es nicht leugnen.

Wagenknecht ist für mich eine Machtpolitikerin, die bei allem, was sie tut, vorher kalkuliert, was es ihr bringt. Ich sehe in ihre Augen und ich sehe das schwarze Herz der Leninistin. Aber Schwarzer? Narzissmus und Idealismus gingen bei ihr stets Hand in Hand. Ihr politischer Kampf war immer eng mit dem Interesse an der eigenen Person verknüpft. Jetzt ist nur noch Narzissmus übrig.

Ein Freund sagte, er wünsche sich, Schwarzer und Wagenknecht wären dazu verurteilt, einen Tag russisches Propagandafernsehen zu schauen, diesen Mahlstrom an Lüge, Verleumdung und Vernichtungsfantasien. Aus ihren genozidalen Wünschen machen sie in Moskau gar kein Hehl. Dass man die ukrainischen Frauen vergewaltigen, ihre Kinder versklaven und die Männer alle umbringen müsse, wird dort als kleiner TV-Happen zum Nachmittagstee gereicht.

Aber vermutlich hätte es überhaupt keinen Effekt. Vermutlich würden die zwei Damen aufstehen und sagen, dass sie jetzt erst recht von ihrem Appell überzeugt seien. Das Fehlen jeder Empathie hat einen Vorzug: Es erlaubt einem, völlig unbeeinträchtigt von Mitleid durchs Leben zu schreiten.

© Michael Szyszka

Die feigste Partei Deutschlands? Keine Frage: die Grünen

Keine Partei hat die Selbstabschottung so weit getrieben wie die Grünen. Viele Grüne verkehren nur noch mit Menschen, die so denken wie sie selbst. Das hat Folgen.

Seit zwei Jahren unterhalte ich zusammen mit der Moderatorin Carolin Blüchel eine kleine Talkshow auf FOCUS Online. Sie heißt „Ist das euer Ernst?“ und beschäftigt sich jeden zweiten Donnerstag mit den Themen der Woche. Die ersten 15 Minuten sprechen wir zu zweit über das Weltgeschehen. Dann kommt ein Gast hinzu, um der Sendung den nötigen Tiefgang zu verleihen.

In der letzten Folge war der Klimaaktivist Raphael Thelen zugeschaltet. Wir sprachen über den Kampf gegen die Kohle, das Ende des Kapitalismus und Che Guevara als Vorbild. Ich bevorzuge Gesprächspartner, die eine andere Meinung vertreten als ich. Man will ja weder sich noch das Publikum langweilen. Der Talk mit Thelen hat gut funktioniert, soweit man das anhand der Einschaltquote beurteilen kann: 500000 Zuschauer alles in allem. Dafür muss man als Politiker viele Klinken putzen.

Jede Woche überlegen wir, wen wir als Nächstes einladen sollten. „Wollen wir nicht einmal bei Sven Lehmann anklopfen, dem Beauftragten der Bundesregierung für sexuelle Vielfalt?“, schlug ich neulich vor. „Wir könnten mit ihm über das neue Transsexuellengesetz sprechen, das jetzt kommen soll. Das interessiert die Leute vielleicht.“

„Super Idee“, meinte Carolin und versprach, gleich am nächsten Tag Kontakt aufzunehmen. Dann hörte ich länger nichts, bis sie mich vergangene Woche anrief, und sagte: „Bei Lehmann kommen wir nicht weiter.“ Der Pressesprecher sei von dem Vorschlag sehr angetan gewesen und habe um Terminvorschläge gebeten. Sie habe den Eindruck gehabt, er könne sich einen Auftritt gut vorstellen.

„Und?“, fragte ich.

„Lehmann hat abgesagt, wegen Terminschwierigkeiten.“

„Kann ja mal passieren, dass jemand kurzfristig keine Zeit hat.“

„Ich habe ihm außer dem nächsten Donnerstag und dem übernächsten auch alle weiteren Donnerstage in diesem Jahr als denkbaren Termin genannt.“

Keine Ahnung, was ein Bundesbeauftragter so treibt. Möglicherweise ist der Einsatz für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt so aufreibend, dass einfach keine Zeit für Interviews bleibt, nicht einmal für eine Viertelstunde zwischendurch. Ich kann Lehmann ja leider nicht fragen, weil er bis Ende des Jahres keine Termine frei hat.

Dann fiel mir auf, dass wir schon alle möglichen Politiker in der Show hatten: Karl Lauterbach und Christian Lindner waren zu Gast, Gregor Gysi, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Ralf Stegner. Aber noch nie jemand von den Grünen. Lehmann wäre der erste gewesen.

„Warum lädst du die nicht ein?“, fragte ich Carolin, die sich in der Regel um die Gästeauswahl kümmert. „Hast du etwas gegen grüne Politiker?“

„Ganz im Gegenteil“, erwiderte sie. Sie habe die komplette Parteiprominenz angeschrieben, mehrfach sogar, von Claudia Roth bis zu Toni Hofreiter. „Aber die haben offenbar alle Angst zu kommen. Bis heute nur Absagen.“

Manche Leute behaupten, die Grünen seien die gefährlichste Partei Deutschlands. Ich halte sie eher für die feigste.

Grüne Politiker reden wahnsinnig gern, das ist nicht das Problem. Sie haben auch zu allem eine Meinung. Der Redefluss von Funktionären wie Ricarda Lang ist kaum zu stoppen. Allerdings reden sie am liebsten mit ihresgleichen, also Leuten, die jedem Satz zustimmen können.

Das ist weniger schwer durchzuhalten, als es sich anhört. In den Innenstadtvierteln mit Altbaubestand, in denen Grüne vorzugsweise leben, treffen sie vor allem auf andere Grüne. Wer hier nicht grün wählt, behält es besser für sich oder ist für immer Außenseiter.

Auch bei Veranstaltungen hat man es so eingerichtet, dass man weitgehend unter sich bleibt. Wenn die Böll-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion einlädt, kann man sicher sein, dass nur Menschen anwesend sind, die noch unter schwerstem Alkoholeinfluss den Genderstern sowie die wichtigsten Regeln des Antikolonialismus beherrschen.

Nicht einmal vor der Presse, die normalerweise jedem Politiker das Leben schwer macht, muss man sich als Grüner sonderlich fürchten. Praktischerweise liegt die Parteiberichterstattung über die Grünen mehrheitlich in der Hand von Journalisten, die, wenn sie schon kein Parteibuch besitzen, dann doch Grüne im Herzen sind.

Beim „Spiegel“ zum Beispiel ist Jonas Schaible für die Klimaschutzbewegung zuständig. Ich bin sicher, wenn man Schaible nachts aufweckt und ihn nach Seite 18 des Pariser Klimaabkommens fragt, kann er jeden Satz fehlerfrei aufsagen.

Schaible fand auch die originellste Begründung, warum es total in Ordnung sei, wenn die Grünen in Berlin trotz Wahlschlappe an der Regierung blieben. Die Fixierung auf die Frage, wer an einem Wahlabend gewonnen und wer verloren habe und damit als abgewählt gelte, sei die „Anwendung des journalistischen Neuigkeitskriteriums auf Wahlen“. Die Befassung mit der Schicksalsstunde der Demokratie als Beweis für die Oberflächlichkeit der Medien: Darauf muss man erst mal kommen.

Die Selbstabschottung bleibt nicht ohne Folgen. Wer nur noch auf Menschen trifft, die zu allem nicken, was man sagt, ist ziemlich aufgeschmissen, wenn er wider Erwarten mit Fragen konfrontiert ist, die er nicht hat kommen sehen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Verunsicherung lieferte gerade die grüne Bundestagsabgeordnete Nyke Slawik im Gespräch mit dem YouTuber Tilo Jung.

Slawik gilt als besonders vehemente Kritikerin der Energiepolitik der Bundesregierung. Als Jung sie mit ihrem Abstimmungsverhalten konfrontierte, das in deutlichem Kontrast zu ihren Erklärungen steht, brachte sie das so aus dem Konzept, dass sie minutenlang nach Worten rang. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten, allerdings gingen die Kritiker nicht auf Slawik los, sondern auf Jung. So könne man vielleicht gefestigte Abgeordnete Mitte 40 befragen, aber doch nicht eine junge engagierte Frau!

Eine andere Folge der Entkopplung von Realität ist eher angenehm, so wie nach dem Genuss bewusstseinserweiternder Drogen. Wer davon ausgeht, dass die eigenen Argumente denen der Gegenseite haushoch überlegen sind, für den spielen Wahlergebnisse nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die Reporterin Wiebke Hollersen registrierte bei der Wahlparty der Grünen in Berlin mit Verwunderung, wie die ersten Hochrechnungen mit Jubel begrüßt wurden. Die Grünen haben am Sonntag nicht nur ihr Wahlziel, stärkste Kraft zu werden, meilen- weit verfehlt, sie haben auch in absoluten Zahlen verloren. Aber das tat der Stimmung keinen Abbruch. „Die Frage ist nur, was hier gefeiert werden soll, ‚bis die Schwarte kracht‘ (O-Ton Landesvorsitzende)“, schrieb Hollersen.

Aber so ist das, wenn Visionen und nicht Ergebnisse zählen: Dann schwärmt man unverdrossen von dem progressiven Bündnis, dem man zum Durchbruch verhelfen wolle, egal, was der Wähler dazu sagt. Im Zweifel ist er noch nicht reif genug, die Vorzüge zu erkennen, weshalb man notfalls ohne ihn weitermacht.

Wie weit kann man die Selbstabschottung treiben? Ziemlich weit – vorausgesetzt, man ist bei der Wahl der Bundesgenossen nicht zu zimperlich. Dass die sogenannte Fortschrittskoalition auch den ganzen Narrensaum der Linkspartei umfasst, gehört zu den Dingen, über die man bei Grünen und SPD einfach hinwegsieht.

Das Wichtigste aber ist, dass man die eigenen Anhänger zufriedenstellt. Für das als richtig Erkannte Mehrheiten organisieren, mit seinen Argumenten auch anders gesinnte Menschen überzeugen – das ist etwas für politische Anfänger. Die Grünen sind längst weiter. Ihnen reicht es völlig, die Klientel zu erreichen, die schon überzeugt ist.

Der FDP wird immer vorgeworfen, Klientelpartei zu sein. In Wirklichkeit bedient keine Partei so beinhart die Interessen der eigenen Anhänger wie die Grünen. Deshalb ist ihr auch die Zustimmung in den Innenstadtvierteln sicher, egal, wie viele Straßen sie dort noch mit schrecklichen Holzmöbeln sperren werden.

Ach so, lieber Herr Lehmann, wenn Sie das hier lesen sollten: „Ist das euer Ernst?“ läuft jeden zweiten Donnerstag. Sie können gerne vorbeischauen und widersprechen. Wir freuen uns auf Sie!

© Sören Kunz

Fettfeindlichkeit: Warum Sie Rassist sind, wenn Sie unbedingt schlank bleiben wollen

Die Bundeszentrale für politische Bildung fordert dazu auf, sich „radikal“ mit „Fettfeindlichkeit“ auseinanderzusetzen. Gleichzeitig warnt die Regierung vor den Gefahren des Übergewichts. Wie passt das zusammen?

Darf man über dicke Menschen sagen, dass sie dick sind? Oder gilt das bereits als unzulässige Abwertung? Heikle Frage.

Auch die Bundesregierung scheint unentschlossen, wie sie die Sache sehen soll. Auf der einen Seite werden wir mit Informationen bombardiert, welch schädlichen Einfluss falsche Ernährung auf unsere Gesundheit hat. Das Gesundheitsministerium warnt eindringlich vor den Gefahren der Fettleibigkeit.

Anderseits fördert die Regierung über die Bundeszentrale für politische Bildung Projekte, bei denen dazu aufgerufen wird, sich „radikal“ mit „Fettfeindlichkeit“ auseinanderzusetzen. „Wir müssen verstehen, dass Normschönheit weißes Kapital ist. Und dass es damit wie bei allen Diskriminierungsformen vor allem eines auf sich hat: den Erhalt weißer und patriarchaler Machtstrukturen“, erklärt Mino, eine der Botschafterinnen der von der Bundeszentrale geförderten Initiative „Say My Name“.

Das sollte einem zu denken geben. Wer Vorbehalte gegen den Genuss bestimmter Lebensmittel äußert, weil sie angeblich die Figur ruinieren, verhält sich nicht nur diskriminierend, er ist auch noch Rassist. Dann doch lieber dick.

Es ist eine ganze Theorie rund um das Thema Körpergewicht entstanden. Man spricht von „Lookismus“, wenn Menschen aufgrund ihres Aussehens beurteilt werden. Weil jeder Kommentar über das Erscheinungsbild anderer auf eine Bewertung hinausläuft, enden auch scheinbar unschuldige Bemerkungen zwangsläufig in Diskriminierung. Diskriminierung ist aber genau das, was wir vermeiden wollen.

Deshalb: Der Blick des aufgeklärten Menschen gleitet wohlgefällig über alle Formen und Größen hinweg, egal ob dick oder dünn. Das Plus-XXL-Model erscheint ihm genauso attraktiv wie die Normschönheit mit der Wespentaille. Begriffe wie „hässlich“ oder „gut aussehend“ haben für ihn jede Bedeutung verloren.

So weit die Theorie. Allein, wie es so oft ist, wenn wir die eigene Natur zu überlisten versuchen: Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Loch. Ach, was sage ich, „ein Loch“. Ein Spalt so tief wie der Marianengraben!

Vor zwei Wochen musste die Bekleidungsmarke „Ma-chines for Freedom“ die Aufgabe ihres Geschäfts bekannt geben. „Machines for Freedom“ hatte sich auf die Herstellung von „inklusiver“ Bekleidung für „Fahrradfahrerinnen aller Größen und Formen“ spezialisiert. Schweren Herzens nehme man von der Community Abschied, erklärte die Firmengründerin über Instagram. Offenbar scheuen auch viele übergewichtige Menschen davor zurück, sich in eine Pelle zu zwängen, die einen wie eine zu stark erhitzte Wurst aussehen lässt – allen Beteuerungen, dass dies ganz fabelhaft aussehe, zum Trotz.

Schönheit ist ein Skandal. Dass die Natur einige Menschen bevorzugt haben könnte, ist in unserer gleichheitsfixierten Zeit nicht mehr vorgesehen. Studien zeigen, dass es gut aussehende Menschen im Leben deutlich leichter haben. Schöne Menschen sind nicht nur bei der Partnerwahl im Vorteil, sie steigen im Berufsleben auch schneller auf, weil ihnen mehr zugetraut wird. Angeblich summiert sich der Mehrverdienst bei attraktiven Menschen gegenüber ihren weniger attraktiven Kollegen im Laufe des Berufslebens auf durchschnittlich 210000 Euro. Sogar bei Straftätern zahlt sich Schönheit aus: Hübsche Menschen bekommen höhere Strafnachlässe als hässliche.

Das ist natürlich zutiefst ungerecht. Was kann der Hässliche dafür, dass er hässlich ist? Aber der Mensch ist unvollkommen, auch in seinen Vorlieben. Da kann man ihm noch so sehr einbläuen, dass Aussehen total irrelevant sei – das Stammhirn spielt uns immer wieder einen Streich.

Schönheitsnormen sind auch nicht verhandelbar. Wir können tausendmal erklären, dass eine Bierwampe genauso schön wie ein Waschbrettbauch sei: Die Mehrheit wird es anders sehen. Normen wandeln sich. Wie ein Gang durch eine Galerie alter Meister zeigt, galt in der Renaissance der wohlgerundete Körper als erstrebenswert und nicht der Hungerhaken. Jedes Supermodel wäre damals in die Küche verbannt worden. Nichtsdestotrotz existierten auch in der Renaissance genaue Vorstellungen, was begehrenswert ist und was nicht.

Der Wunsch, sich der Fesseln der Natur zu entledigen, ist groß. Wenn wir in der Lage sind, die Biologie zu überwinden, indem wir neue Geschlechter erfinden, muss es doch auch möglich sein, die Normschönheit hinter uns zu lassen.

Anderseits beharrt die Medizin darauf, dass Fett- leibigkeit ein gesellschaftliches Problem sei. Übergewichtige Menschen haben ein stark erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkankungen, sie sterben öfter an Krebs und entwickeln leichter Diabetes. „Warum wir immer dicker und kränker werden“, lautet die Zeile auf dem letzten „Spiegel“-Cover. Gewagte Wortwahl, dachte ich sofort: In Hamburg trauen sie sich was.

Der amerikanische Autor und Podcaster Anthony Bradley vergleicht Fettsucht mit Rauchen. Überflussgesellschaften wie Amerika seien „metabolisch bankrott“ – deshalb sei es an der Zeit, gesellschaftlichen Druck auf Übergewichtige auszuüben. Man kann sich vorstellen, wie viele Freunde er sich damit gemacht hat.

Ein Gegenargument lautet, Übergewicht sei anders als Nikotinsucht Schicksal. Niemand könne etwas dafür, wie er aussehe. Aber das stimmt nicht ganz. In über 70 Prozent der Fälle ist Übergewicht eine Frage der Ernährung und damit der persönlichen Präferenz. Niemand zwingt uns, zu viel Zucker oder Fett zu uns zu nehmen – so wie uns auch niemand zum Rauchen zwingt. Es ist eine freiwillige Entscheidung. Muss man also aus Gesundheitsgründen zum Fatshaming kommen, so wie es zum Smoke-shaming kam?

Ich bin gegen jede Art des Shaming. Ich würde nie auf die Idee kommen, eine fremde Person auf ihr Gewicht anzusprechen. Wenn jemand sich dafür entscheidet, alle Ernährungsrichtlinien in den Wind zu schlagen: So be it. Ich habe jedoch Zweifel, ob man wirklich gleich so weit gehen sollte, den Kampf gegen die Pfunde als rassistisch zu bezeichnen.

Vielleicht gibt es kein Thema, bei dem die Schizophrenie der linken Glaubenswelt so offen zutage tritt wie die Diätfrage. Gerade fortschrittliche, dem rot-grünen Zeitgeist besonders aufgeschlossene Eltern achten penibel darauf, was ihre Kinder zu sich nehmen. Das ist sozusagen praktizierter Lookismus: Sich gemeinsam darüber empören, wie sehr die Werbeindustrie übergewichtige Menschen benachteiligt – aber sofort die Cola vom Tisch nehmen, wenn der kleine Jonas und das Sarahchen auf der Bildfläche erscheinen.

Ich fürchte, wenn man dem Ideal einer wirklich gewichtsgerechten Gesellschaft näherrücken will, kommt man um politische Maßnahmen nicht herum. Die familienpolitische Sprecherin der Grünen in Berlin hat vor Jahren vorgeschlagen, bei Schönheitswettbewerben auch weniger schönen Menschen die Teilnahme zu ermöglichen.

„Bei Misswahlen werden grundsätzlich Menschen un-serer Gesellschaft ausgeschlossen“, erläuterte Marianne Burkert-Eulitz gegenüber dem Volksblatt „B.Z.“ ihre Idee. Das sei nicht mehr zeitgemäß. „Wir leben in einer vielfältigen und heterogenen Gesellschaft, die ein anderes Menschenbild lebt.“

Das ist ein guter Ansatz, doch Misswahlen können nur ein Anfang sein. Als Nächstes brauchen wir verbindliche Sprachrege- lungen, so wie beim Gendern. Man könnte auch über eine Quote nachdenken. Für jede Abbildung eines dünnen Menschen gibt es daneben das Bild einer nicht schönheitsnormativen Person.

Gewichtsangabe beim Amtsarzt? Nur noch nach Selbsteinschätzung. Wer das alte Gewicht öffentlich macht, wird bestraft, so wie auch beim Transsexuellengesetz die Nennung des alten Namens unter Strafe steht. Ein Transfett-Gesetz, das wär’s. Dazu eine Beauftragte der Bundesregierung gegen Fettfeindlichkeit. Es gibt noch viel zu tun.

© Silke Werzinger

Der Drift: Wie aus dem Top-Beamten Maaßen der große Aussätzige der Politik wurde

Wie gerät einer der besten Juristen des Landes zur Überzeugung, die Regierung arbeite an einem verschwiegenen Plan, das deutsche Staatsvolk durch Migranten zu ersetzen?

In der CDU würden sie gerne ihr Parteimitglied Hans-Georg Maaßen loswerden. Am Montag hat man ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder er geht freiwillig oder man will ihn zum Parteiaus-tritt zwingen.

Die SPD hat drei Anläufe gebraucht, um Thilo Sarrazin aus der Partei auszuschließen. Über zehn Jahre zog sich das Verfahren hin. Der Parteivorstand hatte dazu einen eigenen Stab eingerichtet und mehrere Anwälte engagiert. Wir werden sehen, ob die CDU mehr Glück hat. Aber die entscheidende Botschaft kommt auch so an: Mit diesem Kerl wollen wir nichts mehr zu tun haben! Maaßen ist jetzt endgültig Persona non grata, der große Aussätzige der deutschen Politik.

Ich kenne Maaßen aus der Zeit, als er noch Verfassungsschutzpräsident war. Wenn er in München zu tun hatte, rief gelegentlich sein Büroleiter an, ob man sich nicht sehen wolle. Ich habe Maaßen von diesen Begegnungen als jemand in Erinnerung, der die Dinge in kühler Schärfe betrachtete, konservativ, sicher, aber eher zurückhaltend im Urteil. Der Mann, den ich kannte, war alles andere als ein Fanatiker.

Etwas ist in der Zwischenzeit passiert. Und damit meine ich nicht den Verlust seines Postens als Verfassungsschutzchef. Er hängt komischen Ideen an und lässt sich mit komischen Leuten ein.

Das erste Mal, als ich mich fragte, „Was ist denn da los?“, war vor anderthalb Jahren. Da stieß ich in der „FAZ“ auf einen Text, der einen Ausflug in die Gedankenwelt des Jungpolitikers Maaßen unternahm. Der Artikel führte aus, dass Maaßen zur Überzeugung gelangt sei, dass eine Elite von „Wirtschaftsglobalisten“ daran arbeite, eine Herrschaft der 1000 reichsten Familien der Welt zu errichten – mit Unterstützung durch das Weltwirtschaftsforum in Davos und, überraschende Pointe, durch die Grünen.

„Globalisten?“, dachte ich. So reden sie doch normalerweise in den Kreisen, in denen man sich zuraunt, dass in Wahrheit eine kleine Clique von Finanzjongleuren an der Wall Street die Fäden in der Hand halte.

Es ist seitdem nicht besser geworden, soweit man das beurteilen kann. Maaßen hinterlässt auf Twitter Beiträge, die so schräg sind, dass er sie anschließend schnell wieder löscht. Er empfiehlt Videokanäle, in denen über Chemtrails gefaselt wird und darüber, dass Deutschland ein Vasallenstaat der Amerikaner sei.

Auch seine Sprache hat sich verändert. Journalisten nennt er jetzt grundsätzlich „Gesinnungsjournalisten“, ohne diesen Zusatz kommt er nicht mehr aus. Die andere Lieblingsvokabel ist „öko-woke“, wie in: „öko-woke Juristen“, „öko-woke Medien“ oder „öko-woke Gegenseite“. Mir gehen die Grünen auch furchtbar auf den Zeiger, aber ich würde mir schon aus stilistischen Gründen Varianten der Kritik überlegen. Man gewinnt nicht an Überzeugungskraft, wenn man sich sprachlich versteift.

Ist Maaßen ein Rassist oder Antisemit, wie ihm unterstellt wird? Dafür gibt es keine Belege, jedenfalls sind bislang keine überzeugenden präsentiert worden. Aus der Tatsache, dass jemand anderen vorwirft, sie würden einer rassistischen Idee anhängen, lässt sich nicht im Umkehrschluss folgern, dass er selbst Rassist sei. Wäre es so, müsste man große Teile der Linken des Rassismus verdächtigen. Unstreitig ist hingegen, dass sich bei Maaßen die Vorstellung festgesetzt hat, die Regierung arbeite heimlich an einem Austausch des deutschen Staatsvolkes. Das scheint sich bei ihm zur fixen Idee entwickelt zu haben.

Wenn ich mir Robert Habeck und Annalena Baerbock anschaue, dann sehe ich zwei Politiker, die sich mehr oder weniger erfolgreich bemühen, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Selbst wenn sie den Wunsch hätten, die Deutschen durch den Zuzug arabischer Großfamilien zu ersetzen, wären sie mit der Umsetzung heillos überfordert. Mir ist es ein Rätsel, wie man auf so einen Quark kommen kann. Klar, wenn man seine Abende im Kreis rechter Spökenkieker verbringt, dann ja. Aber als einer der besten Juristen des Landes, der gewohnt ist, die Dinge von der kalten Warte des Rechts zu beurteilen?

Wie soll man diese Reise an den Rand des politischen Spektrums nennen? „Selbstradikalisierung“ ist ein Begriff, der sich anbietet. Aber trifft er? Radikalisierung beginnt ja immer bei einem selbst. Es ist eher ein Abdriften. Eine merkwürdige Verschiebung und Verengung der Perspektive, die einen nur noch Dinge sehen lässt, die andere nicht sehen – was einen dann umso mehr anstachelt.

Ich habe das schon einmal erlebt, bei meinem langjährigen Freund Matthias Matussek. Matussek war einmal einer der berühmtesten Reporter des Landes. Egal, ob er über Prinzessin Di oder Heinrich Heine schrieb: Es waren Texte zum Niederknien, kraftvoll, witzig, mit plötzlichen Wendungen ins Unvermutete, dem Autor in ihrer Unberechenbarkeit nicht unähnlich. Und heute? Sitzt er in einem Kaff irgendwo an der Schlei und schreibt Putin-Apologien. Vom Freigeist zum Bänkelsänger des Autoritären – weiter kann man sich von seinen alten Lesern nicht entfernen.

Am Anfang des Drifts steht meist eine Kränkung, ein Unglück, das einen nicht mehr loslässt und den Blick verengt. Bei Maaßen war es die Entlassung als Chef des Verfassungsschutzes. Wo es nur noch Schwarz oder Weiß gibt, werden auch die imaginierten Gefahren immer größer. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Deutschland dem Untergang geweiht ist, finden Sie jeden Tag Belege, die Sie in Ihrer Einschätzung bestätigen.

Viele Anwürfe sind ungerechtfertigt, das gilt auch im Fall Maaßen. Man ist heute schneller Nazi, als man Papp sagen kann. Aber statt den Anschluss zurück zur Mitte zu suchen, indem man einlenkt, verführt der Drift dazu, sich immer weiter nach außen zu bewegen. Jede Geste des Entgegenkommens gilt nun als Opportunismus, jedes Einlenken als Verrat. Das Paradoxe ist: Die Gegner legen es genau darauf an. Sie sagen zwar, sie wünschten, der Angegriffene würde Einsicht zeigen, aber in Wahrheit kann er ihnen keinen größeren Gefallen tun, als sich immer weiter an den Rand zu begeben.

Es gibt natürlich auch Fans. Auf jeden Hater kommen zwei, die „Halte durch!“ rufen. Das macht es allerdings nicht besser, im Gegenteil. Maaßen könnte, wenn er wollte, morgen bei der AfD anheuern. In dieser Szene ist er ein Held. Aber er will die Reputation nicht verlieren, die mit einer Mitgliedschaft in der CDU einhergeht. Deshalb klammert er sich an sein Parteibuch. Es ist das Letzte, das ihn mit der Welt, aus der er kommt, verbindet.

Was kann man gegen den Drift tun? Wenn ich ein Entradikalisierungsprogramm auflegen sollte, dann wäre meine erster Tipp: öfter Twitter ausschalten und stattdessen mehr meditieren. Meine zweite Empfehlung: den Kontakt zu Menschen halten, die ganz anders denken als man selbst.

Ich bin bis heute mit einer Reihe von Leuten verbunden, die knalllinks sind und mich das auch bei jeder Gelegenheit wissen lassen. Es gibt Menschen, die stolz sind, das halbe Internet gesperrt zu haben. Ich gehöre nicht dazu. Ich empfand es noch nie als Vorteil, nur das zu hören, was ich bereits kenne. Es ist zugegeben manchmal etwas anstrengend, aber es bewahrt vor größerem Unfug.

Man mag zu dem Ergebnis kommen, dass Maaßen einen Knall hat. Aber die Politik hält aus gutem Grund auch für Knallköppe einen Platz bereit. Das Haus des Herren hat viele Zimmer, das gilt zumal für Parteien. Deshalb sind ja auch die Hürden bei einem Ausschluss so hoch.

Ich wage die Prophezeiung, dass bei einem Parteiordnungsverfahren nicht viel herauskommen wird. Vermutungen reichen nicht vor Gericht, auch nicht vorm Partei-gericht. Außerdem kann Maaßen darauf verweisen, dass er mit fast allem, was ihm zur Last gelegt wird, unbehelligt bei der Linkspartei oder Teilen der SPD weitermachen könnte. Das wilde Herumfuchteln mit der Rassismuskeule, die merkwürdige Theorie, dass die USA uns in den Krieg treiben, damit wir uns von Russland entfremden und die Amis uns wieder dominieren können: All das findet sich auch links der Mitte.

Wenn die vergangenen Monate eines gezeigt haben, dann, wie nahe sich ganz links und ganz rechts sind. Das Hufeisen ist in Wahrheit ein Kreis.

© Michael Szyszka

Atomwaffen auf Zürich

Der Kolumnist hat Mitteilung von der Polizei erhalten, dass gegen ihn wegen eines Kommentars ermittelt werde. Anlass für ihn, über lautere und weniger lautere Mittel im Meinungskampf nachzudenken.

Ich habe Post von der Polizei bekommen. Das Kriminalfachdezernat 4 in München hat mich angeschrieben, um mir mitzuteilen, dass ich dort als Beschuldigter geführt werde. Mir wird eine Straftat nach Paragraf 140 Strafgesetzbuch vorgeworfen: Belohnung und Billigung von Straftaten.

Als Tatzeit führt das Schreiben den 24. September an, Uhrzeit: 12:02. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich auf Twitter folgenden Kommentar hinterlassen: „Atomwaffen auf Zürich!“ Zwecklos zu leugnen, das habe ich geschrieben. Drei Worte, nicht mehr. Trotzdem stecke ich jetzt in Schwierigkeiten.

Ich habe schon ganz andere Dinge zu Papier gebracht. Ich habe mich über die Italiener lustig gemacht, was mir eine Rüge des italienischen Botschafters einbrachte. Ich habe die Fifa eine kriminelle Organisation genannt und Friedrich Merz ein Würstchen. Beides erfüllt aus Sicht eines Juristen vermutlich den Tatbestand der Beleidigung.

Dagegen ist „Atomwaffen auf Zürich!“ vergleichsweise harmlos. Zumal es eine spöttische Replik auf einen Tweet meines Bekannten Roger Köppel war, Herausgeber der Schweizer „Weltwoche“ und einer der größten Kritiker der Aufrüstung der Ukraine, der aus Angst vor einem Atomkrieg zu sofortigen Verhandlungen mit Wladimir Putin aufrief. Ihr Schweizer Angsthasen, wollte ich sagen: Es dreht sich nicht immer alles um euch.

Mir wurden von der Polizei mehrere Möglichkeiten angeboten. Ich kann die Straftat zugeben. Ich kann einen Anwalt beiziehen. Gegen Zahlung einer Geldauflage wäre auch eine Einstellung des Verfahrens denkbar. Ich habe also überlegt, wie ich reagieren soll.

Vorbereitung einer Straftat fällt in meinem Fall aus, so weit reicht der Arm des Kolumnisten nicht. Könnte ich über den Einsatz von Atomwaffen gebieten, würde ich sofort ganz andere Seiten aufziehen. Bleibt die Billigung nach Paragraf 140 StGB.

Billigt man einen Völkermord, wenn man dem russischen Präsidenten den Abwurf einer Atombombe über Zürich empfiehlt? Atomwaffen sind natürlich ganz grundsätzlich abzulehnen, das steht außer Frage. Andererseits, so eine taktische Mini-Bombe über dem Zürisee hätte auch Vorteile: Das Schwarzgeldproblem wäre mit einem Schlag gelöst. Ich weiß, ich weiß, ich sollte diese Scherze lassen. Wie man sieht, versteht der Schweizer noch weniger Spaß als der Italiener.

Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Da, wo’s zu weit geht, fängt die Freiheit erst an, hat der Kabarettist Werner Finck einmal gesagt. Das deckt sich ziemlich genau mit meiner Meinung.

Meine Toleranzbereitschaft ist entsprechend groß. Ich habe zum Beispiel noch nie verlangt, jemanden nicht länger zu beschäftigen, weil er Unsinn geredet hat. Ich habe auch noch nie eine Person angezeigt. Sie können mir glauben, mich erreichen nicht nur Lob und Zuspruch. Trotzdem käme ich nicht auf die Idee, wegen einer Beleidigung oder einer Schmähung zu klagen. Wo soll das hinführen? Man macht sich doch lächerlich.

Sollte man sich mehr aufregen? Das ist nicht nur eine persönliche, es ist auch eine strategische Frage. Es hat sich in einem bestimmten Milieu eingebürgert, schon wegen kleinster Verfehlungen Veitstänze aufzuführen. Mir ist das fremd. Aber wer alles mit Gleichmut hinnimmt, auch die größten Unverschämtheiten, gerät in der politischen Auseinandersetzung möglicherweise ins Hintertreffen.

Hier ist ein Fall, der mir zu denken gegeben hat. Vor zwei Wochen lud der Historiker Andreas Rödder zu einer Konferenz nach Berlin. „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit“, lautete der etwas sperrige Titel. Im Mittelpunkt stand die neue Kultur der Empfindlichkeit, die im Namen des Kampfes gegen Diskriminierung für mehr Diskriminierung diskriminierender Ansichten eintritt.

Rödder ist nicht nur ein geachteter Wissenschaftler, er ist zugleich Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission. Auch die als Referenten geladenen Gäste waren in der Vergangenheit nicht durch radikale Äußerungen aufgefallen. Die ehemalige CDU-Familienministerin Kristina Schröder war dabei, der Kabarettist Dieter Nuhr, der Psychologe Ahmad Mansour, der gerade mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Viel mittiger geht es nicht, würde ich sagen.

Vier Tage nach Abschluss der Tagung schrieb die grüne Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger auf Twitter, die Konferenz habe antisemitischen Verschwörungserzählungen Raum gegeben. Wie sie dazu kam? An einer Stelle hatte Kristina Schröder das Wort „Minderheit“ benutzt. Eine Minderheit sei im Besitz der kulturellen Produktionsmittel in den Medien und Unis, das waren Schröders Worte. Der Komiker Dieter Nuhr sprach von einer machtvollen Elite, die die Dinge in ihrem Sinne zu steuern versuche.

Wer die Äußerungen von Schröder und Nuhr im Kontext der Veranstaltung liest, erkennt sofort, dass sie die kleine Gruppe akademisch gebildeter Menschen meinen, die sich als Wegbereiter des Neuen sehen. Wenn die beiden von Elite sprechen, dann reden sie von Leuten, die Rastalocken für Ausbeutung, Gendern für Fortschritt und Gerechtigkeit für eine Frage des Schonvermögens beim Bürgergeld halten. Von Antisemitismus kann da weit und breit keine Rede sein, es sei denn, man betrachtet Elitenkritik grundsätzlich als antisemitisch. Dann allerdings muss man auch 150 Jahre antikapitalistischer Theoriebildung einkassieren.

Was bezweckt eine grüne Abgeordnete mit so einem Vorwurf? Glaubt sie wirklich, dass man in der CDU jetzt antisemitischen Klischees anhängt? Oder sagt sie das nur, um dem politischen Gegner einen Schlag zu verpassen? Ich tippe auf Letzteres. Man wirft ein Schmutzsteinchen ins Wasser und freut sich, wenn es Kreise zieht.

Die stellvertretende Chefredakteurin des „Spiegel“, Melanie Amann, fand den Vorwurf immerhin so scharfsinnig, dass sie ihn umgehend aufnahm und per Retweet weiterleitete. In der nächsten Umdrehung wird aus dem Kongress in Berlin dann eine Versammlung von Leuten, die dem neuen Faschismus den Boden bereiten. So stand es mehr oder weniger deutlich in einem Beitrag auf „Zeit Online“ aus der Feder des ehemaligen „Spiegel“-Kolumnisten Georg Diez, der heute für das New Institute in Hamburg arbeitet, einer etwas obskuren Klimarettungsbude, die sich der ehemalige Reeder Erck Rickmers zum Zwecke der Gewissenserleichterung leistet.

Wie soll man mit einem solchen Vorwurf umgehen? Ein Bekannter, dessen Urteil ich schätze, sagte: ignorieren. Das sei so lachhaft, das lohne gar nicht, darauf zu antworten. Ich bin inzwischen zur Überzeugung gelangt, dass man sich gelegentlich zur Wehr setzen muss. Wer alles widerspruchslos hinnimmt, weil er die Vorhaltungen für zu absurd hält, gerät irgendwann auf die schiefe Bahn.

Auch so lassen sich die Grenzen des Sagbaren verschieben: Erst ist man ein geachteter Wissenschaftler. Dann gilt man plötzlich als „umstritten“, wie das beliebte Verdächtigungswörtchen heißt. Irgendwann sagen die Leute: „Kann man den eigentlich noch einladen? In der ,Zeit‘ stand doch, dass die Grenze zum Faschismus fließend sei.“

Es gibt Menschen, die finden Meinungsfreiheit Mist. Man muss das leider so deutlich sagen. Sie selbst würden das nie so sagen. Sie würden sagen, dass Meinungsfreiheit für Menschen reserviert sein sollte, die zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen, also Leute wie sie selbst.

Soll man deshalb dazu übergehen, die Methode zu kopieren? Da wäre ich entschieden dagegen. Es gibt ja nicht nur die kleine Elite, die von Verdächtigung lebt. Es gibt daneben eine große Anzahl von Menschen, die ein untrügliches Gespür für Doppelzüngigkeit und Falschheit hat und die nichts so verachtet wie ebendiese.

©Michael Szyszka

Der Staat als Feind

Weil die Regierung das Geld ausgibt, als gäbe es kein Morgen, werden jetzt die Steuern erhöht. Der erste Schritt ist getan, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Ab 1. Januar steigt die Erbschaftsteuer bei Immobilien um locker 500 Prozent.

Wem kann man noch vertrauen? Fragt man die Bürger, sagen sie: Günther Jauch, dem Arzt und der Polizei, in dieser Reihenfolge.

Zu den Institutionen, denen ich darüber hinaus vertraute, zählte neben der Bundesbank und Häagen-Dazs der Rat der Wirtschaftsweisen.

Meine persönliche Vertrauensbilanz ist ziemlich trübe, muss ich mir eingestehen. Die Bundesbank ist bedeutungslos geworden, seit über die Geldpolitik bei der EZB entschieden wird. Häagen-Dazs gehört jetzt Nestlé. Blieben bis gestern die Wirtschaftsweisen. Wenn es eine Institution gibt, auf deren Rat man setzen kann, dann diese, dachte ich. Aber auch das hat sich, Gott sei’s geklagt, erledigt.

Vor ein paar Tagen hat der Rat sein Jahresgutachten vorgelegt. Die entscheidende Passage konnte man zuvor in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen, der man das Gutachten im Vorweg zur medialen Aufbereitung überlassen hatte. Um die diversen Entlastungspakete der Regierung „sozial zu balancieren“, würden die Ökonomen eine zeitlich befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes sowie die Einführung eines „Energiesolidaritätszuschlags“ für Besserverdienende empfehlen, berichtete die Zeitung.

„Wirtschaftsweise für höhere Steuern“ lautete die Überschrift, das ließ aufhorchen. Die Beruhigung lieferte die „Süddeutsche“ gleich mit: Lediglich fünf Prozent der Deutschen seien betroffen. Keine Sorge, liebe Leser, sollte das heißen: Alles halb so wild, ihr seid nicht gemeint.

Auf die Reichen als Zugpferd kann man sich immer einigen. Beim „Spiegel“ wurde die Meldung mit einem Bild weißer Seevillen im Sonnenlicht bebildert, bei „NTV“ entschied man sich für das Foto eines champagnerschlürfenden Mannes. Dummerweise gibt es im wirklichen Leben viel weniger Reiche, als es bräuchte, um alle Ausgabenwünsche zu finanzieren.

Dass sie in den Medien zum Hütchenspielen neigen, das wusste ich. Aber dass sie auch im vornehmen Rat der Wirtschaftsweisen zum Dummenfang übergegangen sind, das hat mich dann doch erschüttert. Auf fünf Prozent Spitzensteuerbürger kommt man nur, wenn man Kinder, Arbeitslose und Greise mitzählt. Legt man die Zahl derjenigen zugrunde, die in Deutschland als Vollzeitbeschäftigte Steuern zahlen, ist man, schwups, bei knapp 20 Prozent.

Weil der deutsche Staat ein gefräßiger Staat ist, schlägt der Spitzensteuersatz schneller zu, als viele meinen. Bereits ab 58597 Euro Jahresgehalt ist man dabei, das sind 3000 Euro netto pro Monat. Wer das in München verdient, ist schon mal 1800 Euro für seine Zweizimmerwohnung los, wie ein Bekannter von mir gallig anmerkte: Bleiben 1200 Euro für Porsche, Kaviar und Champagner in St.Tropez. Davon ist im Herbstgutachten der Wirtschaftsweisen selbstverständlich nicht die Rede.

Ich hege ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Menschen, die den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen, um es dann in ihrem Namen wieder unter die Leute zu bringen. Wenn die Wohltaten, die sie in den Parteien versprechen, aus der Parteikasse bezahlt würden, wäre ich sofort einverstanden. Leider läuft es andersherum: Man gibt den Wohltäter auf Kosten der Mitmenschen und schimpft dann alle als kaltherzig, die den Schwindel nicht mitmachen.

Es ist auch nicht so, dass dem Staat in nächster Zeit das Geld auszugehen droht. Die Steuerschätzungen sehen rosig aus: plus 50 Milliarden 2023 und noch einmal plus 55 Milliarden im Jahr drauf. Man käme mit den Steuereinnahmen wunderbar aus, wenn sie in Berlin das Geld nicht ausgeben würden, als gäbe es kein Morgen.

Allein der Apparat an Staatssekretären und Abteilungsleitern hat sich seit Antritt der Koalition nahezu verdoppelt. Natürlich muss auch das Kanzleramt ausgebaut werden, für eine halbe Milliarde Euro. Dazu kommen ständig neue soziale Großprojekte wie jetzt das Bürgergeld.

Der Betrug beginnt hier schon mit dem Begriff. Wenn etwas dezidiert nicht bürgerlich ist, dann, sich auf die Anstrengungsbereitschaft anderer zu verlassen, statt für sich selbst zu sorgen. Wohlgemerkt: Wir reden nicht von Menschen, die zu alt oder zu krank sind, um einer Beschäftigung nachzugehen. Dass jemand, der nicht mehr kann, mit Unterstützung durch seine Mitmenschen rechnen darf, versteht sich von selbst.

Aber niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass die 1,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger, die bei den Arbeitsagenturen gemeldet sind, alle erwerbsunfähig sind, weil der Rücken kaputt ist oder das Herz zu schwach. Die meisten könnten sehr wohl anpacken, wenn es denn von ihnen verlangt würde. Weil das auch die Verfechter des Bürgergelds wissen, wird in Diskussionen die Madonna des Sozialstaats, die alleinerziehende Mutter, ins Schaufenster ge-stellt, hinter der sich dann alle versammeln, die weder alleinerziehend sind noch Mutter.

Ich habe ins Kleingedruckte der neuen Sozialleistung geschaut. Das wird teuer. In Zukunft kommt der Staat in den ersten zwei Jahren auch für Miete und Zinslasten auf – und zwar in unbegrenzter Höhe. Ich dachte, ich hätte mich verlesen. Unbegrenzt? Man wolle den Menschen in der schwierigen Zeit der Erwerbslosigkeit den Stress ersparen, sich nach einer neuen Wohnung umsehen zu müssen. Das ist ein feiner Zug, der allerdings auch von vielen Menschen bezahlt werden muss, bei denen sich der Staat nicht so großzügig zeigt.

Wenn es eine Trennlinie gibt zwischen bürgerlicher und sozialdemokratischer Politik, dann ist es das Verhältnis zum Staat. Der Liberale akzeptiert ihn als gesellschaftliche Notwendigkeit, aber er käme nie auf die Idee, ihn zu vergöttern. Der Sozialdemokrat hingegen erwartet alles Gute von oben. Aus seiner Sicht gibt es kein Problem, das nicht durch Geld und eine entsprechende Anzahl an Sozialarbeitern behoben werden könnte. Wenn sich das Problem wider Erwarten doch hält, tja, dann waren halt nicht genug Sozialarbeiter im Einsatz.

Ich war vor zwei Wochen am Berliner Flughafen. Für mich ist der BER, wie er genannt wird, das perfekte Beispiel des SPD-Sozialstaats. Die Hälfte der Berliner lebt auf die eine oder andere Weise von Transfereinkommen, aber am Flughafen fehlt das Personal, um mehr als einen Sicherheitscheck zu besetzen. Die Einzigen, die zur Arbeit erscheinen, sind ein paar Deutschtürken, die offenbar noch nicht herausgefunden haben, dass sie genauso viel bekämen, wenn sie zu Hause blieben. Aber keine Sorge, das wird sich noch herumsprechen. Dann bleibt auch das letzte Gate geschlossen. Ist ja ohnehin aus Klimaschutzgründen besser.

Die Wirtschaftsweisen verteidigen ihren Vorschlag eines Energiesolis mit dem Hinweis, sie würden ja dazu raten, ihn zeitlich streng zu begrenzen. Oh, heilige Einfalt, dachte ich, als ich das las. Erinnern Sie sich noch an den letzten Soli? Der wurde 1991 nach zähem Ringen beschlossen, um die neuen Bundesländer aufzupäppeln.

Kein Mensch spricht heute mehr von „neuen Bundesländern“. In vielen westdeutschen Kommunen würde man sich wünschen, die Innenstadt wäre so herausgeputzt wie die im Osten. Aber den Soli gibt es immer noch. 30 Jahre hat es gedauert, bis man sich dazu durchrang, ihn wenigstens für die Normalverdiener abzuschaffen. Für die sogenannten Besserverdiener, die auch jetzt wieder im Fokus stehen, gilt er bis heute.

Der Staat ist ein Nimmersatt. Verschlagen ist er ebenfalls. Früher wurde im Parlament über Steuererhöhungen gestritten, heute steht der entsprechende Passus im Jahressteuergesetz.

Anfang der Woche fand sich im Wirtschaftsteil der „Süddeutschen“ ein Bericht, wonach die Koalition in Berlin weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit eine „Anpassung der Vorschriften der Grundbesitzbewertung“ auf den Weg gebracht hat. Was so harmlos klingt, hat Auswirkungen für alle deutschen Haushalte, für die das Eigenheim der größte Vermögensposten ist, also für circa 50 Prozent.

Über Nacht hat sich der sogenannte Sachwertfaktor geändert, an dem sich auch die Erbschaftsteuer bemisst. In dem Musterbeispiel eines frei stehenden Einfamilienhauses, den die Redaktion hat berechnen lassen, steigt die Steuerschuld im Erbfall mit dem 1. Januar von bislang 9625 Euro auf dann 57855 Euro. Das ist eine Steigerung um über 500 Prozent.

Der Staat, das seien doch wir alle, lautet ein Mantra des Wirtschaftsministers Robert Habeck. Das können aus meiner Sicht nur Politiker sagen, die auch eine Geiselnahme für ein Gemeinschaftsprojekt hielten.

©Sören Kunz

Verachtung des Ornaments

Grüne Architekten versuchen, die Rekonstruktion eines der bedeutendsten Bauwerke des Architekturgenies Karl Friedrich Schinkel zu verhindern. Warum bloß? Hassen Menschen, die politisch links stehen, das Schöne?

Hassen Menschen, die politisch links stehen, das Schöne? Ich ziehe die Frage zurück. Lassen Sie mich sie anders stellen: Haben Linke ein besonderes Problem mit wohlgefälligen Proportionen?

Ich bin bei der Lektüre der Zeitungen auf einen Bauskandal gestoßen. Die Beteiligten: Karl Friedrich Schinkel, Baumeister und Stadtplaner, sowie die Bundesstiftung Bauakademie, ein Forum vor allem grüner und auch sonst in jeder Hinsicht fortschrittlich gesinnter Architekten.

Schinkel ist vermutlich der beste Architekt, den Deutschland je hatte. Wir verdanken ihm die Neue Wache am Boulevard Unter den Linden, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und das Alte Museum neben dem Dom. Mit guter Architektur verhält es sich wie mit Pornografie. Es ist nicht immer leicht zu sagen, was sie ausmacht, aber wenn man davorsteht, erkennt man sie sofort.

Das bedeutendste Gebäude, das Schinkel errichten ließ, ist die Berliner Bauakademie, ein für das 19. Jahrhundert revolutionärer Ziegelbau, der nach einem Fliegerangriff im Februar 1945 erst ausbrannte und 1962 dann vom DDR-Regime abgerissen wurde. Bei jeder Straßenumfrage votiert eine klare Mehrheit für den Wiederaufbau, weshalb der Bundestag vor sechs Jahren einen entsprechenden Beschluss fasste und auch 62 Millionen Euro zur Verfügung stellte, um dem Bürgerwillen Rechnung zu tragen.

Eine eindeutige Entscheidung des Souveräns, Geld für die Rekonstruktion des geliebten Gebäudes: Ende gut, alles gut, sollte man meinen – tja, wenn da nicht die Architekten von der ins Leben gerufenen Bundesstiftung Bauakademie wären, die finden, dass Karl Friedrich Schinkel nicht mehr recht in die Zeit passt: zu alt, zu reaktionär und auch nicht ökologisch bewusst genug.

Deshalb soll statt der Rekonstruktion jetzt ein Haus mit „Reallaborcharakter“ her, das sich einer „ganzheitlichen, nachhaltigen Planung und Bauweise“ verpflichtet fühlt. Ja, ein Haus, das bei näherer Betrachtung gar kein profaner Hausbau mehr ist, sondern eine „offene Wissens- und Dialogplattform“: gesellschaftlich vorbildlich, sozial bewusst und natürlich „klimaresilient“, das vor allem. So hat es ein vierzigköpfiger „Thinktank“ samt „Bürger*innenwerkstatt“ entschieden.

Wie sich das Vorhaben mit dem Beschluss des Bundestages zum Wiederaufbau verträgt? Ganz einfach, man plant nun ein Gebäude „im Sinne Schinkels“. Mit dieser genial-verschlagenen Formulierung ist alles möglich, selbst die Errichtung eines ökologisch korrekt begrünten Messezentrums.

Es scheint geradezu ein Naturgesetz zu sein: Kaum fällt irgendwo in Deutschland der Entschluss, ein altes Gebäude wieder aufzurichten, findet sich ein Chor von Kritikern, der in Wehklagen einstimmt, warum das schrecklich rückwärtsgewandt, um nicht zu sagen irgendwie rechts sei.

Die Argumente sind immer die gleichen: Die Rekonstruktion sei fantasielos und geschichtsvergessen, ein Misstrauensantrag gegenüber der Moderne, dem man sich schon aus Gründen der historischen Verantwortung entgegenstellen müsse. Lässt man der Diskussion etwas Zeit, taucht mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit der Hinweis auf den Nationalsozialismus auf, in dem alle bürgerliche Fassadensehnsucht angeblich unweigerlich endet.

So war es in Dresden, als sich ein Bürgerverein entschloss, gegen den Rat der Architektenzunft die zerstörte Altstadt möglichst originalgetreu wieder aufzubauen. So war es in Frankfurt, wo die alten Bürgerhäuser am Römer gegen den Konkurrenzentwurf aus Glas und Stahl obsiegten. Und so war es natürlich bei dem größten Sündenfall, der Wiedererrichtung des Hohenzollernschlosses in Berlin. Eine Säule zu viel und man steht mit beiden Beinen wieder im Dritten Reich: Deshalb belässt man es am besten bei einer glatten Fassade, ganz ohne Pomp und Putz.

Auch mit dem Wiederaufbau kehrt nicht etwa Ruhe ein. Das Stadtschloss steht nach sieben Jahren Bauzeit, eine Provokation der Schönheit für alle, die dagegen stritten. Jetzt geht es gegen die Inschrift, die sich, golden auf blauem Grund, um die Kuppel zieht. Es sind Bibelzitate, wie das im 17. Jahrhundert nun einmal üblich war. Nicht weltoffen genug und deshalb unangemessen, befindet Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die die Bibelworte überblenden lassen will.

Fragt man das Publikum, fällt das Votum meist eindeutig aus. Die Menschen, die zwischen den Würfeln leben müssen, die ihnen die moderne Architektur beschert, erfreuen sich hundertmal mehr an den Fassaden der Frankfurter Bürgerhäuser oder der Kuppel des Stadtschlosses als an einem der Steinquader, wie sie zu Tausenden über Deutschland abgeworfen werden.

Der Laie fragt auch nicht, ob sich hinter jeder Fassade wirklich ein gemauerter Baukörper verbirgt oder vielleicht doch nur profaner Beton. Er ist schlicht froh, dass das Auge an Simsen und Brüstungen Halt findet, statt haltlos über Stein und Glas zu gleiten. Aber schon das macht die Rekonstruktion aus Sicht der Experten verdächtig: Wo der einfache Mensch vorbehaltlos zustimmen kann, ist immer Gefahr im Verzug.

Interessanterweise gibt es eine starke Verbindung zwischen dem Faible für architektonischen Purismus und politischer Gesinnung. Ich erinnere mich an ein Abendessen, bei dem ich vor vielen Jahren mit dem ZDF-Chefredakteur und überzeugten Sozialdemokraten Peter Frey über die Stuckabschlagsprämie ins Gespräch kam, die sozialdemokratische Kommunalpolitiker ausgelobt hatten, um Altbauten in Westberlin von allem Tand zu befreien. Mit Spritzbeton gegen bourgeoise Gesinnung, was für eine absurde Veranstaltung, sagte ich. Worauf Frey antwortete, er finde glatte Wände auch schöner. Mir verschlug es kurzzeitig die Sprache, was bei mir nicht oft vorkommt.

Die Verachtung für das Ornament ist umso erstaunlicher, als die Verächter desselben in ihrem privaten Umfeld nichts gegen Stuckleisten oder Schnörkel einzuwenden haben. Ganz im Gegenteil. Würde man eine Untersuchung über den Wohnort der Rekonstruktionsgegner in Auftrag geben, käme sie unweigerlich zu dem Ergebnis, dass die größten Befürworter modernen Bauens in den Altbauetagen anzutreffen sind, an deren Decke sich genau das an Verzierung wiederfindet, was sie in schwungvollen Artikeln geißeln.

Umgekehrt hingegen erhebt sich nie ein Empörungssturm, wenn die Errichtung eines weiteren Geschäfts-Glaskastens oder Sandstein-Silos ansteht. So kommt es völlig ungehindert zu kolossalen Scheußlichkeiten, die dann Mosse-Palais oder Riem-Arcaden heißen und mit Palais und Arkade so viel tun haben wie eine Bulldogge mit einem Windhund.

Nur wenn sich einer der politischen Entscheidungsträger zufällig in die Nähe verirrt, findet der steingewordene Albtraum Beachtung. Es gibt die schöne Geschichte, wie der ehemalige Regierende Bürgermeister Berlins Klaus Wowereit einmal vor dem Alexa zu stehen kam, einem rosafarbenen Betonkoloss in der Nähe des Alexanderplatzes, und sich erstaunt zeigte, wie eine solche Monstrosität hatte genehmigt werden können.

Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, warum so viele ästhetisch geschulte Menschen eine solche Abneigung gegen Stuckfassaden und Barockschnecken im öffentlichen Raum hegen. Vielleicht geht es ja um ein heimliches Distinktionsprogramm: Der Silobau für den Plebs, die Beletage exklusiv für einen selbst.

Oder man will als Architekt beweisen, dass man Avantgarde ist und damit zu Höherem berufen. Da passt natürlich keine Putte und kein Steinadler. Das kennt man aus der Geschichte, dass die intelligentesten Menschen ein Faible fürs Monströse haben können.

Das Gewachsene und Verschachtelte lässt wenig Raum für kühne Umgestaltungsträume. Deshalb liebt der Umgestalter ja auch so die Brache, auf der sich klotzen lässt. Leben müssen mit seinen Hinterlassenschaften dann andere.

©Silke Werzinger

Wir sind verloren

Regression zur Mitte nennen Psychologen die Tendenz, nach einem Schock in die alten Muster zurückzufallen. Das gilt nicht nur für Individuen, wie sich zeigt, sondern auch für Parteien und ganze Nationen

Ich war bei den Weinbauern im Ahrtal. Der Winzerverband hatte mich zu seiner Jahresversammlung eingeladen. Ich sollte ein paar aufmunternde Worte zur politischen Lage sagen. Meine Spezialität: auch dem Schrecken noch etwas Heiteres abgewinnen.

Ich kann nur jedem, der an Deutschland verzweifelt, einen Besuch an der Ahr empfehlen. Es ist beeindruckend, was Heimatliebe, Solidarität und Durchhaltewillen bewerkstelligen können. Man sieht noch überall die Spuren der Verwüstung. Aber die Aufbauarbeiten sind erstaunlich weit fortgeschritten.

Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gefunden hätte, nach der Katastrophe wieder von vorn anzufangen. Das Wasser stand acht Meter hoch. Beim Mittagessen berichtete mir meine Sitznachbarin, dass bei ihr im ersten Stock plötzlich ein Auto im Fenster steckte. Andere hatten den Öltank des Nachbarn im Garten. Was sich flussaufwärts befand, hatte sich durch das Wasser auf den Weg gemacht.

Am schlimmsten sei der Gestank gewesen, erzählten die Winzer. Als sich das Wasser endlich verzog, blieb eine ölige Brühe stehen, die alles verseuchte, was sie erfasste. Bis heute ist das Erdgeschoss in vielen Häusern unbewohnbar, weil das Öl in die Wände zog.

Man sollte annehmen, dass die Behörden das ihre tun, das Leben der leidgeplagten Menschen zu erleichtern. Was man halt so denkt, wenn man die Ankündigungen vom Sommer 2021 im Kopf hat. Aber wäre es so, wären wir nicht in Deutschland.

Die Region ist berühmt für ihren Wein. Die Rebstöcke reichen bis an die Straße. Das ist seit Hunderten von Jahren so. Jetzt heißt es: Die unteren zehn Hektar müssen weichen, um eine Schutzzone zu schaffen. Irgendjemand in Mainz hat ausgerechnet, dass die Rebstöcke bei Flut für Rückstau sorgen.

Als ich den Vorsitzenden des Winzerverbandes fragte, um wie viel Meter denn die Reben zum Flutgeschehen beigetragen hätten, sagte er: 1,5 Zentimeter, rechnerisch. Ich dachte, er hätte einen Witz gemacht. Aber ihm war nicht zu Scherzen zumute, wie ich schnell merkte.

Das ist deutsche Gründlichkeit: Wir sparen 1,5 Zentimeter bei der nächsten Acht-Meter-Flut. Dafür opfern wir die Lebensgrundlage von Menschen, die mit Ach und Krach überlebt haben. Wäre ich Weinbauer, würde ich mir einen Dreschflegel nehmen und in die Landeshauptstadt stürmen. Zum Glück bin ich nur Journalist.

Wir gehen an unserer Bürokratie zugrunde. Es ist unausweichlich. Ich sehe keinen Ausweg. Unsere Regelungswut ist eine Schlinge, die sich immer weiter zuzieht. Niemand kann dagegen etwas tun, nicht einmal die Politiker, die Abhilfe versprechen.

Ich mache den Bürokraten keinen Vorwurf. Möglicherweise finden sie selbst absurd, was sie anweisen. Es sind ja keine dummen Menschen, die auf dem Amt arbeiten. Sie sind auch nicht bösartig oder empfinden Freude, ihre Mitmenschen zu quälen. Sie wollen einfach ihre Aufgabe gewissenhaft erfüllen. Und wenn es die Aufgabe ist, für Gewässerschutz oder Flutprävention zu sorgen, dann stürzen sie sich eben darauf.

In der „Zeit“ stand ein Bericht über Pflegekräfte von den Philippinen. Wir brauchen händeringend Menschen, die in der Pflege helfen. Derzeit sind 20000 Stellen unbesetzt. Bis 2030 schätzt man den Bedarf auf 500000 solcher Fachleute. Auf den Philippinen haben sie sich auf Pflege spezialisiert. Es gibt Universitäten, wo man einen entsprechenden Bachelor erwerben kann. Die Bewerber sprechen sogar Deutsch, weil sie parallel noch Sprachkurse absolviert haben.

A perfect match, sollte man meinen: Wir haben die Stellen, in dem südostasiatischen Land haben sie das Personal. Es könnte so einfach sein, wären da nicht die Aufsichtsbehörden. In den zuständigen Bezirksregierungen haben sie nachgerechnet, dass die Philippiner in ihrem Studium nur 1776 Stunden in der praktischen Ausbildung verbracht haben – und nicht die erforderlichen 2500 Stunden.

„Vergleichsgrundlage für Ausbildungen, die im Ausland erworben wurden, ist die jeweilige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des entsprechenden reglementierten Referenzberufs in Deutschland“, heißt es dazu. Zu Deutsch: besser keine Pfleger, als bei der Stundenzahl Abstriche gemacht. In Kanada, Australien oder Großbritannien wird der philippinische Abschluss ohne Probleme anerkannt. Dort brauchen sie ebenfalls dringend Pfleger, weshalb jetzt viele der Pflegekräfte, die nach Deutschland kommen wollten, nach Kanada oder Australien ziehen.

So geht es immer weiter. Eine Bekannte hat sich überlegt, ob sie Lehrerin werden solle. Es würde ihr Spaß machen. Sie arbeitet in der Personalabteilung eines großen deutschen Konzerns, aber sie würde gern etwas anderes machen. Dafür wäre sie auch bereit, auf Gehalt zu verzichten.

Dann hat sie sich erkundigt, was man tun muss, um Lehrer zu werden. Sie hat gehört, dass Quereinsteiger gesucht würden. Sie hat ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, Betriebswirtschaft und Jura. Aber das zählt nicht. Ohne Staatsexamen plus Referendariat läuft gar nichts. Wo kämen wir denn hin, wenn wir Menschen auf unsere Kinder losließen, die aus der Praxis kommen und Freude am Unterrichten haben?

Noch ein Beispiel gefällig? Deutschland sucht 100000 Erzieher. An vielen Orten bleiben deshalb Kindertagesstätten geschlossen, oder die Eltern müssen ihre Kinder früher abholen, als die Arbeit eigentlich erlaubt. Es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, so ist es nicht. Im Schreiben von Gesetzen sind wir groß. Leider sind wir nicht ganz so groß, wenn es darum geht, die schönen Pläne mit Leben zu füllen.

Meine Kinder besuchen eine private Kita, da kann man bei den Regeln weniger streng sein. Eine Betreuerin kommt aus Wales, eine andere aus Thailand. Ich habe nicht nach den Abschlüssen gefragt, aber es würde mich wundern, wenn die Erzieher, die nicht aus Deutschland stammen, über alle Zertifikate verfügen würden. Was ihnen an staatlich geprüfter Qualifikation fehlen mag, machen sie durch Liebe und Zuwendung wett. Ich habe von meinen Kindern noch nie Klagen vernommen. Aber möglicherweise bin ich zu sorglos.

Wenn ich das nächste Mal das Wort „Zeitenwende“ höre, muss ich hysterisch lachen. Ich bin von Berufs wegen Skeptiker. Wenn jemand sagt, dass nun alles ganz, ganz anders werde, denke ich: schauen wir mal. Aber dass wir so gar keine Anstalten machen, uns auf die veränderte Wirklichkeit einzustellen, verblüfft mich dann doch.

Regression zur Mitte nennen Psychologen die Tendenz des Menschen, nach dem ersten Schock in die alten Bahnen zurückzukehren. Das gilt nicht nur für Individuen, wie man sehen kann, sondern auch für Großorganisationen wie Parteien.

Die Grünen ziehen ihre Energiewende durch, ungeachtet der Tatsache, dass sich mit dem Ausfall von russischem Gas die Geschäftsgrundlage grundlegend geändert hat. SPD setzt weiter unverdrossen auf das Konzept Handel durch Wandel. Als Morgengabe bei der Kanzlerreise nach Peking hat Olaf Scholz den Verkauf von 24,9 Prozent am Hamburger Hafen an das chinesische Staatsunternehmen Cosco im Gepäck.

Anfang der Woche wurde bekannt, dass das Kanzleramt, gegen alle Widerstände, auch den Einstieg der Chinesen bei der Chipfirma Elmos befürwortet. Die Technik sei veraltet, damit könnten die Chinesen nichts anfangen, heißt es jetzt zur Beruhigung. Aber wenn sich damit nichts anfangen lässt, warum wollen sich die Chinesen dann partout bei Elmos einkaufen? Ich hege eine Reihe von Vorurteilen gegenüber Chinesen. Dass sie Trottel sind, gehört nicht dazu.

Es gehe darum, vor den Chinesen die deutschen Argumente auszubreiten, um sie zum Nachdenken zu bewegen, lautet die Erklärung zur Chinareise des Kanzlers. Ich sehe es bildlich vor mir, wie der Bundeskanzler auf den chinesischen Präsidenten trifft, und der nach einem langen, vertrauensvollen Gespräch sagt: „Ich habe mir die Argumente unserer deutschen Freunde angehört. Sie haben mich überzeugt. Wir werden heute noch unsere Unterstützung für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine einstellen und Menschenrechte und Klimaschutz zur Priorität im Zehnjahresplan machen.“

So wird es kommen, ich bin ganz sicher.

©Michael Szyszka

Shithole-Sender

Ein junger Journalist wird von seinem Arbeitgeber, dem RBB, des Rassismus bezichtigt. Sein Vergehen? Er hat eines der brutalsten Länder der Welt als „Shithole-Country“ bezeichnet. Das reicht, um bei den Programmverantwortlichen in Ungnade zu fallen

Am Nachmittag des 18. Oktober setzte der Journalist Jan Karon einen Tweet ab, der ihm erst wütende Angriffe von linker Seite und dann eine Schmähung durch seinen Arbeitgeber eintragen sollte.

Der Tweet lautete folgendermaßen: „Somalia ist ein Shithole-Country mit Steinzeitkultur. Wenn ein Migrant aus Somalia zwei Menschen absticht und zwei weitere verletzt, ist das ein Problem. Wenn dies 800 Meter von deinen Eltern am Ort passiert, an dem du aufgewachsen bist, ist das schockierend.“

Wenige Stunden bevor Karon das schrieb, war ein Mann in Ludwigshafen mit einem Küchenmesser auf Passanten losgegangen und hatte wahllos auf die Umstehenden eingestochen. Karon ist in Ludwigshafen groß geworden, im Stadtteil Oggersheim. Als er auf den Fotos vom Tatort einen Drogeriemarkt sah, in dem Polizisten erste Beweise sicherten, erkannte er sofort den Rossmann, bei dem er früher einkaufen war. Das erklärt möglicherweise Betroffenheit und Wortwahl.

Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Verfolger an die Fersen des jungen Mannes hefteten. „Hier macht sich ein als ,freier Reporter‘ verkleideter Rassist breit“, schrieb die Internet-Hetz- und Nervensäge Nils Gerster (2684 Follower), ein unterbeschäftigter Politikwissenschaftler, der sich auf den verspäteten Kampf gegen Nazis verlegt hat. Karon sei vielleicht kein Rassist, sein Tweet aber eindeutig rassistisch, erklärte der Blogger und IT-Anwalt Thomas Stadler (18443 Follower), eine andere (Klein-)Größe des linken Twitter-Kosmos.

Kurz vor Mitternacht, zu einem Zeitpunkt, an dem andere schon zu müde oder zu betrunken sind, um sich noch öffentlich zu äußern, wandte sich schließlich die Autorin Jasmina Kuhnke (138091 Follower) direkt an den Sender, für den Karon arbeitet. „Hallo ARD-Presse und RBB24“, schrieb Kuhnke. „Wisst ihr, was ein (freier?) Mitarbeiter hier auf Twitter von sich gibt? Greift hier nicht sogar Strafgesetzbuch (StGB) § 130 Volksverhetzung? Eine Stellungnahme eurerseits wäre hier angebracht!“

Wenn es ein Land gibt, auf das die Bezeichnung Shithole zutrifft, dann Somalia. Nach allen Kriterien, an denen sich zivilisatorische Standards bemessen, ist das Land die Vorhölle auf Erden. 98 Prozent der Frauen sind genitalverstümmelt, praktisch die gesamte männliche Bevölkerung ist auf Droge. Schwule werden sofort an die nächste Tür genagelt, und bei der Christenverfolgung belegt das Land einen der allerersten Plätze. Es mag Leute geben, die Karons Ausdrucksweise trotzdem für unangebracht halten. Aber ist sie volksverhetzend?

Doch, das ist sie, wenn man dem RBB glauben darf, der ARD-Anstalt, für die Karon über eine Berliner Produktionsgesellschaft hochgelobte Reportagen erstellt. Es ist nach Ansicht des Senders sogar noch schlimmer: Wer sich so äußert wie der junge Reporter (Karon ist gerade 30 Jahre alt geworden), der macht sich der Verbreitung von Menschenfeindlichkeit schuldig.

„Wir verstehen und teilen die Kritik an den Äußerungen und sind mit der Produktionsfirma im Gespräch über mögliche Konsequenzen. Wir als RBB verurteilen jegliche Form von Rassismus.“ So lautete, zwölf Stunden nachdem Kuhnke eine Stellungnahme gefordert hatte, eine Erklärung aus der Pressestelle. Was bis eben die Meinung von ein paar Internet-Krakeelern war, hatte damit den Rang eines quasioffiziellen Verdikts erreicht.

Ich habe mit Karon telefoniert. Innerhalb eines Tages von einer Nachwuchshoffnung, die auch schon für so fortschrittliche Medien wie „Zeit Online“ oder „Vice“ gearbeitet hat, zu einer Art Paria, der von einer Anstalt des öffentlichen Rechts als Rassist hingehängt wird – das kommt nicht alle Tage vor. Da will man doch wissen, mit wem man es zu tun hat.

Man kann sich die Filme, in denen Karon als Moderator eine prominente Rolle einnimmt, online ansehen, sie sind unter der Überschrift „Schattenwelten Berlin“ in der Mediathek verfügbar. In einem Feature geht es um zweifelhafte Wohnungsdeals in der Hauptstadt, in einem anderen über die Rave-Kultur im Untergrund der Stadt. Für November ist die Lieferung einer neuen Staffel verabredet.

©Sören Kunz

Man sollte annehmen, dass sich die Sendeleitung vor den Mitarbeiter stellt, mit dessen Arbeiten man sich schmückt. Oder zumindest mal bei ihm nachfragt, was er sich bei seiner Äußerung gedacht hat, bevor man auf Beschuldigungen reagiert. Auch Fernsehanstalten haben eine Fürsorgepflicht. Aber das scheint beim RBB niemand zu interessieren. „Wir stehen zu unseren Leuten“ ist ein Satz, den man toll findet, solange er von Chefredakteuren auf der Leinwand geäußert wird. Im wirklichen Leben fliegen beim kleinsten Gegenwind die einfachsten Anstandsregeln aus dem Fenster.

Auch alle Hilferufe gingen ins Leere. Eine SMS an die Leiterin Reportage, in der Karon darum bat, dass sich der Sender vor ihn stellen möge, blieb erst einmal ohne Antwort. „Liebe Ute, ich weiß nicht, ob du gerade mitbekommst, was passiert“, schrieb er und schilderte die Anfeindungen, denen er sich ausgesetzt sah, bis hin zu Gewaltandrohungen. „Ich würde mir vor diesem Hintergrund höflich Solidarität wünschen.“

Erst nachdem der RBB den Stab über den Kollegen gebrochen hatte, kam es zu einem Telefonat. Man habe Schaden vom Haus abwenden müssen, erklärte die Ressortleiterin. Die Äußerungen zu Somalia seien kontrovers gewesen, es gehe darum, dass man keine rechten Narrative bediene. Es gab Zeiten, da war „kontrovers“ ein Wort, das auch im Rundfunkhaus in der Masurenallee in Berlin noch einen guten Klang hatte.

Viel war in den vergangenen Wochen vom Finanzgebaren an der Spitze des RBB die Rede. Von Massagesitzen für die Intendantin, zu teurem Parkett und falsch abgerechneten Abendessen. Dass dies ein Skandal sei, darauf können sich alle sofort einigen. Aber für viel bedenklicher als ein paar unkorrekte Spesenabrechnungen halte ich die Feigheit, die sich bis in die höchsten Etagen zieht. Wie es aussieht, gibt es nicht nur Shithole-Countries, sondern auch Shithole-Sender.

Was ist die Lektion, die junge Journalisten lernen, wenn eine Sendeleitung nach der ersten Aufforderung einknickt? Dass es sich auszahlt, mutig seine Meinung zu vertreten, Risiken einzugehen, sich mit Pressure-Groups anzulegen? Eher nicht. Wobei einknicken, genau besehen, das falsche Wort ist. Das setzt ja voraus, dass es zuvor so etwas wie Widerstand gegeben habe. Leute wie die RBB-Leiterin Reportage kommen gar nicht auf die Idee, sich dem Mob entgegenzustellen, weil sie längst flach auf dem Boden liegen.

Es wäre so einfach. Man müsste nur sagen: Mit uns nicht. Es ist in dem Fall – wie so oft – ja noch nicht einmal so, dass der Presserat kopfstünde oder ganz Twitter-Deutschland eine Erklärung verlangen würde. Es sind in der Regel immer dieselben Leute, die im Netz Bambule machen, wenn jemand die von ihnen vorgegebenen Sprachregeln verletzt. Ich könnte mühelos ein Diagramm mit 30 bis 40 Namen der Schreihälse erstellen, die immer dabei sind. Aber viel mehr sind es meist eben auch nicht.

Die Bedrohung für die Meinungsfreiheit geht nicht von Aktivisten wie Jasmina Kuhnke aus, die offensichtlich mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen, als bis tief in die Nacht vermeintliche Feinde auszugraben und anzuzählen. Die wahren Totengräber der Meinungsfreiheit sind die Leute an den Schalthebeln, die aus Bequemlichkeit oder Opportunismus nachgeben.

In vielen Chefredaktionen und Programmetagen denken sie, dass es den Aufruhr dämpft, wenn sie den Krawallmachern entgegenkommen. Interessanterweise tritt meist das Gegenteil ein. Je mehr man Verständnis zeigt, desto eher fühlen sie sich auf der anderen Seite ermuntert nachzulegen. Diese Leute geben erst Ruhe, wenn das Opfer am Boden liegt und nicht mehr zuckt – oder wenn sie zu ihrer Überraschung ignoriert werden. Dann fällt ihnen außer einem großen Lamento nicht mehr viel ein.

Auch das ist dann schnell vorbei. Es sind ja, wie gesagt, nur 30 bis 40 Leute.

Alles gewusst, alles vorausgesehen

Wenn es einen Preis für Selbstgerechtigkeit gäbe, Angela Merkel würde ihn mühelos gewinnen. Sie verpasst keine Gelegenheit, um zu sagen, wie sehr sie mit sich im Reinen sei. Und nun kommen auch noch die Memoiren!

Vor vier Monaten saß Angela Merkel im Berliner Ensemble und sagte, sie werde nach ihrem Abschied aus dem Kanzleramt nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Das war eine kleine Gemeinheit gegenüber dem neben ihr sitzenden Reporter Alexander Osang, weil man sich unwillkürlich fragte, ob der Gesprächsabend mit ihm auch schon als Wohlfühltermin angelegt war. Aber man durfte ihre Aussage so verstehen, dass sie sich in Zukunft rarmachen würde.

Leider hat sie sich nicht daran gehalten. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Kanzlerin a.D. nicht irgendwo auftaucht und Ratschläge erteilt. Ende September war sie bei der Eröffnungsfeier der Kohl-Stiftung in Berlin, wo sie über sich, Kohl und Putin sprach. Dann hielt sie die Festrede zum 1100-jährigen Stadtjubiläum in Goslar, natürlich mit einem Blick nach Russland. Dann eine Woche später schon die nächste Festrede, diesmal anlässlich des 77. Geburtstags der „Süddeutschen Zeitung“, ebenfalls unter Berücksichtigung des deutsch-russischen Verhältnisses.

Zwischendurch war sie in New York, um den Preis des UN-Flüchtlingswerks für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise entgegenzunehmen, gefolgt von einem Auftritt in Lissabon, wo sie erklärte, weshalb sie ihre Entscheidung, bei der Energieversorgung ganz auf Russland zu setzen, in keiner Weise bereue.

Sie will recht behalten. Unbedingt.

Wandel durch Handel? Hat sie nie dran geglaubt. Putin als Kriegsherr? Hat sie sich nie Illusionen gemacht. Der Überfall auf die Ukraine? Hat sie lange kommen sehen.

Natürlich weiß sie auch genau, wie man es besser machen müsste. Den Verantwortlichen in der Regierung rät sie, mehr Führung zu zeigen. Für die Außenministerin hält sie den Ratschlag bereit, schon jetzt daran zu denken, wie man Russland wieder in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden könne. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, würde ich sagen, dass die Leute nicht vor Lachen vom Stuhl kippen, wenn die 16-Jahre-Kanzlerin zu ihnen spricht. Aber so kann wahrscheinlich nur jemand denken, der nicht bei der „Süddeutschen“ beschäftigt ist.

Ich habe über alle Bundeskanzler geschrieben. Adenauer hielt keinen seiner Nachfolger für so geeignet wie sich selbst. Auch Kohls Dickfelligkeit war legendär. Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn, dazwischen gab’s für ihn nichts. Aber in puncto Selbstgerechtigkeit bewegt sich Angela Merkel noch einmal in einer ganz eigenen Liga.

Man sieht es ihr auch an. Sie hat diesen Hals von Menschen bekommen, die meinen, alles im Leben richtig gemacht zu haben. Der Kopf sitzt so fest, dass nicht mehr viel Spielraum bleibt, außer für ein Nicken der Selbstzustimmung.

Der „Spiegel“ hat vergangene Woche das Ergebnis einer verdienstvollen Recherche zur Haltung ihrer Regierung zu Nord Stream 2 vorgelegt. Ein Redakteursteam hatte sich über Monate um Einsicht in das bislang geheim gehaltene Gutachten bemüht, in dem das damals noch von Peter Altmaier geführte Wirtschaftsministerium die Risiken einer weiteren Gaspipeline nach Russland bewerten sollte. Es gab Warnungen, vor allem aus Osteuropa und den USA, dass Deutschland durch die Inbetriebnahme in noch größere Abhängigkeit vom Kreml geraten würde.

Sonnigste Einschätzung hingegen aus Berlin: Die neue Pipeline werde die europäische Versorgungssicherheit nicht schwächen, sondern im Gegenteil erhöhen. Gazprom habe grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge, es stelle nur den Transport sicher. Mehr Röhren, mehr Gas, mehr Verlässlichkeit – so lautete das Fazit vier Monate vor Kriegsausbruch und acht Monate bevor Putin den Gashahn schloss.

Alles vorausgesehen? Alles richtig gemacht?

Von den vielen Ministern, die Angela Merkel dienten, war Peter Altmaier immer der Treueste der Treuen. Nie hätte er es gewagt, gegen die Chefin aufzumucken oder eine Entscheidung in die Wege zu leiten, die sie hätte unglücklich machen können. Man darf also seine Einschätzung durchaus der Kanzlerin zurechnen. Die Sache ist eindeutig: Keine Regierung hat uns so abhängig gemacht von der Energiezufuhr durch einen uns feindlich gesonnenen Staat wie die von Angela Merkel. In ihrer Amtszeit ist die Abhängigkeit von russischem Gas von 43 Prozent auf 55 Prozent gestiegen. Aber wie gesagt: auf weiter Flur kein Grund zur Reue.

©Silke Werzinger

Das Dumme ist: Es wird nicht besser. Im Kanzleramt sitzt ein Mann, der so sein will wie seine Vorgängerin. Wenn es für ihn ein Vorbild gibt, an dem sich Olaf Scholz orientiert, dann die Frau mit dem Selbstbewusstsein einer göttlichen Kaiserin. Als er in den Wahlkampf zog, war sein Versprechen: Ich bin so wie Angela Merkel, nur ohne Raute. Man hat ihn dafür verspottet. Aber die Leute, die Merkel wiedergewählt hätten, wenn man sie gelassen hätte, waren zahlreich genug, um ihn ins Kanzleramt zu bugsieren.

Noch besser, als im Nachhinein recht zu behalten, ist es, alles vorher gewusst zu haben. Auftritt Olaf Scholz beim Maschinenbau-Gipfel am Dienstag vergangener Woche. Putin setzt Gas als Waffe ein? Zitat Scholz: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“

Gerhard Schröder konnte immerhin von sich sagen, dass er in Putins Reptilienaugen das Gute gesehen habe. Merkel und Scholz haben sich nach eigener Aussage nie Illusionen hingegeben. Wie soll man ihr Verhalten nennen? Sie wussten, wozu Putin in der Lage ist, und haben ihm trotzdem die Gaswaffe in die Hand gedrückt und sogar noch durchgeladen? Blauäugigkeit fällt als Erklärung damit aus. Wäre ich Rechtsbeistand der beiden, würde ich sagen: Vorsicht, eine Klage wegen Landesverrats ist schnell auf den Weg gebracht. Besser sich auf Fahrlässigkeit herausreden. Klingt nicht so gut, erspart einem aber im Gegensatz zu Vorsatz eine Menge Scherereien.

Würde das Eingeständnis, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, die Situation, in der wir uns befinden, besser machen? Würde es nicht. Aber es könnte dazu beitragen, dass man den gleichen Fehler nicht wiederholt. Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsvorsorge. Wer erkennt, wo er mit seiner Einschätzung danebengelegen hat, ist das nächste Mal möglicherweise gewarnt.

Die meisten denken bei China an den riesigen Absatzmarkt. Aber wenn wir nicht aufpassen, tauschen wir gerade bei der Energieproduktion eine Abhängigkeit gegen die andere ein. Keine anderen Energiequellen verschlingen, über ihren Lebenszyklus gerechnet, so viele seltene Metalle und Erden wie Photovoltaik und Windkraft. Und raten Sie mal, wo ein Großteil der Metalle herkommt, die man benötigt, um Solarpaneele und Windräder herzustellen? Es ist leider nicht Europa, sondern das Land der Mitte.

Angela Merkel arbeitet jetzt an ihren Memoiren, zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. „Das Buch wird einen exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D.“, heißt es in der Verlagsankündigung von Kiepenheuer & Witsch, wo die Biografie im Herbst 2024 erscheinen soll. Die Autorin lässt sich mit dem Satz zitieren: „Ich freue mich, zentrale Entscheidungen und Situationen meiner politischen Arbeit zu reflektieren und sie, auch mit Rückgriff auf meine persönliche Geschichte, einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, was in den Memoiren stehen wird. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin ist mit sich im Reinen. Ihre Politik war im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Wer es anders sieht, hat nichts begriffen und nichts verstanden. Ein ideales Geschenk für Masochisten. Aber auch davon gibt es in Deutschland genug, sodass zumindest einer schönen Platzierung auf der Bestsellerliste nichts im Wege steht.

Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben

Darf man in der Krise Scherze machen? Die Frage ist politischer, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn etwas die Vertreter von ganz rechts und ganz links verbindet, dann ihre furchtbare Humorlosigkeit

Ein Redakteur der „Jungen Freiheit“ hat ein Interview mit mir geführt. Es ging um die Lage in Deutschland oder wie sie bei der „Jungen Freiheit“ sagen würden: die drängenden Fragen der Zeit. Also: die Verarmung des Landes in der Energiekrise, kommende Bürgeraufstände sowie die Umerziehung der Jugend durchs öffentlich-rechtliche Fernsehen – in dieser Reihenfolge.

Ich glaube, sie waren in der Redaktion ein wenig überrascht, dass ich gleich zugesagt hatte. Viele Leute überlegen, ob sie mit der „Jungen Freiheit“ reden sollen, und sagen dann ab. Das Blatt gilt als so rechts, dass man es besser meidet.

Ich bin kein regelmäßiger Leser. Aber jedes Mal, wenn ich die Zeitung zur Hand genommen habe, fand ich nichts, was nicht vor zehn Jahren in der CDU noch selbstverständlich gewesen wäre. Das reicht heute, um sich unmöglich zu machen. Ich würde außerdem auch mit einer Linkspostille wie der „Jungen Welt“ oder dem „Neuen Deutschland“ reden, wenn sie mich bitten würden. Warum die Gelegenheit ausschlagen, Leser zu erreichen, die man sonst nie erreichen würde? Da denke ich wie Dunja Hayali.

Das Interview war auf der Titelseite angekündigt. Als Überschrift hatte die Redaktion einen Satz gewählt, den ich im Zusammenhang mit dem Gender-Unfug geäußert hatte und den die Redakteure für so provokant hielten, dass sie sich maximale Aufmerksamkeit versprachen, wenn sie ihn groß druckten. „Liebe Leute, entspannt euch!“, lautete die Schlagzeile. Ich musste lachen, als ich das sah. Mir hat das einiges über den Gemütszustand im rechtskonservativen Milieu gesagt.

Andererseits: Der Chefredakteur kennt seine Leser, wie ich feststellen musste. Die Reaktionen gaben ihm recht. Ich hätte offensichtlich keine Ahnung, was im Land los sei, schrieb ein sichtlich aufgebrachter Abonnent. Ob man mich die letzten zehn Jahre irgendwo eingefroren oder ohne Handy auf eine Weltumseglung geschickt habe, fragte ein anderer erbost. Mein Einwand, dass ich mich auch in der Krise an die Weisheit des indischen Gurus Osho hielte, wonach Bewusstsein und Entspannung zwei Seiten derselben Medaille seien, trug nicht dazu bei, die Wogen zu glätten.

Darf man in der Krise noch Scherze machen? Oder ist das zu frivol? Und was wäre die angemessene Haltung? Betroffene Anteilnahme? Stille Wut? Offene Empörung?

Über die Grenzen des Humors war es auch in dem Interview mit der „Jungen Freiheit“ gegangen. In meinen Kolumnen würde ich immer so schön humorig über die Dinge sprechen, aber sei das angemessen? Viele Deutsche würden durch Inflation und Energiepreise in Not geraten, manche Arbeit oder Wohnung verlieren, andere ihr Lebenswerk, hielt mir der zuständige Redakteur entgegen. „Etliche werden daran sterben, weil Angst und Druck Beschleuniger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind, und einige werden sich erfahrungsgemäß das Leben nehmen.“

Für Humor ist nie die richtige Zeit, lässt sich erwidern. Irgendwo passiert immer etwas Schreckliches. Wenn Menschen nicht von Herz-Kreislauf-Erkrankungen dahingerafft werden, ertrinken sie als Flüchtlinge im Mittelmeer, oder in Frankreich tobt eine Feuersbrunst, oder Afrika wird gerade von einer verheerenden Dürre heimgesucht. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es auf die Entfernung zum Geschehen ankommt: Je geografisch näher der Schrecken, desto problematischer das Scherzwort. Oder dass der Humor dort zu enden habe, wo Deutsche betroffen seien. Das wäre allerdings eine humormoralische Erweiterung, über die man noch einmal diskutieren müsste.

Humorlosigkeit ist die Geißel unserer Zeit. Früher waren es die Linken, die einen mit heiligem Ernst auf die Plagen der Welt hinwiesen, heute die Rechten. Ich erkenne bei Podiumsdiskussionen auf 50 Meter Entfernung den Typ, der einen nach Ende der Veranstaltung in Beschlag nimmt, wenn man sich nicht rechtzeitig verabschiedet. Praktische Freizeitkleidung, eher über 50 statt unter 50, Kurzhaarschnitt, vorgerecktes Kinn.

Das Thema ist nahezu egal. Entweder sind es die Corona-Maßnahmen (ein Verbrechen!) oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk (Zwangsgebühren!) oder der Wirtschaftskrieg mit Russland (keine Waffen für die Ukraine!), was für Empörung sorgt. Es gibt immer etwas, das geeignet ist, einen in Rage zu versetzen, wenn man zu Zornanfällen neigt.

Rege ich mich nie auf? Aber selbstverständlich tue ich das. Das bringt schon mein Beruf mit sich. Wer alles mit der Gelassenheit des buddhistischen Mönchs betrachtet, wird nie einen Satz schreiben, der Schwung und Kraft hat. Aber ich versuche, mir die Empörung nicht anmerken zu lassen. Ich neige auch nicht zum übermäßigen Schwarzsehen, das hilft ebenfalls.

©Sören Kunz

Das Motto, an das ich mich halte, lautet: „Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“. Es stammt von dem österreichischen Dramatiker Johann Nestroy, der nicht von Ungefähr als Vollender des Volkstheaters gilt. Wenn Deutschland untergeht, kann ich es auch nicht ändern. Aber ich kann verhindern, dass ich darüber den Kopf verliere.

Wenn man mich fragen würde, was die politischen Vertreter ganz links und ganz rechts so unbekömmlich macht, wäre meine Antwort: diese schreckliche Verspanntheit im Auftritt. Ich mag Alice Weidel und Tino Chrupalla furchtbar unrecht tun. Möglicherweise sind sie die lustigsten Menschen der Welt. Aber ich fürchte, wenn man neben ihnen zu sitzen käme, müsste man sich erst einmal einen Vortrag anhören, wie wir von hinten und vorne belogen und betrogen werden.

Ich habe Alice Weidel einmal im Bundestag lachen hören. Es war kein fröhliches Lachen, muss man leider sagen, eher ein triumphierendes Aufstampfen. Wenn man zu lange in den Abgrund schaut, schaut er irgendwann zurück. Das ist das Problem bei allen, die sich zu viel mit Untergangsszenarien beschäftigen.

Vielleicht erwischt es uns dieses Mal ja wirklich. Wer will das ausschließen? Auch mich erfasst leichter Schwindel, wenn ich die Rettungspakete sehe, die sie in Berlin schnüren, um der Krise Herr zu werden. In den diversen Schatten- und Nebenhaushalten liegt bald mehr Geld als im regulären Bundeshaushalt. Was für Putin seine Spezialoperation ist, das ist für die Ampel das Sondervermögen. Jeder weiß, dass es sich um Schulden handelt, es darf nur nicht so heißen.

Wenn mich etwas irritiert, dann die seltsame Schicksalsergebenheit, die in Teilen der Politik und der Medien um sich gegriffen hat, so als sei der Abstieg ausgemachte Sache. Der „Spiegel“ hat vor drei Wochen in einer Titelgeschichte die Kräfte geschildert, die an Deutschland zerren. Ich habe keinen Zweifel, dass alles, was die Kollegen beschrieben, seine Richtigkeit hat. Aber ich habe einen Satz vermisst, wie man dem Schicksal trotzen könnte. Stattdessen las ich nur Überlegungen, wie sich der Mangel möglichst gerecht verteilen ließe.

Kann man sich vorstellen, dass die Amerikaner es einfach hinnehmen würden, wenn man ihnen den Untergang prophezeit? Natürlich nicht. Sie würden alles in ihrer Kraft Stehende tun, um den Abstieg aufzuhalten. Selbst die Russen haben es geschafft, den Absturz ihrer Wirtschaft abzufedern. Irgendwann gibt es keinen Lada mehr und keine Tupolev, die man für Ersatzteile ausschlachten könnte. Aber bis dahin halten sie die Dinge sogar in Russland am Laufen.

Humor ist eine Form der Distanzgewinnung, auch zu sich selbst. So wie Manieren und Umgangsformen das Leben mit anderen erträglicher machen, weil sie uns von direkter Auseinandersetzung verschonen, so sorgen auch Ironie und Selbstironie für Abstand und damit Erträglichkeit.

Ich war in dieser Hinsicht immer ein Riesenfan von Boris Johnson. Er war möglicherweise nicht die beste Besetzung als Premierminister, aber als Abgeordneter war er eine Klasse für sich. Ich glaube, Johnson hat deshalb so viele gegen sich aufgebracht, weil er selbst dann noch Witze auf eigene Kosten riss, wenn alle erwarteten, dass er jetzt endlich reumütig zu Kreuze kriechen würde.

Auch das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil der ironischen Weltbetrachtung: Man hat immer ein Ass mehr im Ärmel, als diejenigen denken, die glauben, man sei blank.

Grünes Schrumpfen

Bei keinem politischen Projekt ist die Zahl der Irrtümer so groß wie bei der Energiewende. Eine Vordenkerin der Grünen spricht nun die Wahrheit aus: Wer ganz auf Wind und Sonne setzt, will die unumkehrbare Deindustrialisierung des Landes

Wie sieht Deutschland nach der endgültigen Energiewende aus? Ein Paradies, wenn man den Broschüren der Grünen glauben kann. Friedlich grasen die Kühe auf satten Wiesen, während sich am Horizont sanft das Windrad dreht. Die deutsche Familie sitzt glücklich vereint am Esstisch – schwarz und weiß, alt und jung, die Oma in der Mitte – und lauscht gebannt, wie Annalena Baerbock in den „Tagesthemen“ von den neuesten Siegen der feministischen Außenpolitik berichtet. Die Vereinigung von Moderne und Biedermeier: So schön kann Transformation sein.

Es gibt auch eine andere, weniger werbetaugliche Sicht. Vertreten wird sie von Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin bei der „taz“ und damit dem Blatt, das sich wie kein anderes in Deutschland der Ökobewegung verpflichtet fühlt. Herrmann spricht mit Blick auf die Energiewende vom grünen Schrumpfen. Wenn Sie jetzt denken, das sei sicher wieder so ein polemischer Seitenhieb gegen die Grünen: Weit gefehlt! Frau Herrmann meint das positiv. Wenn sie von Schrumpfen spricht, hält sie das für etwas Erstrebenswertes.

Sie hat ein ganzes Buch dazu geschrieben. Es heißt „Das Ende des Kapitalismus“. Darin entwickelt sie die Utopie einer ökologischen Planwirtschaft, in der ein Komitee von Klima-Weisen am Rückbau des Systems arbeitet, das über viele Jahre Wachstum und Wohlstand generierte. Richten Sie sich besser beizeiten darauf ein, dass Bananen aus Costa Rica oder Trauben vom Kap der Vergangenheit angehören!

So sieht die grüne Zukunft aus: Man nutzt nur noch regionale und saisonale Produkte, weil der Flugverkehr weitgehend eingestellt ist. Die nächste Urlaubsreise führt nicht nach Sardinien, sondern bestenfalls nach Rügen. Natürlich kann man weiter Freunde treffen, aber die sprechen jetzt alle wieder Deutsch. São Paulo, Bali oder Mumbai sind so weit entfernt wie zu Zeiten Marco Polos.

Notwendige Reparaturen? Muss man selbst vornehmen. Ein neues Sakko oder Kleid? Nur wenn Sie wissen, wie man eine Nähmaschine bedient. Die meisten Gebrauchsgegenstände teilt man ohnehin mit den Nachbarn: Rasenmäher, Bohrmaschinen, Spielzeuge, Bücher.

Die gute Nachricht ist: Waschmaschinen, Computer und Internet sollen bleiben. „Niemand muss fürchten, dass wir wieder in der Steinzeit landen und in Höhlen wohnen, wenn der Kapitalismus endet“, beruhigt Frau Herrmann ihre Leser. Es gibt halt nur von allem weniger beziehungsweise: Wenn man das Glück hat, einen Computer zu besitzen, dann ist es ein Gerät aus der Zeit, in der man noch an Wachstum glaubte.

Warum die Wende zum Weniger? Ganz einfach: Mit Sonne und Wind allein lässt sich kein Industrieland am Laufen halten. Energie gibt es im Übermaß, daran liegt es nicht. Die Sonne schickt 5000 Mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, selbst wenn sie alle wie die Europäer lebten. „Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht“, schreibt Frau Herrmann. „Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – entweder in Batterien oder als grüner Wasserstoff. Dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird.“

Ergo: Wenn die grüne Energie für alle reichen soll, bleibt nur grünes Schrumpfen. Ich bin selten einer Meinung mit Leuten, die bei der „taz“ arbeiten. Aber ich glaube, Ulrike Herrmann hat recht. Kapitalistische Wachstumsphilosophie und grüne Revolution gehen nicht zusammen. Ich bin froh, dass es jemand mal so deutlich ausspricht. Die meisten Leute, die für die Grünen unterwegs sind, tun so, als ob sich alles vereinbaren ließe: der Volvo vor der Tür – und die Klimarettung on the go.

Ich bin mir nicht sicher, ob allen klar ist, was es bedeutet, wenn man sich von fossilen Energieträgern verabschiedet, wie es die Klimabewegung verlangt. Man kann auch mit weniger glücklich sein. Die glücklichsten Menschen leben angeblich in Bangladesch, wie ich einer älteren Studie zum Glücksvergleich entnommen habe. Andere sehen beim Wohlbefinden die Finnen in Führung.

©Silke Werzinger

Wie auch immer: Es wird sich einiges ändern, wenn der Koalitionsvertrag der Bundesregierung endlich abgearbeitet ist. Kaum vorstellbar, dass wir zum Beispiel den medizinischen Standard halten können, an den wir uns gewöhnt haben. Eine beruhigende Auskunft während der Pandemie lautete, kein Land würde über so viele Intensivbetten pro Einwohner verfügen wie die Bundesrepublik. Glaubt jemand ernsthaft, dass es so bleibt, wenn wir aus Atom und Kohle ausgestiegen sind?

Wie gesagt: Man kommt auch mit weniger zurecht. Ulrike Herrmann empfiehlt die siebziger Jahre als Referenzjahrzehnt. Auch damals habe man nicht schlecht gelebt, sagt sie: „Es war das Jahr, als Argentinien Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von ,Star Wars‘ in den Kinos lief.“

Einverstanden. Man sollte nur nicht das Pech haben, an Leberkrebs oder einem degenerativen Muskelleiden zu erkranken. Es hat ja seinen Grund, warum die Lebenserwartung heute im Schnitt bei 81 Jahren liegt. Andererseits: 72 Jahre ist auch ein schönes Alter, um abzutreten. Unter dem Gesichtspunkt des Klimaschutzes ist jedes Lebensjahr eh eines zu viel.

Wir hören jetzt, wir würden in Schwierigkeiten stecken, weil die Energiewende nicht entschieden genug vorangetrieben wurde. Aber man kann die Dinge auch umgekehrt sehen. Kein Land in Europa hat sich den Ausbau erneuerbarer Energien so viel Geld kosten lassen wie Deutschland. Schon vor dem Überfall auf die Ukraine hatten wir die höchsten Strompreise in der EU. Der grünen Logik nach müssten wir heute deutlich besser dastehen als unsere Nachbarn, doch das Gegenteil ist der Fall.

Die Wahrheit ist: Das Rückgrat der deutschen Energiewende waren immer russisches Gas und französischer Atomstrom. Robert Habeck hat es unfreiwillig eingestanden, als er seine Anhänger darauf vorbereitete, dass man den Ausstieg aus der Kernenergie um ein paar Monate verschieben müsse. Weil wir uns auf Russland und Frankreich nicht mehr verlassen können, muss nun Atomkraft aus Bayern und Baden-Württemberg die Lücke schließen – jedenfalls bis April.

Danach soll es die Wärmepumpe richten, so steht es im Koalitionsvertrag. 500000 Wärmepumpen sollen pro Jahr in deutschen Haushalten eingebaut werden. Ich bin gespannt, wie das funktionieren wird. Der Weg zur Energiewende ist gepflastert mit falschen Annahmen. Erinnern Sie sich noch an Jürgen Trittin, den Vater des Dosenpfandes, der den Deutschen versprach, die Energiewende werde sie nicht mehr kosten als eine Kugel Eis? Das ist eine sehr teure Kugel Eis geworden.

Die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker, lange Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, hat die Pläne in einem Interview im „Spiegel“ bewertet. Habeck sollte diesen Irrweg beenden, sagte sie. Die meisten Häuser in Deutschland seien für den Einsatz von Wärmepumpen nicht geeignet. Wer es trotzdem versuche, handele sich eine horrende Stromrechnung ein. Es gibt nicht mal genug Geräte oder Handwerker, die die Pumpen installieren könnten.

Der zuständige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Patrick Graichen, wurde neulich gefragt, wo denn die 60000 Monteure herkommen sollen, die es bräuchte, um die ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. Na ja, sagte er leichthin, dann müssen halt ein paar Fliesenleger weniger Fliesen verlegen. Ich fürchte, gegen den Wärmepumpenplan von Robert Habeck war Trittins Eiskugelwette eine hochseriöse Angelegenheit.

Das Buch von Ulrike Herrmann über das Ende des Kapitalismus hat es auf Platz eins der Bestsellerliste gebracht. Das Publikum, das der Rückkehr in die siebziger Jahre etwas abgewinnen kann, ist größer, als ich dachte.

Immerhin, die Musik war damals eindeutig besser. Ich hole jetzt die alten Scheiben wieder raus. Wenn schon Rückabwicklung des Fortschritts, dann wenigstens zum Sound von Jimi Hendrix und Janis Joplin. Wie sang Janis Joplin: Freedom’s just another word for nothin’ left to lose.

Diskriminierte dieser Welt, meldet euch!

40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Kein Wunder, dass immer neue Formen der Benachteiligung entdeckt werden

Helmut Thoma, das Trivialgenie des deutschen Fernsehens, der Mann, der den Deutschen „Tutti Frutti“ und „Der heiße Stuhl“ brachte, war bei ServusTV. Die Sendung, in der er auftrat, heißt „Links. Rechts. Mitte“, eine Talkshow, in der auch Gäste eingeladen sind, die bei „Anne Will“ nicht mal in den Zuschauerraum kämen.

Ich war Anfang des Jahres da. Damals ging es um Corona. Jetzt war das Thema der Vormarsch der Ukraine.

Wie es lief? Sagen wir so: Gegen Thoma ist Gerhard Schröder ein schüchterner Chorknabe.

Dialog, Minute 39 und folgende:

Thoma: „Was hat denn Putin bitte getan? Können’s das bitte sagen?“

Moderatorin, leicht konsterniert: „Er ist einmarschiert am 24. Februar. Er hat ein Land überfallen.“

Thoma: „Ja und? Die Amerikaner hätten einen Atomkrieg in Kuba begonnen, die saßen schon mit der Hand am Knopf da.“

Ich dachte, Johannes Varwick sei verrückt, der Politikprofessor, der vom Bundeskanzler fordert, er müsse die Ukraine zum Aufgeben zwingen. Dass der nächste Angriffskrieg von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ausgeht, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Aber es gibt stets noch höhere Grade der Verrücktheit.

Ich habe Thoma einmal getroffen, da war er der Zirkusdirektor bei RTL. Die Mischung aus heiterer Gerissenheit, Wiener Schmäh und erwartungsfroher Provokationslust hat mich sofort begeistert. Von Thoma stammen unsterbliche Weisheiten wie der Satz, dass, wer Bratwürste anbiete oder genehmige, dass Bratwürste angeboten werden dürfen, sich nicht beklagen könne, dass sie Fett enthalten.

Damit ist er zum erfolgreichsten Medienmenschen geworden, den Österreich jemals hervorgebracht hat. Sozusagen der Mozart des Privatfernsehens. Oder soll man sagen: der Dr. Mabuse? Wie auch immer, irgendetwas Schreckliches muss mit ihm passiert sein, seit er sich vor Jahren auf das Sammeln von Aufsichtsratsmandaten verlegte. Manche Menschen entdecken mit fortschreitendem Alter ihre Liebe zur Entomologie, andere finden zur Diktatoren-Verehrung.

Anderseits: Auch die Verrückten und Marginalisierten brauchen eine Stimme. Wo kämen wir hin, wenn nur grundvernünftige Leute im Fernsehen säßen? Todlangweilig wär’s. Und unfair obendrein. Ich ertrage aus diesem Grund sogar Sascha Lobo mit seinem Irokesen, der inzwischen so aussieht, als ob ein Marder mit ins Bett eingezogen ist.

Wenn Lobo die tote Queen herabwürdigt, weil sie ihm nicht feministisch genug war und zu wenig antirassistisch obendrein, denke ich: Sei’s drum, auch diese Position musste vertreten werden. Solange die Kombattanten in Talkshows nicht mit Marschflugkörpern aufeinander zielen, ist das Schlimmste, was passieren kann, eine Kritik aus der Feder einer Einfaltsmeise auf „Zeit Online“ oder bei der „FR“.

Wer weiß, vielleicht gibt es bald sogar eine Quote für Leute wie Thoma und Lobo. Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, hat laut darüber nachgedacht, das Antidiskriminierungsgesetz um neue Tatbestände zu ergänzen. Warum bei Geschlecht, sexueller Präferenz oder Religionszugehörigkeit stehen bleiben? Weshalb nicht auch regionale Herkunft oder Familienstand zu den Kriterien zählen, bei denen die Beauftragte tätig werden muss?

Das Gesetz habe große Lücken, sagte Ataman in einem Interview. Ostdeutsche zum Beispiel kämen seltener in Führungspositionen und seien einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Auch viele Eltern erführen in Deutschland Diskriminierung. „Wir haben eine Studie dazu gemacht. Darin gaben 40 Prozent der Eltern an, dass sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden, zum Beispiel, weil sie früher nach Hause müssen, um ihr Kind zu betreuen. Solche Schutzlücken möchten wir schließen.“

Das ist ein löblicher Ansatz. Auf die eine oder andere Weise sind wir doch alle diskriminiert. Wer nicht zu schwarz oder zu migrantisch oder zu kinderreich ist, der ist eben zu weiß oder zu männlich oder ganz grundsätzlich zu privilegiert. Abwertung ist nicht auf Minderheiten beschränkt. Auch als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft kann man Beleidigung und Stigmatisierung erfahren.

©Michael Szyszka

Ich gehöre der Altersgruppe der sogenannten Boomer an. Glauben Sie nicht, dass dies nur einfach wäre. Im „Spiegel“ musste sich meine Generation von einer Autorin aus der Schweiz (ausgerechnet!) vorhalten lassen, wir hätten die falsche Musik, die falsche Kleidung und die falsche Einstellung sowieso. Der Text war mit einem Foto von Kai Pflaume in Hoodie und Sneakern bebildert.

Zum Glück bin ich ein Mann. Schlimmer noch als Abwertung ist die totale Nichtbeachtung. Die Boomer-Frau ist nicht mal wert, dass man sich über sie lustig macht. Sie kommt einfach nicht vor, nicht einmal als Feindbild.

Auch in Texten fortschrittlicher Autor:innen gleitet der Blick über Frauen ab 50 achtlos hinweg. Ich weiß nicht mehr, welche Kollegin es war, die in der MeToo-Debatte einwarf, die jungen Anklägerinnen, die hinter jedem Kommentar eine Beleidigung witterten, sollten einmal in das Alter kommen, wo man sich danach sehne, dass einem jemand auf der Straße hinterherpfeife.

Die Sache mit der gesetzlichen Anerkennung ist natürlich nicht ganz billig. Von selbst passiert da nichts, deshalb braucht es Leute wie Ataman. Oder den Beauftragten für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Oder die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. Oder den Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland.

40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Ich bin sicher, wenn man die Zahl zur 500000-Euro-Frage bei „Wer wird Millionär?“ machen würde, die Kandidaten wären heillos aufgeschmissen. Darauf kommt auf Anhieb kein Mensch.

Alles hat allerdings seinen Preis, auch die Opferinflation. Wenn jeder ein Opfer der Verhältnisse ist, sinkt der Wert der einzelnen Leidensgeschichte. Es entsteht auch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit.

Der „Spiegel“-Redakteur René Pfister hat über eine Studie berichtet, die der Bundestag in Auftrag gegeben hatte, um herauszufinden, wie rassistisch die Deutschen sind. Das Ergebnis war ermutigend. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, in den vergangenen fünf Jahren einer rassistischen Aussage widersprochen zu haben. Jeder dritte sagte, er würde an einer Demonstration gegen Rassismus teilnehmen, fast jeder zehnte hatte es bereits getan.

Ein weltoffenes und tolerantes Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Bürger (90 Prozent) der Meinung ist, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe: So stellt sich die Bundesrepublik im Lichte der Rassismusforschung dar.

Aber so konnte es das Institut, das die Studie durchgeführt hatte, das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, nicht stehen lassen. Die Autoren beklagten stattdessen, dass bei der Hälfte der Bevölkerung „Reflexe der Abwehr und eine damit einhergehende Bagatellisierung von Rassismus“ zu beobachten seien.

Wie sie zu diesem Befund kamen? Sie hatten den Befragten unter anderem folgende Aussage vorgelegt: „Es ist absurd, dass einem Rassismus unterstellt wird, wenn man lediglich fragt, wo jemand herkommt.“ 63,4 Prozent stimmten dem zu, darunter auch viele derjenigen, die jederzeit gegen Unrecht auf die Straße gehen würden.

So ist das, wenn man überall Diskriminierung wittert: Dann ist es bereits Rassismus, wenn sich jemand für die Lebensgeschichte seiner Mitmenschen interessiert. Sie sehen, es bleibt noch viel zu tun.

Anfang des Sturms

Eben noch galten die Grünen als Partei, die den nächsten Kanzler stellt. Die Weigerung, alles gegen die Energiekrise zu tun, macht zunichte, was sich die Parteispitze an Vertrauen aufgebaut hat

Bis vor einer Woche war die Energiekrise eine Krise der beiden ehemaligen Volksparteien, also von CDU/CSU und SPD. Das war zwar schon da nicht ganz richtig, weil es die grüne Energiewende ist, die wesentlich zu den Kalamitäten beigetragen hat, in denen wir uns befinden. Aber am Ende zählt, wer regiert, und das waren über die vergangenen 16 Jahre nun mal nicht die Grünen.

Seit Anfang vorletzter Woche ist die Krise eine grüne Krise. Alles, was in diesem Winter noch kommen mag, wird nun ihnen zugerechnet werden: das Unternehmensterben, das der Verdoppelung des Strompreises folgen wird; die Blackouts, wenn die Netze kollabieren, weil nicht mehr genug verlässliche Kraftwerke da sind.

Ich hielt die Grünen für smart, jedenfalls strategisch. Ich habe ihnen zugetraut, den nächsten Kanzler zu stellen. Kurze Zeit sah es so aus, als ob das Projekt aufgehen könnte, die gesellschaftliche Mitte zu erobern. Die Weigerung, alles zu tun, was nötig ist, um den Meltdown abzuwenden, ist deshalb ein Fehler, dessen Auswirkung man gar nicht überschätzen kann. Er ist geeignet, alles an Vertrauen zuschanden zu machen, was sich die Partei in den letzten Monaten erarbeitet hat.

Wir stehen am Anfang des Sturms. Man sieht das Wetterleuchten. Kein Tag, an dem man in den Zeitungen nicht von Betrieben lesen kann, die keine Ahnung haben, wie sie die Stromrechnungen schultern sollen. Am schlimmsten sind Unternehmen betroffen, die alles richtig machen wollten und auf eine moderne Gasturbine gesetzt haben. Wer jetzt noch Öl oder Kohle verfeuern kann, hat wenigstens eine Alternative.

Es trifft auch Branchen, auf die man nicht sofort kommt. Ich bin am Samstag bei einer Gartenparty auf einen Arzt gestoßen, der vor drei Jahren in eine radiologische Praxis in München eingetreten ist. Seine Rechnungsstelle hat ihn vergangene Woche angeschrieben, er möge sich auf eine Nachzahlung von 1,2 Millionen Euro bei den Stromkosten einstellen. Radiologische Großgeräte sind Stromfresser, die sich nicht einfach über Nacht abstellen lassen. Das vertragen die Magnete nicht, die es zur Bildgewinnung braucht.

„Mal schauen, wie lange wir durchhalten“, sagte der Radiologe. Ich fand ihn erstaunlich gefasst. Ich könnte nicht mehr schlafen, wenn man mir eine Mehrzahlung von 1,2 Millionen Euro in Aussicht stellen würde. Aber als wir auf die Entscheidung des Wirtschaftsministers zu sprechen kamen, die Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen, war es mit dem Gleichmut vorbei. Man konnte sehen, wie in dem Mann Unverständnis und Wut die Oberhand gewannen.

Nicht nur mein Radiologe fragt sich, warum wir nicht alles tun, um den Schaden für das Land so gering wie möglich zu halten. Zwei Wochen ist es jetzt her, dass Robert Habeck seinen Plan vorstellte, die deutsche Kernkraft in die stille Reserve zu überführen. Bis heute weiß niemand, wie das gehen soll. Mit einem Atomkraftwerk verhält es sich wie mit dem Computertomografen meines radiologischen Bekannten: Manche Anlagen haben keinen Ein- und Ausschalter. Habeck hat seinen Kritikern geantwortet, dass alle, die meinten, sein Plan funktioniere nicht, ihn nicht verstanden hätten. Was genau er sich vorstellt, hat er leider nicht dazugesagt.

Es gibt in der Politik ein paar unumstößliche Gesetze. Ein Skandal, für den man mehr als einen Satz braucht, ist kein Skandal. Deswegen war im Wahlkampf das Schummelbuch von Annalena Baerbock ein großes Thema und nicht die Cum-Ex-Vergangenheit von Olaf Scholz, obwohl Letzteres sehr viel bedeutsamer ist als Ersteres. Genauso gilt: Eine Erklärung, für die ich mehr als eine Minute brauche, ist als Erklärung unbrauchbar.

Niemand wusste das bislang besser als die Grünen. Sie haben die Chlorhühnchen erfunden und den Genmais, um Deutschland vor fremden Gütern zu schützen. Wenn ihre Gegner ansetzten, die Vorteile von Handelsabkommen mit fernen Ländern zu erklären, lachten sie nur.

Und jetzt suchen sie ihr Heil in der Merit-Order, also der Reihenfolge von Kraftwerken bei der Preisgestaltung? Good luck. Ich habe am Wochenende den Versuch gemacht, zu erklären, wie sich der Preis am Strommarkt berechnet. Ich konnte sehen, wie der Blick meines Gesprächspartners ins Leere ging. Bei Greenpeace wusste man schon, warum man immer den Delfin ins Schaufenster stellte und nie die unterseeische Riesenspinne, die es genauso verdient hätte, am Leben zu bleiben.

©Sören Kunz

Ist das AKW ein Symbol? Selbstverständlich ist es das. Bei der Stromerzeugung macht die Kernenergie nur noch sechs Prozent aus. Aber so ist es in Kriegszeiten: Manchmal geht es auch um Symbole. Das gilt erst recht, wenn den Leuten das Wasser bis zum Hals steht.

Wenn man den Brief mit der neuen Abschlagszahlung in Händen hält, ist es gut zu wissen, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Situation in den Griff zu bekommen. Und nicht sagt: „Sorry, ist schlimm, dass du jetzt das Fünffache zahlen sollst. Wir haben da auch 300 Euro für dich. Aber was die Stromgewinnung angeht, müssen wir leider Rücksicht auf die grüne Seele nehmen.“

Mit der Energiewende ist es wie mit dem Sozialismus. Es ist nie die Idee schlecht, immer nur die Ausführung. Selbstverständlich wird am Ziel festgehalten, nach der Atomkraft aus der Kohle auszusteigen. Dummerweise ist es genau diese Fixierung auf die Erneuerbaren, die uns in die Abhängigkeit vom russischen Gas geführt hat. Die Grünen haben immer vor Putin gewarnt, das unterscheidet sie vorteilhaft von anderen Parteien. Allerdings hat dann die grüne Energiewende die Dinge noch viel schlimmer gemacht, weil nach dem Aus für Kohle und Kernkraft nur Gas als verlässlicher Energieträger übrig blieb.

Im Koalitionsvertrag ist der Bau weiterer Gaskraftwerke angekündigt. „Erdgas ist für eine Übergangszeit unverzichtbar“, heißt es dort in einer raren Verbeugung vor der Wirklichkeit. Es wäre interessant zu wissen, ob sich die Koalition daran halten will oder ob sie darauf setzt, dass aus dem Nichts andere Energieträger auftauchen. Vielleicht verzichtet man auch einfach auf die sogenannte Grundlast, also Energielieferanten, die von den Launen des Wetters unabhängig sind. Das würde passen zu einer Welt, in der Wille und Vorstellung zählen und nicht die schnöden Gesetze der Physik.

Sie halten das für einen Witz? Ich erinnere mich an einen Tweet, in dem das Bundesumweltministerium vor der Gaskrise erklärte: „Grundlast wird es im klassischen Sinn nicht mehr geben.“ Statt auf Grundlast setzte man auf ein System von Erneuerbaren, Speichern und intelligenten Netzen. Im Umweltministerium war man immer schon weiter als in der normalen Politik. Jetzt muss nur noch die Wirklichkeit nachfolgen.

Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat Anfang der Woche die Meinung der Deutschen zur Laufzeit der Atomkraftwerke erfragt. 67 Prozent sind dafür, dass die drei noch in Betrieb befindlichen Meiler bis 2024 zur Stromerzeugung genutzt werden. Selbst unter Grünen-Wählern gibt es einen Stimmungsumschwung. Der Teil derer, der einen Weiterbetrieb befürwortet, liegt mit 41 Prozent nicht mehr so weit hinter dem Teil, der für Abschaltung beziehungsweise Reserve ist.

Wäre ich ein Grünen-Hasser, würde ich mir wünschen, dass die Parteispitze möglichst lange an ihrem Ausstiegsbeschluss festhält. Spätestens wenn im Januar während der Dunkelflaute die Lichter ausgehen, weil Sonne und Wind mit dem Stromverbrauch nicht mithalten, haben sich die Ambitionen auf Höheres fürs Erste erledigt.

Wenn die Tesla-Besitzerin ihren Wagen nicht mehr von der Stelle bekommt, weil die Ladestation streikt, dann ist die grüne Partei wieder dort, wo sie herkommt: nicht mehr Lifestyle-Entscheidung für die gehobene Mittelschicht, sondern ein Angebot an die wirklich Überzeugten, die sich ihre Überzeugung auch etwas kosten lassen. Das reicht dann immer noch für den Bundestag. Mit dem Einzug ins Kanzleramt wird’s allerdings schwer.

Die Ringe der Macht

Die Grünen haben sich von vielem getrennt: dem Antikapitalismus, der freien Liebe, dem Pazifismus. Nur vom Kampf gegen die Atomkraft wollen sie partout nicht lassen, egal, was auch passiert. Versuch einer Erklärung

Die ehemalige Grünen-Vorsitzende Simone Peter sagt, wir sollten froh sein, dass wir von der „teuflischen Energiequelle“ Atomkraft befreit wurden. Ich finde es schön, dass in unserer gegenwartsfixierten Zeit noch jemand so redet. Selbst die Kirche hat aufgehört, vom Teufel zu sprechen.

Mir gefällt das. Ich hatte immer schon eine Schwäche für Volksfrömmigkeit. Ich bin nur skeptisch, ob sich damit die viertgrößte Industrienation der Welt durch die Krise steuern lässt. Die Welt des Glaubens und die Welt der Politik sind bei uns seit der Aufklärung aus gutem Grund getrennt.

Schicksalswoche für Deutschland: Kippt der Atomausstieg, kippt er nicht? Seit Dienstag großes Aufatmen in der grünen Gemeinde: Ritter Robert erstickt die Flamme des Höllenfeuers, Gasnotstand hin oder her.

Kein sogenannter Streckbetrieb, bei dem man versucht, aus den Brennstäben mehr rauszuholen, als eigentlich vorgesehen war. Schon gar keine Laufzeitverlängerung, wie sie der FDP vorschwebt. Das Atomkraftwerk im Emsland wird zum Jahreswechsel ganz abgeschaltet. Im Oktober wird in Niedersachsen gewählt, da will man im Bundesvorstand der Grünen keine Irritation an der Basis. Die beiden verbliebenen Kraftwerke im Süden gehen in die Reserve. Das heißt, sie sind noch da, aber praktisch eben auch nicht.

Seit Monaten lassen die Grünen nichts unversucht, den Deutschen einzureden, dass ein Weiterbetrieb der letzten Atommeiler ihre Energieprobleme nur vergrößern würde. Die Atomkraft würde die Netze für die Erneuerbaren verstopfen, erklärt der neue Parteivorsitzende Omid Nouripour. Das hat zwar wissenschaftlich so viel Substanz wie der grüne Glaube an Globuli. Aber bei „Maybrit Illner“ wird trotzdem fleißig genickt.

Der Vorsitzende der Grünen Jugend versucht es mit dem Argument, dass der Beschuss des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja zeige, wie gemeingefährlich Atomkraft sei. Auch der Hinweis hinkt auf allen Füßen. Wenn russische Truppen Isar 2 umstellt haben, dann haben wir ganz andere Probleme als die Sicherheit unserer Nuklearindustrie, würde ich sagen. Aber mei, wenn’s dem eigenen Wohlbefinden dient, dass man sich zum Trottel macht.

Das Wort der Stunde ist „Hochrisikotechnologie“. Kein Auftritt, bei dem das Schreckenswort fehlen darf. Das Problem ist nur: Beim Blick auf die neuen Abschlagszahlungen auf ihrer Stromrechnung hätten viele Deutsche gerne ein bisschen mehr Hochrisikotechnologie, wenn es denn das finanzielle Hochrisiko mindern würde. Bei Saturn haben sie die Rolltreppen abgestellt, wie ich gelesen habe. Treppensteigen fürs Stromsparen – und im Bundeswirtschaftsministerium in Berlin sagen sie, dass wir Atomstrom nicht länger brauchen. Mal sehen, wie weit das Argument trägt.

Es ist eigenartig: Die Grünen haben sich in ihrer Geschichte schon von allem Möglichen verabschiedet. Sie haben die Ideen zur Vergesellschaftung aller Produktionsmittel über Bord geworfen. Sie haben der freien Liebe abgeschworen und der antiautoritären Erziehung. Sogar dem unbedingten Pazifismus haben sie Adieu gesagt. Nur am Kampf gegen die Atomkraft halten sie eisern fest.

Den Grünen stünde ihre Ideologie im Wege, heißt es zur Erklärung. Ich weiß nicht, ob es das Wort „Ideologie“ wirklich trifft. Das emotionale Band zwischen Grünen und dem Feuer der Kernkraft scheint mir tiefer zu reichen. Hier sind Gefühlsschichten berührt, die sich der normalen Erklärung entziehen. Man müsste mit einem Experten für heidnische Glaubenswelten sprechen, um der Sache näherzukommen. Die klassische Politologie oder Psychologie ist hier jedenfalls mit dem Latein am Ende.

Ich habe mir vergangene Woche die ersten beiden Folgen der neuen Amazon-Serie „Die Ringe der Macht“ angeschaut. Da kam mir die Eingebung: Simone Peter und die Grünen würden perfekt nach Mittelerde passen. Ist für sie ein besserer Platz denkbar als die bukolische Welt, in der nichts mehr raucht und lärmt außer dem Herdfeuer der Hütten und dem sanften Flügelschlag des Windrads und wo hinter jedem Baum eine Fee und Elfe hervorlugt? Die Bewohner von Mittelerde wissen: Versündige dich nicht an Mutter Erde, sonst kommen die Orks aus dem Boden und verschlingen dich!

Der Kampf gegen die Atomkraft ist für die Teilnehmer der grünen Erlebnisgeneration ein übermenschliches Ereignis, ein Mythos. Ich weiß es, ich war dabei. Oder jedenfalls fast.

©Michael Szyszka

Ich war 16 Jahre alt, als es darum ging, in Brokdorf und Gorleben den Atomstaat in die Knie zu zwingen. Ich hatte zermürbende Diskussionen mit meiner Mutter, die mich nicht ins Wendland lassen wollte, wo sich die Zukunft des Landes, ach was: des Planeten entschied. Hätte ich eine Mutter gehabt wie die Kinder der „Letzten Generation“, die sich im Zweifel gleich mit auf die Straße klebt, wäre alles einfacher gewesen. Aber leider gehörte meine Mutter noch zu einer Generation von Eltern, die nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein wollten.

Viel ist in diesen Tagen vom Egoismus der Boomer die Rede. Der verstockteste Boomer von allen ist der grüne Boomer, der stur an seinem Lebenstraum von einem atomfreien Deutschland festhält. Darum geht es im Kern: Rücksicht auf Jürgen Trittin und die seinen, damit sie weiter sagen können, sie hätten Deutschland befreit. Jede Kilowattstunde zählt? Nur solange der grüne Boomer stolz auf das Erreichte ist. Oder wie es der Trittin-Buddy und langjährige Umweltministeriumssprecher Michael Schroeren schrieb: „Ich habe fast 50 Jahre für den Ausstieg aus der Atomkraft gekämpft. Jetzt, kurz bevor die letzten vom Netz gehen, lass ich mir den Erfolg nicht klauen.“

Wenn man sich in mythischen Sphären bewegt, bleibt es nicht aus, dass irgendwann die Größenordnungen verschwimmen. Alles erscheint beängstigender und bedrohlicher, nicht nur nachts. Bis heute ist in grünen Publikationen zu lesen, das Reaktorunglück in Fukushima habe Zehntausende Opfer gefordert. In Wahrheit ist beim Brand kein einziger Anwohner zu Tode gekommen. Die einzigen Toten, die es in der Anlage zu beklagen galt, waren fünf Arbeiter – nach Arbeitsunfällen bei Aufräumarbeiten. Was 20000 Menschenleben kostete, war der Tsunami, der am 11. März 2011 über die Region hereinbrach. Es war das Wasser, das die Menschen umbrachte, nicht die Strahlung.

Es könnte ein sehr kalter Winter für die Grünen werden. Viele Menschen mögen zu beschäftigt sein, um dem politischen Geschäft im Detail zu folgen. Aber sie sind nicht blöd. Wenn ihr Wirtschaftsminister so tut, als könnte man mal eben auf vier Gigawatt Atomstrom verzichten, während er ihnen im selben Atemzug einschärft, die Duschköpfe zu wechseln, um den Wohlstand zu sichern, dann wissen sie, dass sie verkohlt werden.

Meiner Erfahrung nach verzeihen die Wähler mehr, als wir Journalisten oft denken. Ob jemand bei seiner Doktorarbeit oder den Flugmeilen geschummelt hat, spielt bei ihrer Wahlentscheidung keine große Rolle. Aber was sie definitiv nicht mögen, ist, wenn man sie für dumm zu verkaufen versucht.

Frau Peter hat mich übrigens auf Twitter geblockt, wie ich feststellen musste. Ich bin mir nicht bewusst, dafür einen Anlass geboten zu haben. Ich habe sie weder mit hässlichen Kommentaren heimgesucht, noch mich ihr anderweitig in ungebührlicher Weise genähert. Aber so ist das wahrscheinlich, wenn man in übersinnlichen Kategorien denkt: Dann muss man sich weiträumig vor allem schützen, was für das Wohlbefinden negativ sein könnte.

Haben wir schon über die diabolische Kraft des Internets gesprochen? Das sollten wir als Nächstes tun.

 

Die neue Religion der Schuld

Diese Woche ist ein Buch erschienen, das geeignet ist, die linke Glaubenswelt gegen sich aufzubringen. Schon jetzt kochen Wut und Empörung hoch

Ich habe darüber nachgedacht, einen Verriss zu schreiben. Mein Freund und langjähriger Kollege René Pfister hat ein Buch veröffentlicht, es ist diese Woche erschienen. Es heißt „Ein falsches Wort“ und beschreibt die neue linke Kultur der Empfindsamkeit, die auch hierzulande um sich greift.

Ich habe meinem Freund zum Erscheinen seines Buches gratuliert. Aber vielleicht sollte ich das für mich behalten? Am besten wäre vermutlich, ich würde es hier in Grund und Boden verdammen. Die Leute, die ihn erledigen wollen, warten nur auf Beifall von der falschen Seite. Ich sehe schon, wie sie die Messer wetzen.

Leider kann ich ihm den Gefallen eines Verrisses nicht tun. Ich spreche jetzt als Journalist und nicht als Freund. Als Journalist fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet, und deshalb kann ich das Buch nur allen empfehlen, die wissen wollen, wo der Wahnsinn herkommt, der uns Debatten beschert, ob man nicht Winnetou aus dem Verkehr ziehen muss oder einen Partysong wie „Layla“ oder die zu freizügige Darstellung von Frauen auf Jahrmarktsbuden. Es ist das Beste, was ich bislang zur neuen linken Glaubenskultur gelesen habe.

Pfister ist vor drei Jahren für den „Spiegel“ nach Washington gezogen. Selbstverständlich hat er sich in einem der Viertel niedergelassen, in dem nur Menschen wohnen, die Trump für eine Ausgeburt der Hölle halten. Ich habe ihn nie gefragt, was er wählt, aber ich vermute, er schwankt wie jeder gute „Spiegel“-Redakteur zwischen Sozialdemokratie und Grünen. Doch je länger er in den Staaten lebte, desto mehr wuchsen die Zweifel, was den aktuellen Stand des linken Bewusstseins angeht – so beschreibt er es selbst.

Vorletztes Jahr sollte sein Sohn in der Schule über Kolumbus schreiben. Zufällig wurde Pfister Zeuge einer Diskussion, bei der sich der Sohn mit einem Klassenkameraden austauschte, ob er in seinem Schulaufsatz erwähnen solle, dass Kolumbus ja bei allen problematischen Seiten auch ein ziemlich mutiger Mann gewesen sei. „Too risky“, antwortete der Mitschüler, „it could bring you in trouble.“

Das ist heute der Alltag in einem Land, zu dessen Gründungsakten die Verteidigung der Meinungsfreiheit gehört: Zwei 13-Jährige unterhalten sich darüber, ob man schreiben dürfe, dass Christoph Kolumbus nicht nur ein verachtenswertes Monster gewesen sei, sondern vielleicht auch als Kind seiner Zeit verstanden werden müsse. Wie gesagt: Too risky.

Pfister hat die Opfer des neuen Fundamentalismus aufgesucht, darin liegt eines der vielen Verdienste seines Buchs. Da ist die Geschichte von Ian Buruma, Chefredakteur der „New York Review of Books“, einer der angesehensten Literaturzeitschriften der Welt, der es wagte, einem Autoren ein paar Seiten freizuräumen, dem mehrere sexuelle Übergriffe zur Last gelegt worden waren.

Der Mann war in einem ordentlichen Gerichtsverfahren von allen wesentlichen Vorwürfen freigesprochen worden. Sein Text behandelte die Frage, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn ein Freispruch nicht mehr zählt, weil die MeToo-Bewegung einen weiter für schuldig hält. Das reichte, um Buruma seinen Job als Chefredakteur zu kosten.

Oder da ist die Geschichte des Datenanalysten David Shor, der bei den Demokraten ein hochgeschätzter Meinungsforscher war, bis er plötzlich als untragbar galt. Sein Vergehen? Er hatte einen Tweet abgesetzt, in dem er anlässlich der Krawalle nach dem Tod von George Floyd darauf hinwies, dass gewaltsame Proteste den Demokraten vor Wahlen immer mehr geschadet hätten als den Republikanern.

Oder die Geschichte des Klimaforschers Dorian Abbot, der am berühmten MIT einen Vortrag halten sollte. Der Vortrag wurde dann abgesagt. Studenten hatten protestiert, weil Abbot ein Video gepostet hatte, in dem er sich beklagte, dass asiatische Studenten an seiner Uni systematisch benachteiligt würden, um Platz für andere Minoritäten zu machen. Selbst das Beharren darauf, dass alle Studenten gleich behandelt werden, kann inzwischen als Vergehen gelten.

Die Anhänger der neuen Bewegung behaupten gern, Cancel Culture sei ein Popanz, eine fixe Idee von Konservativen, die nicht verwinden könnten, dass ihnen andere Stimmen die Diskurshoheit streitig machen würden. Wenn man ihnen Fälle wie den von Buruma oder Shor entgegenhält, sagen sie: Einzelfälle.

Es sind immer alles Einzelfälle – bis zu dem Moment, an dem sich ein Polizist danebenbenimmt. Dann ist von strukturellem Rassismus die Rede. Aber das ist ja der Trick: Das, was offensichtlich ist, so lange in Abrede zu stellen, bis selbst die Opfer ins Grübeln geraten, ob sie sich alles möglicherweise nur eingebildet haben.

Pfister führt das nicht weiter aus, aber ich bin nach der Lektüre seines Buches mehr denn je überzeugt, dass es sich bei dem neuen linken Glauben um eine psychische Disposition handelt. Es ist ja selten der fröhliche, lebensbejahende Typ, den man in den Reihen derer antrifft, die den Kopf eines Sünders verlangen, weil dieser entweder die falschen Leute kennt oder die falschen Leute eingeladen hat oder unter Verdacht geraten ist, selbst den falschen Ideen anzuhängen. Früher hat dieser Typus den besonders frömmlerischen Teil der Kirchengemeinde ausgemacht, heute richtet er seine Energien auf die Überwachung immer neuer Sprachregeln.

Der moderne Mensch denkt, dass Schuld ein Gefühl sei, das es zu vermeiden gelte. Dem religiös Gebildeten hingegen ist sofort klar, welche Wonnen in dem Bewusstsein liegen können, gefehlt zu haben. Wäre es anders, hätte es der Katholizismus nicht zur Weltreligion gebracht. Ganze Glaubenssysteme sind auf dem Bemühen aufgebaut, den Makel der Schuld zu tilgen. Beichte, Zerknirschung, Ablass – alles beruht auf der Annahme, von Grund auf schuldig zu sein. „Dies kann Dein Beichtstuhl sein“, heißt es nicht von ungefähr in einer Fibel zur Seelenerkundung aus der Feder des amerikanischen Antirassismus-Gurus Ibram X. Kendi.

Gründe, sich als weißer Mittelschichtsmensch Selbstvorwürfe zu machen, gibt es genug. Wenn man seinen Wohlstand nicht im speziellen der Ausbeutung anderer Völker und Kontinente verdankt, dann doch in jedem Fall dem Raubbau an der Natur durch den energieintensiven Lebensstil. Deshalb funktioniert ja auch die Übertragung der neuen Erlösungslehre auf Deutschland, obwohl der Pietismus über Baden-Württemberg nie richtig hinausgekommen ist. Entweder entdeckt man nachträglich den Rassisten in sich. Oder den heimlichen Frauenfeind. Oder den Umweltfrevler. Klimasünder sind wir alle, das wäre, wenn man so will, der kleinste gemeinsame Nenner.

Ich fürchte, mein Freund wird in den kommenden Wochen noch einiges zu hören bekommen. Eine besonders eifrige Äbtissin der neuen Lehre, die Germanistin Annika Brockschmidt, hat schon die Alarmglocke geschlagen.

„Während in den USA der Faschismus LGBTQ-Menschen ihrer Bürgerrechte beraubt, schreibt der Washington-Chef des ‚Spiegels‘ einen Text darüber‚ wie im Namen von Gleichberechtigung und Antirassismus ‚linke Aktivisten der Gesellschaft eine neue Ideologe aufzwingen‘: unfassbar.“ Pfisters Thesen seien „unverantwortlich“, „bizarr“, „gefährlich“, Pfister selbst ein „bürgerlicher Steigbügelhalter des Faschismus“. Kurz: das Ganze eine „Schande“.

Wie heißt es so schön: Was trifft, trifft auch zu.

©Silke Werzinger

Unter Opfern

Im fortschrittlichen Teil des Westens hat man sich darauf geeinigt, dass der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft alle Minderheiten niederdrückt. Aber wenn der Rassismus allgegenwärtig ist, warum gelingt dann einigen der Aufstieg und anderen nicht?

Es gibt viele Volksgruppen, die es schwer haben. Die Rohingya in Burma, die Christen in Ägypten. Aber niemand erfährt eine vergleichbare Zuneigung und Aufmerksamkeit wie die Angehörigen des palästinensischen Volkes. Wenn es so etwas gibt wie den Pandabären der internationalen Politik, dann ist es der Palästinenser.

Der Palästinenser kann machen, was er will, ihm wird verziehen. Er kann seine Nachbarn mit Raketen überziehen. Oder im Kindergarten kleine Sprengstoffgürtel als Spielzeug auslegen. Oder sich beim Staatsbesuch schwer danebenbenehmen wie der palästinensische Staatspräsident Mahmud Abbas in Berlin.

Schon lange hat kein Besucher die Bundesregierung mehr so in Verlegenheit gebracht wie der Fatah-Führer. Man muss schon ziemlich neben sich stehen, um in Gegenwart des deutschen Bundeskanzlers zu erklären, dass die Juden nicht nur einen Holocaust, nein, dass sie 50 begangen hätten. Das bekommt nicht mal der verstockteste Neonazi hin.

Aber Schwamm drüber, alles vergeben und vergessen. Am Ende gibt’s trotzdem einen Scheck. 340 Millionen Euro für den Gast, so war es auch dieses Mal. Ich hätte eigentlich erwartet, dass jemand sagt: Der liebe Herr Abbas soll sich sein Geld woanders zusammensuchen. Aber an der Hilfe für Palästina wird nicht gerüttelt, unpassende Holocaust-Vergleiche hin oder her.

Es gibt eine merkwürdige Obsession mit der palästinensischen Sache. Keine Demo, bei der nicht der Block der Unterstützer Palästinas mitlatscht. Selbst bei Schwulendemos ist inzwischen regelmäßig eine Abteilung dabei, die für „Free Palestine from the River to the Sea“ und das Ende Israels die Flagge schwenkt.

Ich wünsche mir manchmal insgeheim, dass die Freunde der LGBTQIA-Szene, die so wahnsinnig erpicht darauf sind, dass endlich die Araber zu ihrem Recht kommen, einmal, nur ein einziges Mal, im Fummel durch Ramallah laufen. Wenn sie nicht gleich am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden, haben sie Glück gehabt, würde ich sagen.

Als „Mode-Accessoire für junge Männer und Frauen jeden Alters“ ist das Palästinensertuch bei Amazon für 12,99 Euro zu haben. Zu meiner Schulzeit gab es noch kein Amazon. Trotzdem war der Pali-Schal plötzlich da und komplettierte fortan die Schuluniform aus Jeans und Parka. Selbstverständlich fieberten wir auch beim Befreiungskampf des palästinensischen Volkes mit. Dass sie hin und wieder ein Flugzeug kaperten und alle Passagiere jüdischen Glaubens aussonderten – Schwamm drüber.

Ich habe mir vor Jahren während der Recherche für mein Buch „Unter Linken“ die Mühe gemacht, die Fördersummen zusammenzustellen. Drei Milliarden Euro flossen allein zwischen 2000 und 2007 aus EU-Mitteln in die Autonomiegebiete. Bei einer Geberkonferenz in Paris wurden weitere fünf Milliarden beschlossen. Im März 2009, kurz vor Erscheinen des Buches, kamen noch einmal 4,5 Milliarden dazu. Und das sind nur die Zahlungen im Zeitraum von 2000 bis 2010. Wenn es den Titel der meistsubventionierten Volksgruppe der Welt gäbe, die Palästinenser wären ein heißer Anwärter.

Man darf nicht den Fehler machen, danach zu fragen, was aus der Förderung geworden ist. Dass ihre Bewohner mehr Geld bekommen haben als die Europäer während des gesamten Marshallplans, sieht man der Autonomieregion nur an, wenn man den Blick auf die Villen der Fatah-Funktionäre in ihren Luxusenklaven wirft. Aber wahrscheinlich geht auch die Korruption in der Autonomiebehörde auf das Konto Israels.

Der Opferdiskurs funktioniert immer, selbst auf internationaler Ebene. Dass man anderen die Schuld geben kann, wenn man hinter den Erwartungen zurückbleibt, hat zweifellos Vorteile. Kaum etwas ist so demoralisierend wie die Erkenntnis, dass man sich sein Unglück selbst zuzuschreiben hat, weil man zu träge, zu faul oder einfach zu blöd war, um vom Fleck zu kommen.

Wenn der Palästinenser Selbstmordattentäter losschickt, handelt er selbstverständlich aus Verzweiflung. Wenn es bis heute keine funktionierende Verwaltung, keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, ja nicht mal ein Abwassersystem gibt, das den Namen verdient, liegt das an den Zionisten und der Mauer, die sie um den Gazastreifen gebaut haben.

Das Problem am Opferdenken ist allerdings: Es bringt einen keinen Schritt weiter. Wer immer höhere Mächte verantwortlich macht, neigt dazu, sich in seinem Elend einzurichten. Deshalb rät jeder Therapeut ja auch dazu, das Selbstmitleid zu überwinden und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

Ich bin seit drei Wochen in den USA. Zu meiner Morgenlektüre zählt jetzt als Erstes die „New York Times“. Herkunft ist ein Riesenthema. Im Prinzip hat man sich darauf verständigt, dass es der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, der Minderheiten am Aufstieg hindert. Dass sich die Weißen bewegen müssen, damit sich etwas ändert, und nicht etwa die Nicht-Weißen, ist das unausgesprochene Mantra.

Aber offenbar gelingt es einigen Minoritäten trotz des allgegenwärtigen Rassismus aufzusteigen. Bei den Zulassungstests zu den Universitäten sind asiatischstämmige Amerikaner inzwischen führend. Bildungsabschluss ist ein guter Indikator für Teilhabe, weil alles Weitere aus ihm folgt: Einkommen, sozialer Status, gesellschaftliche Macht und Einfluss.

Auch asiatischstämmige Amerikaner wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Zahl der Vorurteile (und Schimpfwörter), die man mit ihnen verbindet, ist lang. Dennoch sind sie heute eine der erfolgreichsten Minderheiten.

Die Zahl der Universitätsabschlüsse läge noch höher, wenn nur Leistung zählen würde und nicht Herkunft. Eine Reihe von Elite-Colleges ist dazu übergangen, die Zahl von Asian Americans künstlich zu senken, um jungen Schwarzen Zugang zu ermöglichen. Einige asiatische Eltern haben daraufhin geklagt, weil sie es nicht länger hinnehmen wollen, dass ihre Kinder systematisch benachteiligt werden, damit die Quote stimmt. Der Fall liegt jetzt vor dem Supreme Court. Beobachter gehen davon aus, dass der Klage stattgegeben wird, was das Ende der sogenannten Affirmative Action bedeuten würde.

Auch die Mexikaner haben es relativ weit gebracht. Da niemand mit ihnen ihr hartes Los beklagt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Offenbar spielen Familienzusammenhalt und kulturelle Werte beim Aufstieg eine große Rolle. Ob Kinder in einer intakten Familie aufwachsen oder der Vater sich schon im Kleinkindalter verdrückt, hat für den weiteren Lebensverlauf enorme Folgen.

In Deutschland lassen sich ebenfalls Unterschiede bei Minderheiten beobachten. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand, sagen wir, in einer jüdischen oder in einer arabischstämmigen Familie aufwächst. Das gilt nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Generellen. Weshalb ja auch kein Mittelschichtspaar aus einem der grünen Innenstadtviertel auf die Idee käme, seine Kinder auf eine muslimische Schule zu schicken, aber sehr wohl auf eine jüdische.

Aber wie gesagt: Schwamm drüber. Man soll sich im Urlaub keine zu schwierigen Themen vornehmen.

©Sören Kunz

Die Kirche des Bernd

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Sind die Anhänger der Grünen mental am besten auf den Mangel vorbereitet?

Ich wollte immer eine Kolumne über Bernd Ulrich, den stellvertretenden Chefredakteur der „Zeit“, schreiben. Den Titel hatte ich schon: „Die Kirche des Bernd“. Es sollte um den Versuch gehen, allem abzuschwören, was sich nachteilig auf Umwelt und Klima auswirken kann.

Ulrich ist vor fünf Jahren zum Veganismus übergetreten. Er hat darüber in einem mehrseitigen Essay im „Zeit Magazin“ Zeugnis abgelegt. Mir ist eine Passage in besonderer Erinnerung geblieben, in der er den Genuss von geschrotetem Getreide („nachts eingeweicht“) nebst zwei Datteln und einem Schluck Leinöl am Morgen lobte. Ich dachte bis dahin, ein Champagnerfrühstück sei in Hamburger Chefredaktionen das Maß aller Dinge. Was verstehe ich schon von verfeinertem Genuss! So etwas Altmodisches wie Champagner zum Frühstück kennt man nur noch in den Leitungsetagen der ARD.

Vor drei Wochen hat Ulrich erneut Bekenntnis abgelegt, diesmal über seine fortschreitende Abkehr von der Normalität. Angesichts der Multiplikation von Krisen erscheine ihm vieles, was eben noch Erholung versprach, hohl und schal.

„Fußball hat es da schwerer als früher“, schrieb er, „Skatbruderschaft geht, Familie ganz bestimmt, Freunde meistens doch, Kino na ja.“ Aber bevor jemand auf falsche Gedanken kommt: Natürlich sei das neue Leben ohne Fleisch und eigenes Auto viel lustvoller, ja einfach herrlich. So steht es am Ende: „Ich kann den Tieren in die Augen sehen, es stimmt mich immer wieder euphorisch, es ist rundum herrlich.“

Es gibt viele Wege, seinem Leben im fortgeschrittenen Alter eine neue Wendung zu geben. Manche kaufen sich ein Boot. Andere beginnen eine Affäre. Die Dritten treten einer neuen Glaubensrichtung bei. Das meiste geschieht im Stillen, ohne dass ein größeres Publikum davon erfährt. Vegan lebende Menschen hingegen sind so stolz auf die Wende, zu der sie sich durchgerungen haben, dass sie nicht an sich halten können und alle Welt darüber in Kenntnis setzen müssen.

Ich vermute, dass es eben doch nicht so leicht ist, dem Fleisch abzuschwören, wie behauptet wird. Seien wir ehrlich: Das Lob von Getreideschrot als Himmelsspeise ist so, als würde jemand die Wonnen des Nagelbrettes preisen, auf dem er sich jeden Morgen niederlässt. In japanischen Klöstern schwören sie auf den Lotussitz als Demutsübung. Dagegen ist morgendliches Weizenschrot mit Leinöl genossen eine vergleichsweise menschenfreundliche Andachtsform.

Bei allem Spott: Heute sehe ich die Sache in einem anderen Licht. Wenn eintrifft, was Experten für den Winter an Entbehrungen voraussagen, sind uns Menschen wie Bernd Ulrich weit voraus. Kein Schnitzel, kein Auto, keine Fernreise – was für viele eine arge Umstellung bedeutet, ist bei ihnen längst Gewohnheit.

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Die Süßwarenindustrie schlägt vorsorglich Alarm. Keksherstellern käme eine herausragende Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung gerade in Notfall- und Engpasssituationen zu, erklärte ein Sprecher, deshalb sei eine Sonderbewirtschaftung mit Gas notwendig. Wenn nicht einmal Bahlsen mehr verlässlich liefern kann, stehen uns wirklich ernste Zeiten bevor.

Von allen Parteien sind vermutlich die Grünen am besten auf die Zeit des Mangels vorbereitet. Nicht, dass sie in den grünen Vierteln das gute Leben nicht zu schätzen wüssten. Die einzigartige Verbindung aus ökologischem Bewusstsein und demonstrativem Wohlstand ist ein unerschöpflicher Quell des Witzes („Kommt ein Grünenwähler mit dem Porsche beim Biobauern vorgefahren“).

Aber zu den Grundströmungen der Bewegung gehört eben auch der Pietismus, diese urdeutsche Geisteshaltung, bei der Genuss und schlechtes Gewissen Hand in Hand gehen. Konsum ohne Reue? Nicht bei einem Vertreter des deutschen Pfarrhauses, das bis heute das Rückgrat der Ökopartei bildet. Entsprechend verbreitet sind hier Ablasshandlungen. Dass man sich mit einem CO2-Papier von den Folgen einer Reise auf die Malediven freikaufen kann, glaubt nur ein Grüner.

Die Verzichtsethik steht spätestens seit dem Klimawandel in voller Blüte. Grundsätzlich ist alles verdächtig, was auf unbedachtes Verhalten schließen lässt. Flug- und Fleischscham sind bekannt, aber Rasenscham? Darauf wären Sie nicht auf Anhieb gekommen, wette ich. Aber so sieht’s aus: „Was die nächste Generation lernen wird: Grüne Wiese vor dem Haus bedeutet, hier lebt ein Wasserverschwender“, schrieb vergangene Woche ein engagierter Vertreter der neuen Klimamoral.

Bei der Klimaikone Maja Göpel geht der Verzicht so weit, dass sie sogar darauf verzichtet hat, das Buch selbst zu schreiben, für das sie berühmt wurde. Weite Teile von „Unsere Welt neu denken“ stammen aus der Feder eines Ghostwriters. Göpel hat das Genre der Klimadomina begründet. Unvergessen, wie sie den RBB-Moderator Jörg Thadeusz in den Senkel stellte, als der ihr gestand, dass er mit Rücksicht auf seinen Rücken lieber in einen SUV einsteigt als in einen Kleinwagen.

Der Kreis von Leuten, die darauf stehen, dass man ihnen die Leviten liest, ist überraschend groß. Anderseits gibt es ja auch Menschen, die nicht genug davon bekommen können, dass man ihnen sagt, was für schlimme Rassisten sie sind. Aber so groß, dass man darauf eine mehrheitsfähige Bewegung begründen könnte, ist die Zahl dann wiederum doch nicht.

Ich bin überhaupt nicht gegen Verzicht. Ich glaube keinen Augenblick daran, dass ein Mehr an Konsum automatisch glücklicher macht. Ich habe nur Zweifel, dass die Verzichts-Bewegung die politische Kraft entfalten wird, die man ihr zutraut. So sehr ich ein Anhänger des Prinzips Selbstverantwortung bin, so skeptisch bin ich, bei gesellschaftlichen Problemen auf die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen zu setzen. Von der Individualisierung der Lösung politischer Fragen kann ich nur abraten.

Den meisten Menschen fehlt schlicht die Zeit, um sich so tief in die Materie einzuarbeiten, wie das erforderlich ist, wenn man es richtig machen will. Umweltbewusstsein war auch immer eine Klassenfrage.

Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal in einem dieser Läden einkaufen waren, die stolz darauf sind, dass es in ihnen keine Verpackung mehr gibt. Bei mir in München-Schwabing war einer gleich um die Ecke: Rasend umweltbewusst, aber es braucht wirklich Vorbereitung, wenn man nicht mit leeren Händen wieder herausgehen will. Kaufen Sie dort mal auf die Schnelle zwei Liter Milch und Cornflakes. Da endet der Kauf mit einer Enttäuschung.

Es ist ohnehin die Frage, wie weit der Appell, sich einzuschränken, trägt. Aus der Forschung ist das Phänomen des Moral Licensing bekannt. Wer sich an einer Stelle vorbildlich verhält, leitet daraus häufig das Recht ab, dann an anderer Stelle über die Stränge zu schlagen. Man kann auch sagen: Kaum etwas ist für das Klima so schädlich wie ein gutes Gewissen.

Es hilft nichts, wer wirkliche Veränderungen erreichen will, kommt um Verbote nicht herum. Wenn man der Meinung ist, dass das Kotelett nicht mehr in die Zeit passt, muss man den Verkauf untersagen.

Ich freue mich schon auf die Diskussion. Sie ist wenigstens ehrlich.

©Silke Werzinger

Die Absage

Will Friedrich Merz Bundeskanzler werden? Man weiß es nicht. Was wir dafür jetzt wissen: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt

Wie ruiniert man als führender Politiker den Ruf eines Menschen? Man sagt seine Teilnahme bei einer Konferenz zu. Es gibt Kritik wegen des geplanten Auftritts. Der Mensch, mit dem man zu einem öffentlichen Gespräch verabredet ist, gilt als rechter Hardliner.

Man sagt die Teilnahme wieder ab – allerdings nicht wegen des Treffens mit dem Hardliner, für das man angegriffen wurde, sondern weil man angeblich im Rahmenprogramm auf zwei Namen gestoßen ist, die eine Teilnahme unmöglich machen. Botschaft Nummer eins: Mit dem rechten Trump-Freund hätte man sich ja noch getroffen, aber nicht mit den beiden anderen Vögeln. Botschaft Nummer zwei: Wer die beiden künftig wieder auf ein Podium einlädt, ist nicht ganz bei Trost.

Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub in Amerika. Da erreichen einen viele Nachrichten aus der Heimat mit Verspätung. Aber dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz seinen Auftritt bei einer Konferenz in Berlin abgesagt hat, weil dort neben dem republikanischen Senator (und Trump-Freund) Lindsey Graham auch der Journalist Henryk M. Broder sowie der Anwalt Joachim Steinhöfel sprechen sollten, das habe ich sogar im fernen Connecticut mitbekommen. Manches mag länger brauchen, bis man davon erfährt, dafür ärgert man sich nachhaltiger.

Ich kenne Henryk Broder, seit ich vor 30 Jahren für den „Spiegel“ von Hamburg nach Berlin wechselte. Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet sind, auch wenn wir in manchem Kampf auf einer Seite standen. Freundschaftlich verbunden, das trifft es vielleicht am ehesten. Möglicherweise nehme ich mir die Geschichte deshalb so zu Herzen.

Broder hat schon gegen die Narren links und rechts der Mitte gekämpft, als viele noch glaubten, wahre Idioten gäbe es nur bei den Rechten. Jedes Interview mit ihm enthält mehr in Sottisen verpackte Wahrheit, als die meisten Journalisten in ihrem ganzen Leben an Wahrheit und Sottisen zustande bringen. Vor allem ist er absolut unkorrumpierbar. Vor sechs Wochen hat er sein Engagement bei der „Weltwoche“ beendet, weil er fand, dass er da nicht mehr hinpasst.

Und nun muss ich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lesen, bei näherem Studium der Teilnehmerliste des „Transatlantischen Forums“, also jener geplanten Veranstaltung mit Merz und Graham in Berlin, sei im Büro Merz aufgefallen, dass auch Henryk M. Broder und Joachim Steinhöfel als Redner vorgesehen waren, „zwei Maulhelden jenes rechten Randes des demokratischen Spektrums, mit dessen parteipolitischer Vertretung, der AfD, CDU und CSU in keiner Form zusammenarbeiten möchten“?

Keine Ahnung, was bei der „FAZ“ beziehungsweise in der CDU-Parteizentrale unter Zusammenarbeit verstanden wird: Die Teilnahme an einem Forum, bei dem unterschiedliche Meinungen aufeinanderstoßen, fällt nach landläufiger Auffassung jedenfalls nicht darunter. Man hätte sich vermutlich nicht mal gesehen. Der Auftritt von Merz war für 14 Uhr vorgesehen, der von Broder und Steinhöfel für 10 Uhr. Das Programm stand auch seit Wochen fest, aber vielleicht liest man im Adenauer-Haus aus Prinzip keine Tagungsprogramme über den Auftritt des Parteivorsitzenden hinaus.

Was die AfD-Nähe angeht, scheint ebenfalls der Wunsch Vater der Behauptung zu sein. Broder hat mal einen Vortrag vor der AfD-Fraktion gehalten, zu dem man ihm nur gratulieren kann, wenn man ihn gelesen hat. Steinhöfel hat seinen Rechtsbeistand zugesagt, als der damalige Parteivorsitzende Jörg Meuthen nach einem Anwalt suchte, der willens war, die AfD im Parteiausschlussverfahren gegen Nazis wie den Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz zu vertreten. Die Nazihaftwerdung der AfD schritt dann trotz des Kalbitz-Rauswurfs voran, worauf Steinhöfel sein Mandat wieder niederlegte.

Ich weiß nicht, welche Pläne Friedrich Merz noch hat. Möglicherweise reicht es ihm, Parteivorsitzender und Fraktionschef der CDU zu sein, das wäre ihm zu wünschen. Vielleicht will er aber auch Bundeskanzler werden. Ab einem gewissen Level trauen sich Politiker alles zu, das scheint nahezu unausweichlich. Wenn man Manuela Schwesig fragen würde, ob sie nicht finde, dass sie das Zeug zur Bundeskanzlerin habe, sagte sie garantiert Ja.

Stellen wir uns Merz als Bundeskanzler vor. Wir wissen jetzt: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt. Ich hatte zwischenzeitlich einen anderen Eindruck gewonnen. Ich hielt ihn für einen, der unter Druck Standfestigkeit zeigt. Jetzt weiß ich, er ist doch nur ein Würstchen. Ein sehr reiches Würstchen, keine Frage, mit einer schönen neuen Brille und einem Pilotenschein. Der Pilotenschein hat mich sofort für ihn eingenommen. Franz Josef Strauß hatte ebenfalls einen. Aber das ist leider auch alles, was Merz mit Strauß verbindet.

Die Krux der modernen Konservativen ist, dass sie bei den falschen Leuten ankommen wollen. Ein Linker käme nie auf die Idee, den Beifall der anderen Seite zu suchen. Entweder ist es ihm egal, wie sie im Lager des Gegners über ihn denken. Oder er ist im Gegenteil sogar stolz, dass sie ihn dort hassen. Wer ihn nicht wählt, kann ihm gestohlen bleiben.

So kann der Konservative nicht denken. Konstantin von Notz von den Grünen schreibt auf Twitter, dass Merz nicht mehr alle Latten am Zaun habe? Im Team Merz schlottern ihnen vor Angst die Hosen. Die „Süddeutsche“ findet, dass es sich für den Anführer der größten Oppositionspartei nicht schickt, einen Mann wie Graham zu treffen, der Trump prima findet? Oh Gott, wie kommen wir aus der Nummer wieder heraus? Sagen wir einfach, wir haben das Programm nicht gekannt!

Natürlich würde man sich bei den Linken auch niemals vorschreiben lassen, mit wem man sich zusammensetzen darf und wem nicht. Hans-Christian Ströbele hat als Anwalt sogar waschechte Terroristen vertreten, die nicht nur davon träumten, das System aus den Angeln zu heben, sondern das mit der Waffe in der Hand versuchten.

Hat das die Grünen davon abgehalten, ihn als Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufzustellen? Selbstverständlich nicht. Saß er dann im Geheimausschuss des Bundestages, ohne dass die anderen Fraktionen Einspruch erhoben hätten? Aber sicher. Wenn jemand geschrieben hätte, dass man mit Leuten wie Ströbele wegen seiner Mandate nicht zusammenarbeiten dürfe, sie hätten sich bei den Grünen totgelacht.

Manchmal denke ich an Helmut Kohl zurück. Wie hätte Kohl reagiert? Ganz einfach: Wenn einer wie Notz rumkrakeelt hätte, wäre er gleich zweimal zu der Konferenz gekommen, von der man ihm gesagt hätte, dass man da nicht hingehen darf. Im Zweifel stand er auch noch für Fehler ein, die andere gemacht hatten.

Die beste Lebensversicherung eines Ministers in Nöten waren Kommentare, die seine sofortige Absetzung verlangten. Da hielt Kohl schon aus Prinzip an der Person fest, deren Kopf nun allenthalben gefordert wurde. So überlebte Manfred Wörner den Kießling-Skandal, für den er als Verteidigungsminister eigentlich sofort seinen Hut hätte nehmen müssen, und Rita Süssmuth ihre Flugaffäre.

Merz war einer der Ersten, die sich von Kohl lossagten. Man müsse die Distanz vergrößern, den Ton verschärfen, erklärte er, als die Spendenaffäre losbrach. Da war er Fraktionsvize und Kohl gerade als Kanzler abgewählt. Schon von der Mutter habe er gelernt, dass „die Hand, die segnet, zuerst gebissen wird“, vertraute Kohl darauf seinem „Tagebuch“ an.

Merz brauchte 22 Jahre, bis er endlich das wurde, was zu werden er schon damals erhofft hatte. Der Verrat zahlt sich für den Verräter nicht immer aus.

©Michael Szyszka

Sag den Namen nicht

Die Regierung will, dass jeder Deutsche einmal im Jahr das Geschlecht wechseln darf. Wer bei der Anrede weiter den alten Vornamen benutzt, dem droht ein Bußgeld von 2500 Euro. Woran sich die Frage anschließt: Sind Transmenschen besonders empfindlich?

Ich war neulich bei der FDP in Pullach. Der Vorsitzende des Ortsvereins hatte mich gefragt, ob ich nicht einmal bei den Liberalen auftreten wolle. Ich habe spontan zugesagt. Ich lebe noch nicht so lange im Isartal. Da kann es nicht schaden, neue Bekanntschaften zu knüpfen. Ich würde auch bei den Grünen auftreten. Aber die trauen sich noch nicht so recht, mich einzuladen.

Nach dem Vortrag kam eine Frau mittleren Alters auf mich zu. Sie stellte sich mir als langjähriges FDP-Mitglied vor. Was ich davon hielte, dass der Justizminister aus ihrer Partei dafür gesorgt habe, dass jeder sein Geschlecht einmal im Jahr ändern könne? Sie habe jahrelang für die Sache der Frauen gekämpft. Der Kampf sei nicht immer leicht gewesen. Sie habe sich so manches anhören müssen. Dass es nun in Zukunft keine Rolle mehr spielen solle, ob jemand als Mann oder Frau geboren sei, könne sie nicht verstehen.

Ich musste gestehen, dass ich ebenfalls ratlos bin. Ich weiß nicht, was die FDP dazu bringt, ausgerechnet in der Gesellschaftspolitik gemeinsame Sache mit den Grünen zu machen. Vielleicht ist man es leid, dass alle in den Medien ständig auf einem rumhacken, und hofft jetzt, mal etwas Nettes über sich zu lesen, wenn man sich als besonders fortschrittlich gibt.

Möglicherweise glauben sie in der Parteispitze auch wirklich, dass es ein himmelschreiendes Unrecht ist, wenn Menschen nicht so oft ihr Geschlecht wechseln können, wie sie das wollen. Statt freie Fahrt für freie Bürger jetzt also freie Geschlechtswahl für die Freunde der Freiheit. Ich kann nur sagen: An der Basis kommt der Beschluss eher mittelprächtig an.

Was bei der Grünen-Jugend ein Renner ist, muss nicht zwingend ein bürgerliches Publikum überzeugen. Wenn die Leute hören, dass ursprünglich schon 14-Jährige die Möglichkeit haben sollten, ihr Geschlecht zu wechseln, notfalls sogar gegen den Willen der Eltern, sinkt die Zustimmung in der Mitte der Gesellschaft gegen null.

Jeder, der Kinder im pubertären Alter hat, weiß, welche Zwangsvorstellungen Jugendliche ausbilden können. Einige halten sich plötzlich für zu dick. Andere für zu hässlich. Die dritten wollen ihre Haut mit der Tattoonadel malträtieren oder ihre Ohrläppchen zur Bohrung von Tunneln nutzen, durch die anschließend ein Pfeifendeckel passt.

Zum Glück wächst sich das meiste aus. Viele Torheiten lassen sich später wieder korrigieren. Die Folgen von Pubertätsblockern, wie sie bei der Geschlechtsangleichung verschrieben werden, lassen sich irgendwann nicht mehr revidieren. Die Veränderung ist unwiderruflich, deswegen ist bislang ja die Empfehlung eines Arztes Pflicht. Auch das soll sich nach dem Willen der Transaktivisten ändern.

Wenn jemand beschließt, künftig unter einem neuen Namen durchs Leben zu gehen, klar, warum nicht? Der „Stern“ hatte mal einen Redakteur namens Hollow Skai. Er hieß eigentlich Holger Poscich, wie ich später erfuhr. Aber alle Welt nannte ihn Hollow Skai – die Kollegen, die Freunde, der Name fand sogar Eingang ins „Stern“-Impressum.

Wenn der gute Mann eines Tages das Zeitliche segnen sollte, wird sich auf seinem Grabstein der Name eines indianischen Häuptlings finden. Heute ginge das nicht mehr so leicht durch, wegen kultureller Aneignung und so. Als ich mit dem Journalismus anfing, akzeptierte man das noch als Punk.

Wenn ich mich nicht täusche, wird es nicht beim Recht auf den jährlichen Geschlechts- und damit Namenswechsel bleiben. In Nordrhein-Westfalen wird jetzt eine Stelle eingerichtet, bei der man sich melden kann, wenn man Transfeindlichkeit wittert. Alles unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit soll hier zur Anzeige gebracht werden, so hat es die neue Familienministerin in Düsseldorf erklärt. Was wird da gemeldet? Beleidigungen oder Herabwürdigungen ziehen ja heute schon Strafen nach sich, das kann also nicht gemeint sein.

Wie man weiß, ist die Community enorm empfindlich. Einmal aus Versehen den alten Vornamen genannt, und man gilt als transphob. Oder schlimmer noch: als jemand, der Transmenschen die Existenz abspricht. Die Bundesregierung überlegt, ob sie das sogenannte Deadnaming unter Strafe stellen soll. 2500 Euro Bußgeld für jeden, der eine Transperson fahrlässig mit dem Geburtsnamen anspricht.

Ich halte es für eine Frage der Höflichkeit, dass man jemanden so anredet, wie er es als wünschenswert empfindet. Ich nehme auch Rücksicht auf Adels- und Professorentitel, ohne im Einzelnen zu prüfen, ob der Träger über alle nötigen Diplome und Stammbäume verfügt. Aber dass man jemanden auslöscht, weil man ihn falsch anspricht? Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt.

Inwieweit ist die Gesellschaft für das persönliche Lebensglück oder -unglück verantwortlich? Das ist die Frage. Hormone schlagen auf die Stimmung. Was man an Medikamenten zu sich nehmen muss, um als Mann dauerhaft den Testosteronspiegel zu senken, ist keine Kleinigkeit. Das bringt vieles durcheinander, möglicherweise auch die innere Balance.

Im Netz bin ich auf den Eintrag einer Frau gestoßen, warum sie vieles aus der Transszene an die Beziehung zu einem narzisstischen Mann erinnere, aus der sie sich mühsam gelöst habe. Der Aufhänger war der Fall einer Musikgruppe, die sich gezwungen sah, eine ausführliche Erklärung abzugeben, weil einer der Musiker, ein Transmann, die Band verlassen hatte.

Die Musikerinnen machten sich große Vorwürfe, dass sie nicht genug Rücksicht genommen hätten. Sie hätten sich vorgenommen, sich komplett um ihren Kollegen und seine Bedürfnisse zu kümmern. Aber sie hätten ihn enttäuscht. Sie kenne das zur Genüge, schrieb darauf die Frau, die sich im Netz Frau Mond nennt: Die Selbstvorwürfe, nie genug getan zu haben, das Gefühl, ständig auf Eierschalen laufen zu müssen, weil ein falsches Wort reiche, um alles zum Einsturz zu bringen.

Wie würde ich reagieren, wenn mein Sohn mir im Alter von 14 Jahren sagen würde, er sei trans? Ich wäre im ersten Moment besorgt. Nicht weil ich denken würde, man könne als Transperson kein glückliches Leben führen. Ich hätte Sorge, dass der Weg dahin schwer wird. Als Elternteil möchte man sein Kind vor allem schützen, was ihm Leid zufügen könnte.

Ich würde meinem Sohn raten, erst mal auszuprobieren, wie das Leben als Mädchen so ist, bevor er etwas tut, was sich nicht mehr ändern lässt. Wenn sich herausstellen sollte, dass es ihm wirklich ernst ist mit dem Geschlechterwechsel, würde ich ihn auf dem Weg begleiten. Ich vermute aber, dass ich weiterhin Zweifel hätte, ob es Meldestellen braucht, bei denen man transfeindliches Verhalten anzeigen kann, oder eine spezielle Gesetzgebung, die es verbietet, jemanden bei seinem alten Namen zu nennen.

Die meisten Eltern machen sich viele Gedanken bei dem Namen, dem sie ihrem Kind geben. Wenn ihre Tochter oder ihr Sohn ihn später ablegen will, ist das der Lauf der Dinge. Aber warum den Namen, den die Eltern ausgesucht haben, so behandeln, als sei er etwas, wofür man sich schämen muss? Er ist mit vielen Erinnerungen verbunden, hoffentlich auch einigen sehr schönen. Ich halte es immer für falsch, wenn man an einem bestimmten Punkt seines Lebens meint, alles hinter sich lassen zu müssen, was einem nicht mehr gefällt.

©Sören Kunz

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger

Das Hartz-IV-Paradox

Überall fehlt Personal – in der Gastronomie, im Hotelgewerbe, am Flughafen. Gleichzeitig sind 1,6 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Wie passt das zusammen?

Es gibt zwei Zahlen in Deutschland, die niemand zusammenzubringen scheint. Oder niemand zusammenbringen will. 1,7 Millionen und 1,6 Millionen. Das eine ist die Anzahl der offenen Stellen, für die dringend Arbeitskräfte gesucht werden. Das andere ist die Anzahl der Menschen, die arbeitslos sind und Hartz IV beziehen.

Überall fehlt Personal. In der Gastronomie, im Hotelgewerbe, am Flughafen. Dass Deutschland ein Fachkräfteproblem hat, das kennen wir. Diese Klage ertönt so verlässlich wie zu Sonntag Glockengeläut. Aber wir reden hier nicht von Spezialaufgaben, sondern von einfachen Tätigkeiten, also Jobs, die jeder erledigen kann, der über zwei Hände verfügt.

Um Koffer zu entladen oder Tische abzudecken, braucht es kein Abitur und keine Vorkenntnisse. Man muss noch nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen. Alles, was man benötigt, ist ein gesundes Kreuz und den Willen, sich nützlich zu machen.

Aber die Leute sind verschwunden. Am Flughafen stapelt sich das Gepäck, weil niemand die Koffer aufs Band wuchtet. Das Restaurant in Dresden hat nur noch drei Tage die Woche geöffnet. Personalmangel, sagt der Wirt entschuldigend. Er finde einfach niemanden, der die Teller abträgt. „Bewirb dich bei uns“, steht auf dem DHL-Transporter. Es klingt fast flehentlich.

„Wo sind die nur alle hin?“, fragte der „Spiegel“ die Woche auf seinem Titel. Es ist ein Rätsel. Hunderttausende fehlen, und niemand kann sich so richtig erklären, wo sie geblieben sind. Wenn nur die körperlich anstrengenden Arbeitsstellen leer blieben, um die sich schon früher keiner riss, das würde man verstehen. Aber auch an der Tankstelle oder beim Bäcker suchen sie händeringend nach Leuten, die mithelfen.

Ein noch größeres Rätsel ist, dass niemand eins und eins zusammenzählt und einen Blick auf diejenigen wirft, die nicht arbeiten gehen, obwohl sie arbeiten könnten. 1,6 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter beziehen Hartz IV, dazu kommen die Familienangehörigen. Und nicht alle sind IT-Spezialisten oder Post-Docs, für die es gerade keine Anschlussverwendung gibt.

Wie muss man sich den typischen Hartz-IV-Bezieher vorstellen? Ein Vorschlag: alleinerziehende Mutter, studierte Medizinerin mit zwanzig Jahren Berufserfahrung, der es den Boden unter den Füßen wegzog, als der Mann sie verließ. Jetzt steht sie an der Tafel, um frisches Obst für die Kinder zu ergattern. Dafür bringt der achtjährige Sohn in Mathematik eine „eins mit Sternchen“ nach Hause. So steht es bei Kathrin Hartmann in „Wir müssen leider draußen bleiben“, einem der Klassiker der Armutsreportage.

Auch in „Die Elenden“ von Anna Mayr, dem aktuellsten Zugang zum Genre der Berichte vom Rand der Gesellschaft, ist es stets eine Verkettung unglücklicher Umstände, die den eben noch mitten im Leben Stehenden straucheln und stürzen lässt. Da ist die Frau, die auf einen Heiratsschwindler hereinfällt. Oder die junge Mutter, die eine Krankheit zu Boden streckt. Oder der Mann, dessen Unternehmen in den Strudel der Pandemie gerät. Selbstverständlich träumen alle von einer Rückkehr in die Arbeitswelt, die sich dann irgendwie nie materialisiert, allen Bewerbungsschreiben zum Trotz.

Das ist die sentimentale Sicht auf die Dauerarbeitslosigkeit. Die andere wäre, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die schon so lange einer geregelten Beschäftigung entwöhnt sind, dass sie gar nicht mehr wissen, was Arbeit ist. Wie immer man dazu steht: Man wüsste gerne, woran man ist. 44 Milliarden Euro geben wir im Jahr für den Hartz-IV-Staat aus. Es ist einer der größten Posten im Haushalt, fast so groß wie der Verteidigungsetat, um den gerade so gerungen wird.

Aber man liest darüber nichts. Acht Seiten umfasst die Titelgeschichte im „Spiegel“ zur neuen Jobkrise. Eindrucksvoll wird dargelegt, welche Schneise der Verwüstung der Personalmangel in der Wirtschaft hinterlässt. Aber nicht an einer Stelle wird erwähnt, dass es Tausende Arbeitslose gibt, die man sofort an den Flughafen schicken könnte, um den Betrieb in Gang zu halten.

Auch die Regierung fahndet lieber in der Türkei nach Arbeitskräften, als darüber nachzudenken, wie man diejenigen wieder in Lohn bringen könnte, die angeblich jeden Tag die Stellenanzeigen durchforsten. Eines der ersten Gesetzesvorhaben der neuen Regierung bestand darin, den Druck auf Arbeitsunwillige zu senken. Bislang musste jemand, der komplett auf stur stellte, mit einem Abzug bei den Hartz-IV-Leistungen rechnen. Damit ist es erst einmal vorbei. Von nun an fließt immer Geld, egal, ob sich einer kooperativ zeigt oder nicht.

Es ist kein Zufall, dass es die Grünen waren, die auf die Erleichterung drängten. Wer das Leben am Rand der Gesellschaft nur aus der Zeitung kennt, neigt zur Verklärung der Verhältnisse. Bei den Sozialdemokraten sieht das schon anders aus. Die SPD hat in ihren Reihen noch immer eine erkleckliche Anzahl von Anhängern, die Tür an Tür mit Leuten wohnen, die sich morgens lieber auf die andere Seite drehen, als den Gang zum Arbeitsplatz anzutreten.

Es war immer ein Missverständnis, dass die sogenannten unteren Lohngruppen besonderes Verständnis für das Leben auf Stütze aufbringen würden. Sozialromantik ist auch eine Klassenfrage. Je weiter man weg ist, desto leichter fällt das Mitleid. Die Lidl-Verkäuferin hat nichts als Verachtung übrig für die Nichtsnutze, die sich im Hartz-IV-Leben eingerichtet haben und sie im Zweifel noch dafür verspotten, dass sie sich durch den Tag quält.

Die Wut über die Hartz-IV-Reformen richtete sich nicht gegen Sanktionen für Schlawiner und Drückeberger. Was für Unverständnis sorgte, war die Entscheidung von Rot-Grün, auch Leuten das Leben schwer zu machen, die jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten. Das wurde als zutiefst ungerecht empfunden. Wer sein Leben hart gearbeitet hat, weiß sehr genau, wo die Grenze verläuft zwischen Faulenzern, die nicht arbeiten wollen, und Malochern, die einfach Pech hatten, weil die Werft kollabierte oder irgendwelche Fritzen in der Konzernzentrale das nächste Umstrukturierungsprogramm anwarfen.

In der öffentlichen Befassung mit dem Leben am Rand der Gesellschaft kommt Armut ausschließlich als Finanz-problem vor, weshalb alle Sozialprogramme darauf hinauslaufen, mehr Geld lockerzumachen. Der Praktiker hingegen weiß, dass die Frage, ob man morgens mit den Kindern aufsteht, nicht eine des Geldes ist. Auch die ärmste Kirchenmaus kann sich einen Wecker stellen, damit die Kinder ein Frühstück bekommen haben, bevor sie sich auf den Schulweg machen.

Gibt es unverschuldete Armut? Aber ja. Man muss sich nur bei einer Tafel in die Schlange einreihen, um das zu erkennen. Sollte die Regierung die Not lindern? Ich wäre sofort dafür. Zu den großen Ungerechtigkeiten des Sozialstaats gehört es, dass man sein Leben lang geschuftet haben kann, ohne dass es einen später vor Armut schützt.

Aber nicht jeder, der Hartz IV bezieht, ist ein Opfer der Verhältnisse. Für manche ist es einfach eine Frage der Kalkulation. Wer heute als Vorstand einer vierköpfigen Familie an der Ladenkasse steht oder Umzugskisten schleppt, könnte morgen den Job quittieren, ohne dass er sehr viel schlechter dastände. Auf 2100 Euro netto belaufen sich die Zuwendungen für einen Hartz-IV-Haushalt mit zwei Kindern inklusive Miete. Sind mehr als zwei Kinder im Haus, sind es noch einmal deutlich mehr.

Die Politik kann sich entscheiden, die Leute in Ruhe zu lassen. Wir nehmen auch künftig hin, dass Hunderttausende auf Kosten derer leben, die den Laden am Laufen halten. Womit wir aber aufhören sollten, ist so zu tun, als träumte jeder Hartz-IV-Bezieher von einem Job, der sich aus unerfindlichen Gründen nie einstellt.

Wer angesichts von 1,7 Millionen verwaisten Stellen keinen Arbeitsplatz findet, ist entweder arbeitsunfähig oder arbeitsunwillig. Einen anderen Schluss lässt die Lage nicht zu.

©Sören Kunz

Frieren mit Frau Dr. Merkel

Deutschland bereitet sich auf die Notzuteilung von Gas vor: Wer bekommt was, wo wird abgeschaltet? Sollte dabei das Verursacherprinzip gelten, würde es bei der ehemaligen Bundeskanzlerin sehr kalt werden

Die Bundesregierung solle nicht mehr über die vergangenen 16 Jahre reden, hat Friedrich Merz im Bundestag gesagt. Die Wirtschaftskrise, vor der das Land stehe, sei jetzt ihre Herausforderung. Alles, was komme, falle allein in die Verantwortung der neuen Regierung.

Ich schätze Merz. Wirklich. Er ist das Beste, was der CDU nach der verlorenen Wahl passieren konnte. Aber ich finde, er macht es sich ein klein wenig zu einfach. Sosehr ich den Wunsch verstehe, die Vergangenheit hinter sich zu lassen: So schnell wird man sie nicht los, wie man – aus der Vergangenheit – weiß.

Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand. Der Wirtschaftsminister spricht vom „Albtraumszenario“, die Bundesnetzagentur entwirft Pläne für die Notbevorratung mit Gas, und die Bürger ordern Heizgeräte. Was bei der Pandemie das Klopapier war, sind nun Radiatoren.

Für alle, die keinen Heizlüfter mehr ergattern können, gibt es praktische Spartipps. In Berlin hat der Gasag-Chef dazu aufgerufen, die Hände kürzer zu waschen. Die Angst vor der Gasarmut ist noch größer als die Angst vor dem Virus. Und da soll man sich nicht fragen, wie wir in diesen Schlamassel geraten sind?

Alle tun jetzt ganz überrascht, dass der Mann im Kreml die Macht nutzt, die wir ihm verliehen haben. Was genau haben sie im Kanzleramt all die Jahre gedacht, wie Putin reagieren würde, wenn man ihn mit Sanktionen bedroht? Dass er weiterhin brav seine Lieferverpflichtungen erfüllt, weil er das so zugesagt hat? Ich würde in meiner Naivität immer davon ausgehen, dass jemand, der Giftgas auf Kinder regnen lässt, kein Problem damit hat, den Gashahn zuzudrehen, wenn er meint, dass ihm das nutzt. Aber ich bin ja auch kein Kanzlerberater.

Die Russen hätten doch immer geliefert, heißt es zur Entschuldigung, trotz Kaltem Krieg, der Hilfe für Assad und Krim-Annexion. In Wahrheit hat Putin sein Gas schon mehrfach als Waffe eingesetzt – gegen die Ukrainer, gegen Weißrussland, gegen Estland. Wir haben nur vorgezogen, das nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Man hätte also leicht wissen können, dass man es mit einem Gangster als Hauptlieferanten zu tun hat. Und sich entsprechend vorbereiten. Stattdessen machte man sich in der Kanzler:innenetage am Spreebogen lieber über die Bilder lustig, auf denen der starke Mann aus Russland mit nacktem Oberkörper beim Taiga-Ritt posierte. Was für ein lächerlicher Macho! So gestrig! Hahaha!

Alles, worauf eben noch die deutsche Energieversorgung beruhte, liegt nun in Trümmern. Fragt man bei der Frau nach, die in den vergangenen 16 Jahren die Verantwortung trug, bekommt man zur Antwort, die Abhängigkeit sei eine Folge der Liberalisierung des Energiemarktes. Weil das russische Gas immer in ausreichendem Maße vorhanden gewesen sei, habe niemand in der Wirtschaft Interesse gezeigt, sich nach Alternativen umzusehen. Die Politik als Zaungast.

Nun ja. Nationale Sicherheit, kritische Infrastruktur – all das scheint in Angela Merkels Welt kein Begriff gewesen zu sein. Bei anderer Gelegenheit zeigte sie außerdem nicht so viel Skrupel. 2011 entschied die Kanzlerin den Ausstieg aus der Kernenergie, 2017 folgte das Verbot des Fracking. Wenn es ums Aussteigen aus heimischer Energieproduktion ging, war sie immer bereit, sich über die Interessen der Wirtschaft hinwegzusetzen.

Merkels langjähriger außenpolitischer Berater, der Diplomat Christoph Heusgen, berichtete kürzlich, der Anteil russischen Gases an der Energieversorgung sei im Kanzleramt nie Thema gewesen. Der Anteil stieg binnen zehn Jahren von 37 auf 55 Prozent. Er könne sich nicht erinnern, jemals solche Zahlen gesehen zu haben, sagt Heusgen. Wie soll man das nennen? Sorglos? Fahrlässig? Von allen guten Geistern verlassen?

Es ist ja nicht so, dass niemand gewarnt hätte. Als es der Bundesregierung gefiel, auch noch den größten Gasspeicher des Landes in die Hand der Russen zu geben, waren es die Grünen unter Führung des Abgeordneten Oliver Krischer, die vor den Folgen warnten. „Die Versorgungssicherheit ist nicht gefährdet“, lautete die Antwort. Der Satz wurde standardmäßig verschickt.

Krischer ist heute Umweltminister in Nordrhein-Westfalen, er wird sich an den Disput erinnern. Der Füllstand in Rehden, dem Sitz von Deutschlands größtem Gasspeicher, lag im Februar bei 3,7 Prozent. Jetzt sind wir bei 29 Prozent, immer noch viel zu wenig, um durch den Winter zu kommen. Wir stünden deutlich besser da, wenn einer von Merkels Leuten mal nachgeschaut hätte, was sie in Rehden so treiben. Aber es hat nie jemanden interessiert, ob die Russen auch tatsächlich Gas einlagern.

Was die Regierung Merkel angeht, könnten die Grünen einiges erzählen. Habeck hat dem „Spiegel“ berichtet, wie sie im Kanzleramt den Bau eines Flüssiggas-Terminals in Brunsbüttel hintertrieben. RWE wollte größere Gasmengen abnehmen, die Verträge waren unterschriftsreif. Aber die Kanzlerin zeigte kein Interesse. Die Sache musste abgeblasen werden.

Es könnte sich auch lohnen, mal bei Joschka Fischer nachzufragen, warum aus Nabucco nichts geworden ist. Der eine oder andere wird sich erinnern: Das war die Pipeline, über die Gas aus Aserbaidschan nach Deutschland fließen sollte. Fischer war bei dem Projekt als Chefberater angestellt. Am Ende musste er sich gegen die Gazprom-Mafia geschlagen geben – eine der wenigen, wirklich schmerzhaften Niederlagen seines Lebens.

Werden wir aus Schaden klug? Man wird sehen. Der neue Traum heißt: Abkehr von fossiler Energie. Der Abschied von allen fossilen Brennstoffen steht ganz oben auf der grünen Agenda.

Ich fürchte, auch das wird ein Traum bleiben. Ein entwickeltes Industrieland von der Größe der Bundesrepublik lässt sich nicht vollständig mit erneuerbaren Energien betreiben, jedenfalls dann nicht, wenn man Industrieland bleiben will. Es braucht immer einen Energieträger, auf den sich das produzierende Gewerbe verlassen kann. Aber die Welt als Wille und Vorstellung ist ein Konzept, das bis heute nichts von seinem Reiz eingebüßt hat.

Nur ein Detail: Im Koalitionsvertrag steht, dass ab Januar 2025 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll. Öl- und Gasheizungen scheiden damit aus. Lediglich die Wärmepumpe erreicht diesen Wert. Ich habe mit meinem Klempner gesprochen, weil ich im Winter meine alte Gasheizung austauschen lassen wollte. Mein Haus ist von 1993. Klassische Doppelhaushälfte, 140 Quadratmeter, nichts Besonderes. „Keine Chance“, sagte er. „So eine Wärmepumpe ist viel zu groß für Ihren Keller. Außerdem brauchen Sie eine ganz andere Dämmung, damit die Sache funktioniert.“

In der „FAZ“ habe ich daraufhin gelesen, dass das Gros des Hausbestandes in Deutschland für den Einbau von Wärmepumpen ungeeignet ist. Das hält die Regierung selbstredend nicht davon ab, an ihrem Ziel festzuhalten. Man kann Hausbesitzern also nur raten, vor 2025 noch schnell die alte Gastherme durch eine neue zu ersetzen. Danach ist es verboten – Energiebilanz hin oder her. Das ist genau die Geisteshaltung, die uns in die Gaskrise geführt hat. Sorry, dass ich das so sage.

Man soll ja nicht nachtragend sein. Andererseits bin ich ein Anhänger des Verursacherprinzips. Wenn demnächst Gas bevorratet wird, hätte ich einen bescheidenen Wunsch. Könnte man nicht in den Plänen, bei wem zuerst das Gas abgestellt wird, vor der Industrie die Verantwortlichen für das Debakel auflisten?

Wir haben uns entschieden, Gerhard Schröder seine Mitarbeiter und sein Büro zu streichen. Damit verglichen wären ein paar kalte Wochen für Angela Merkel und den Architekten der Russlandfreundschaft, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, vergleichsweise milde Einschränkungen.

Außerdem: Mit zwei Pullovern und etwas Treppensteigen könne man gut durch den Winter kommen, sagt der Gasag-Chef in Berlin. Das gilt bestimmt auch für die Wohnung der Kanzlerin und fürs Schloss Bellevue.

©Michael Szyszka

Die Schuld des weißen Mannes

Die Länder des Westens haben 600 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe versprochen, um die Allianz gegen Russland zu stärken. Wie wäre es mit dem Gegenteil: Kein Geld für Staaten, die zu Putin halten?

Das Gute an Putin und seinen Satrapen ist, dass sie einen über ihre Absichten selten im Unklaren lassen. Sie reden über die Verheerungen, die sie über die Welt zu bringen gedenken, so selbstverständlich wie andere über das Wetter.

Vor drei Wochen saß die Kreml-Propagandistin Margarita Simonyan auf einer Bühne in St. Petersburg und verbreitete sich lächelnd über Hunger als Waffe. „Unsere Hoffnung ist jetzt der Hunger“, sagte sie. „Kommt der Hunger, kommt der Westen zur Vernunft.“ Er werde seine Sanktionen lockern und wieder freundschaftliche Beziehungen mit Russland pflegen, da es für ihn keine andere Wahl gebe.

An dem Auftritt war neben der blendenden Laune, mit der Frau Simonyan das Hungerprogramm bekannt gab, die Offenheit bemerkenswert, in der sie Mitleid zur Schwäche erklärte. Der Russe kennt kein Mitleid, musste man ihren Ausführungen entnehmen. Er ist nicht so weich wie der Bewohner des Westens, der dem Leid nicht zusehen kann, ohne irgendwann einzulenken.

Steigende Lebensmittelpreise setzen auch Menschen in Deutschland zu. Aber es ist eine Sache, ob man sich einschränken muss, und etwas ganz anderes, seine Familie nicht mehr ernähren zu können, weil der Preis für Brot oder Sonnenblumenöl durch die Decke geht. Bis der Westen Hunger leidet, muss der Krieg in der Ukraine noch sehr, sehr lange dauern.

Man sollte also denken, dass die Anführer der Dritten Welt sich im Zorn auf Putin einig sind. Wenn die Hungerwaffe des Kreml Menschen trifft, dann die Armen in Afrika und Asien. Aber so denken sie nicht, ganz im Gegenteil. Kein Land aus Afrika ist bei den Sanktionen gegen Russland dabei. Kein Land in Lateinamerika. In Asien machen lediglich Japan, Südkorea und Taiwan mit. Wenn die Russen Getreidesilos plündern und Häfen verminen, ist daran nicht Putin schuld, sondern, logisch, der Westen. Dass der Westen schuld ist, darauf kann man sich im Rest der Welt immer verständigen.

„In Deutschland glauben viele, die meisten Länder stünden aufseiten der Ukraine. In Wahrheit entsteht ein antiwestlicher Block, so mächtig, wie es ihn in der Geschichte noch nie gegeben hat“, bilanzierte der „Welt“-Herausgeber Stefan Aust anlässlich des BRICS-Gipfels, bei dem sich China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten zum Gedankenaustausch trafen.

Auch wir haben gerade einen Gipfel hinter uns. Die G7-Staaten trafen sich vor malerischer Bergkulisse im bayrischen Elmau. Anders als 2015, als man sich das erste Mal in Elmau einfand, waren dieses Mal auch eine Reihe von Ländern des „globalen Südens“ zu Gast, wie Entwicklungsländer heute heißen – Indien, Südafrika, Senegal. Dass viele dieser Staaten weiter mit Moskau im Geschäft sind, allen Appellen zum Trotz, ist auch den Regierungschefs der freien Welt nicht verborgen geblieben.

Deshalb jetzt der „Outreach“, also die Umarmung von Staatschefs, von denen man im Westen annimmt, dass sie unsere Werte teilen. Man wolle China und Russland nicht mehr allein das Feld überlassen, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz in Elmau. Und wo man schon mal dabei war, wurde gleich ein finanzielles „Outreach“-Programm mitbeschlossen: 600 Milliarden Euro an zusätzlicher Entwicklungshilfe.

Typisch westlicher Ansatz, würde ich sagen. Wir erhöhen das Entwicklungsgeld und hoffen, dass sie in Afrika dann einsehen, dass es besser ist, nicht auf autokratische Systeme zu setzen, sondern auf die Stimme der Freiheit, also auf uns.

Ich war mehrfach in Afrika, auch in Ländern, die nicht auf der touristischen To-do-Liste stehen. Uganda zum Beispiel. Oder Mauretanien. In Mauretanien war ich mit Bundespräsident Horst Köhler. Wir hatten dort einen sehr schönen Empfang durch die amtierende Regierung. Zwei Wochen nachdem wir zurück in Deutschland waren, las ich, dass es einen Putsch gegeben hatte und alle, die uns eben noch die Hand gegeben hatten, einen Kopf kürzer gemacht worden waren. Die politischen Wetterwechsel können in Afrika sehr abrupt sein.

Eines ist mir bei allen Besuchen aufgefallen: Wir sind zwar vorbildlich, was die Hilfsbereitschaft angeht, aber die Kontakte zu den Mächtigen knüpfen die anderen. Egal, wohin man in Afrika seinen Fuß setzt, die Chinesen sind schon da. Die Chinesen kämen nie auf die Idee, einen Scheck zu schreiben und zu sagen: Macht was Ordentliches damit. Sie kaufen sich für ihre Entwicklungshilfe Minen und Schürfrechte. Oder gleich ganze Regionen. Alles, was wir im Westen als Neokolonialismus ablehnen.

Ich habe eine Ahnung, wie es kommen wird. Die Beschenkten nehmen dankend die 600 Milliarden Euro und sind dennoch nicht bei unseren Sanktionen dabei. Warum auch? Geld aus dem Westen und Discount-Öl aus Russland: Das ist ein unschlagbarer Deal. Wenn mir den jemand anbieten würde, würde ich den auch annehmen.

Vielleicht ist es an der Zeit, unseren Entwicklungshilfeansatz zu überdenken. Möglicherweise kommt man weiter, wenn man Leute nicht noch dafür belohnt, dass sie einem in den Rücken fallen, sondern ihnen sagt, dass es kein Geld mehr gibt, wenn sie nicht aufhören, gemeinsame Sache mit dem Feind zu machen.

Es ist ja ohnehin die Frage, ob wir mit unseren Zahlungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirken. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Thilo Thielke am Kilimandscharo. Thielke hat sein halbes Leben in Afrika verbracht, erst als Korrespondent für den „Spiegel“, dann für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, bis ihm ein Herzinfarkt den Stift aus der Hand nahm, um diese altertümliche Wendung zu gebrauchen. Wenn jemand einen klaren Blick auf die Dinge hatte, dann er.

So wie Thielke es sah, dient das Entwicklungsgeld vor allem dazu, weißen Mittelschichtskindern eine aufregende Zeit in der Fremde zu ermöglichen, wo sie dann in Toyota-Landcruisern durch die Gegend sausen können, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Bei den Hilfsbedürftigen kommt das Geld, das die westlichen Regierungen jedes Jahr losschicken, nicht an. Entweder landet es in den Taschen eines Potentaten. Oder in Bauprojekten, mit denen Leute glücklich gemacht werden, die dem Potentaten nahestehen.

An gutem Willen mangelt es nicht. Auch nicht an guten Ideen. Thielke erzählte, wie sie Bauern in die Kunst des Brunnenbohrens einwiesen, damit die armen Menschen nicht mehr von den Launen des Regengottes abhängig wären. Ein Jahr später waren die Brunnen versandet, weil sich niemand um die Wartung gekümmert hatte, und die Bauern kehrten zu den ihnen seit Jahrhunderten vertrauten Methoden des Maniokanbaus zurück. Ich habe keinen Zweifel, dass es genau so war, wie Thielke mir auf seiner Terrasse mit Blick auf die Schneespitze des Kilimandscharo berichtete.

Schon vor Jahren kam der Ökonom William Easterly zu dem Ergebnis, dass Entwicklungshilfe ein Programm zur moralischen Selbstberuhigung der westlichen Eliten sei. Seine Rechnung war einfach: Wie kann es sein, fragte er, dass 600 Milliarden Dollar nach Schwarzafrika geflossen sind, ohne dass sich an den Lebensbedingungen der Menschen dort etwas geändert hat?

„The White Man’s Burden“ nannte Easterly sein Buch, in dem er dafür plädierte, die Idee, wir wüssten, wie man Afrika auf Vordermann bringt, endlich aufzugeben. Ich habe es für diese Kolumne wieder zur Hand genommen. Es ist unverändert aktuell.

Es ist ein Gebot des Herzens, Menschen in Not zu helfen. Schon jetzt leiden weite Teile Afrikas Hunger, weil zu allem Überfluss auch noch der Regen ausgeblieben ist. Es ist wie eine Abfolge biblischer Plagen. Erst kamen die Heuschrecken, dann kam die Dürre, jetzt kommt auch noch der Krieg. Jeder Euro, den wir zur Linderung der Not ausgeben, ist ein gut ausgegebener Euro.

Aber das ist nicht das, was Biden, Macron oder Scholz im Sinn haben, wenn sie 600 Milliarden Euro versprechen. Sie denken, dass man mit Geld Solidarität kaufen könnte. Dazu müsste man allerdings sagen, was passiert, wenn die Solidarität ausbleibt. Ich fürchte, dazu sind unsere Politiker viel zu vornehm.

©Silke Werzinger

Let’s frack

Wirtschaftsminister Robert Habeck stimmt die Deutschen auf den Gasnotstand ein. Dabei gäbe es genug Gas im eigenen Land – wenn man denn bereit wäre, ein paar Entscheidungen der Regierung von Angela Merkel zu korrigieren

Ich habe beschlossen, ich vertraue in der Gaskrise auf Claudia Kemfert und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Immer nur schlechte Nachrichten, das hält ja auf Dauer das sonnigste Gemüt nicht aus. Jede Woche setzt es neue Horrormeldungen. Erst hieß es, im Winter würde das russische Gas knapp. Jetzt kommen wir damit möglicherweise nicht mal über den Juli, wenn man dem Wirtschaftsminister glauben darf.

Wie gut, dass es Frau Kemfert gibt. Megarezession? Rekordarbeitslosigkeit? Ganze Branchen für immer ausgeknockt? Alles halb so schlimm.

Schon im März kam die Wirtschaftswissenschaftlerin zu dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft einen Gasboykott ohne größere Verwerfungen durchstehen könne. „Wenn wir im Sommer alles dafür tun, dass wir mehr Energie einsparen, nach Möglichkeit auch umstellen in Richtung Wärmepumpe und energetische Gebäudesanierung, dann sind wir gut vorbereitet und können tatsächlich auf die russischen Gaslieferungen verzichten“, sagte sie im Bürgergespräch auf WDR5.

Das DIW, für das sie arbeitet, sieht die Sache ebenfalls nicht so düster. Vor einigen Wochen veröffentlichte das Institut eine Studie, wonach die Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe gesichert sei. Voraussetzung sei ein Appell an die Verbraucher, Einsparpotenziale maximal zu nutzen, sowie eine kollektive Anstrengung der Regierung, die Lieferung aus anderen Erdgaslieferländern auszuweiten.

An mir soll es nicht liegen. Eine Wärmepumpe passt leider nicht in meinen Keller. Ich habe mir Bilder angesehen, eine normale Wärmepumpe ist so groß wie ein Kleinwagen. Damit komme ich durch keine Tür. Außerdem geht bei älteren Häusern anschließend der Stromverbrauch durch die Decke, wie ich mir habe sagen lassen. Aber ich habe zum Jahreswechsel einen neuen Brenner von Buderus einbauen lassen, das spart schon mal 30 Prozent beim Verbrauch. Ich dusche auch nur noch halb so lang. Ich habe meinen Teil an Vorsorge für den Gaskrieg geleistet.

Ich kann nicht verhehlen, dass mich trotzdem Zweifel beschleichen. Frau Kemfert kann neben einem Sitz im Umweltrat der Bundesregierung und einem festen Platz bei „Markus Lanz“ auch noch eine Professorenstelle an der Uni Lüneburg vorweisen. Dennoch liege ich manchmal wach und frage mich, wo das alles enden soll. Wenn der Wirtschaftsminister sagt, dass Putin einen ökonomischen Angriff auf uns vorbereite, beginne ich mir Sorgen zu machen, die sonnigen Prognosen des DIW hin oder her.

Gut möglich, dass wir schon sehr bald wissen, wer recht hat – Claudia Kemfert oder Robert Habeck. Am 11. Juli wird der Gashahn für zehn Tage ganz abgedreht, wegen Wartungsarbeiten. Niemand kann sagen, ob anschließend die Leitung wieder aufgeht oder für immer zubleibt. Deshalb hat Habeck den Gasnotplan in Kraft gesetzt.

Wir brauchen das Gas aus Russland ja nicht nur zum Heizen oder zur Stromproduktion. Auch als Rohstoff ist es schwer zu ersetzen. Dünger zum Beispiel besteht aus Stickstoff, der wird wiederum aus Erdgas gewonnen. Der Preis für Mineraldünger hat sich verfünffacht. Das wird nicht nur Auswirkungen für die Landwirte haben.

Wie geht es weiter? Ich habe zu meiner Überraschung gelesen, dass Deutschland autark wäre, wenn es wollte. Ich wusste das nicht. Wir sitzen auf riesigen Gasvorkommen. 2,3 Billionen Kubikmeter Gas lagern direkt unter unseren Füßen im Boden. Das ist das Dreißigfache des deutschen Jahresverbrauchs. 22,5 Milliarden Kubikmeter könnte man sofort erschließen, wenn man wollte. An einen beträchtlichen Teil des übrigen Schiefergases käme man über Fracking heran, also den Abbau mittels Chemie, Sand und Wasser, das man ins Gestein drückt.

Dummerweise hat die Bundesregierung unter Angela Merkel nicht nur den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, sondern auch die Erdgasförderung in Deutschland mehr oder weniger eingestellt. Fracking gilt in bestimmten Kreisen als Teufelszeug – so wie die Atomkraft, nur unterirdisch. Theoretisch besteht die Gefahr von Erdbeben. Geologen halten das zwar für extrem unwahrscheinlich, aber wer kann schon zu hundert Prozent ausschließen, dass sich die Erde bewegt, wenn man Wasser und Sand in die Tiefe presst? Also lassen wir das Gas lieber im Boden.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Kernenergie länger zu nutzen als vorgesehen. Zu allem Überfluss verfeuern wir derzeit so viel Gas für die Stromerzeugung wie noch nie zuvor im Frühsommer, weil wir uns ja auch von der Kohle verabschieden wollten. Am 31. Dezember sollen die letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke vom Netz gehen. Die Grünen werden nicht müde zu betonen, dass eine Verlängerung der Laufzeiten nichts bringen würde. Niemandem in der Partei scheint aufzufallen, dass dies in einem klitzekleinen Widerspruch zu den Erklärungen ihres Wirtschaftsministers steht, der im Fernsehen zum Sparduschen aufruft, weil jeder Beitrag, und sei er scheinbar noch so unbedeutend, im Kampf gegen den Gasnotstand helfe.

Brennstäbe lassen sich nicht über Nacht bestellen. Es gibt Wartungsintervalle, die eingehalten werden müssen. Da die drei letzten Meiler Ende des Jahres außer Betrieb gehen sollen, hat man die Fristen gestreckt. Wir müssten uns also über gewisse Standards hinwegsetzen. Der TÜV Süd sagt, das sei möglich. Man könne die Wartung im Normalbetrieb durchführen. Auch die Brennelemente ließen sich länger als vorgesehen nutzen, es gäbe entsprechende Reserven. Sagt der TÜV. Zu Isar 2. Aber das lässt sich auf die beiden anderen Atomkraftwerke übertragen. Natürlich gibt es immer Menschen, denen das Urteil des TÜV nicht ausreicht. Man findet sie in gehäufter Zahl bei den Grünen.

Wenn sie wollen, sind die Grünen zu erstaunlichem Pragmatismus in der Lage. Sie waren auch entschieden gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete. Frieden schaffen ohne Waffen, das war das Motto, mit der sie als Friedenspartei antraten. Heute ist der Anteil von Leuten, die finden, dass man Panzer in die Ukraine liefern sollte, nirgendwo so hoch wie bei ihnen.

Nur beim Thema Energieversorgung tut sich nichts. Vielleicht denken sie bei den Grünen, wenn sie da auch noch einlenken, bleibt nichts mehr übrig, woran man sich festhalten könnte. Sie wollen nicht so enden wie die CDU, die unter Angela Merkel alles aufgegeben hat, was mal die CDU ausmachte. Dafür habe ich sogar ein gewisses Verständnis. Anderseits ist es gerade ein denkbar schlechter Zeitpunkt auf Glaubenssätze um des Glaubens Willen zu bestehen.

90 Prozent der Gasvorräte liegen übrigens in Niedersachsen, also dem Bundesland, aus dem nahezu alle Politiker stammen, die in den vergangenen Jahren an der großen Gasfreundschaft mit Russland gearbeitet haben. Wenn es eine Landeshauptstadt gibt, die sich als Interessenvertretung von Gazprom in Deutschland verstand, dann ist es Hannover.

Da wäre es nur folgerichtig, wenn Niedersachsen seiner Tradition treu bliebe und weiter für billiges Gas sorgte, jetzt eben aus eigener Kraft. Man könnte es auch als Wiedergutmachungsprogramm sehen. Der niedersächsische Ministerpräsident wäre jedenfalls der Letzte, der sich sträuben dürfte, wenn’s ans Fracking geht.

©Michael Szyszka

Die andere Seite der Grünen

Viele halten Annalena Baerbock und Robert Habeck für die grüne Partei. Aber daneben gibt es einen harten ideologischen Kern, wie die Nominierung der Aktivistin Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten zeigt

Es gibt Milieus, die sind für einen Reporter einfach zu erkunden, und es gibt solche, für die braucht es Geduld und Nervenstärke. Ein einfaches Milieu ist das der Politik. Meist reicht ein Anruf und man hat einen Termin. Wenn das Ergebnis anschließend nicht so ausfällt wie erwartet, droht der Politiker für die Zukunft vielleicht mit Kontaktverweigerung. Selbst die hält er dann oft nicht lange durch.

Ein definitiv schwieriges, um nicht zu sagen hermetisches Milieu sind arabische Großfamilien. Clanleute sind äußerst misstrauisch, das bringen schon die Geschäfte mit sich, mit denen sie ihr Geld verdienen. Sie sind auch nicht sehr nachsichtig, was schlechte Presse angeht. Wer sich als Reporter aufmacht, das Leben in der Clanwelt zu beschreiben, sollte beizeiten eine ordentliche Lebensversicherung abschließen.

Ich hatte immer einen Heidenrespekt vor meinem Kollegen bei „Spiegel TV“, Thomas Heise. Ich kenne kaum einen furchtloseren Reporter. Heise hat Rocker und Drogenbarone interviewt. Seine Reportage über die Macht der Clans ist die beste Dokumentation aus dem Innenleben der kriminellen Großfamilien, die ich kenne. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber bei ihm bekommt man Dinge zu sehen, über die anderswo nur aus zweiter oder dritter Hand berichtet wird.

Vor eineinhalb Jahren bekamen Heise und sein Team für ihre Berichterstattung einen Preis. Allerdings nicht die Art von Auszeichnung, an die Sie jetzt möglicherweise denken, sondern eine Abmahnung. Die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“, ein Verein zur Förderung migrantischer Anliegen, verlieh ihm die „Goldene Kartoffel“, ein Negativpreis für „besonders unterirdische Berichterstattung“.

Die „Spiegel TV“-Beiträge über Clankriminalität seien „stigmatisierend und rassistisch“ und förderten so Vorbehalte gegen Menschen arabischer Herkunft, hieß es zur Begründung. Außerdem seien Aussagen von Polizisten unkritisch übernommen und die Fahnder zu distanzlos begleitet worden. Was man eben für einen Tabubruch hält, wenn bereits die Erwähnung einer Shishabar im falschen Zusammenhang als Beleg für die Vorurteilsstruktur des deutschen Journalismus gilt.

Die Sache ist deshalb wieder von Bedeutung, weil die Bundesregierung die langjährige Vorsitzende der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“, Ferda Ataman, zur Beauftragten für Antidiskriminierung machen will. Oder um genau zu sein: zur „Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung“. Das ist keine kleine Sache. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes beschäftigt 34 Mitarbeiter und verfügt über einen Jahresetat von 5,1 Millionen Euro. Damit kann man viele Gefolgsleute glücklich machen.

Die Grünen liegen in den Umfragen bei 23 Prozent. Viele Menschen sehen Robert Habeck und Annalena Baerbock und sagen sich: vernünftige Leute. Ich selbst hörte mich neulich bei einem Auftritt auf einem Wirtschaftskongress in Erfurt sagen, dass der Wirtschaftsminister doch einen klasse Job mache. Be careful what you wish for. Hinter dem Robert und der Annalena stehen viele Parteimitglieder, die Vorstellungen vom Umbau dieser Gesellschaft haben, die sich mit denen der Mehrheit nur bedingt decken.

Tatsächlich hat die grüne Partei nach wie vor einen harten ideologischen Kern. Sie ist im Augenblick so schlau, ihn nicht zu deutlich zu zeigen. Nur manchmal kommt er zum Vorschein, so wie jetzt bei der Nominierung von Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten. Der Personalvorschlag ist eine Idee der neuen grünen Familienministerin, die damit so etwas wie ihren Einstand gibt.

Ich kenne Ferda Ataman vom „Spiegel“. Wir waren zeitweise Kolumnistenkollegen, bis ihr die Chefredaktion die Kolumne wieder wegnahm, weil einfach zu viel Quatsch drinstand. Sie hätte rasend gerne weitergemacht, aber es ging einfach nicht mehr. Ich habe überlegt, ob ich überhaupt über sie schreiben soll. Andererseits: Wenn ich jeden aus meinen Texten raushalte, den ich kenne, kann ich den Laden dichtmachen.

Ataman ist der Beweis, dass man mit dem schlechten Gewissen anderer Leute weit kommen kann. Sie hat inzwischen sogar eine Firma gegründet, die Unternehmen dabei berät, wie man „Diversity managt“, wie das auf Neudeutsch heißt. „Diversity Kartell“ nennt sich das Unternehmen. Ausweislich der Webseite hat sie schon Nivea, RTL, die Stadt Köln und den Bayerischen Rundfunk beraten.

Ich bewunderte jeden, der eine Idee hat und darauf ein Geschäft aufbaut. Meine Bewunderung wäre allerdings noch größer, wenn man nicht ständig auf Staatsgelder zurückgreifen würde. Die „Welt am Sonntag“ hat vor zwei Jahren mal zusammengezählt, was an Bundesmitteln an die „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“ geflossen ist, und ist dabei für 2020 auf über eine Million Euro allein aus dem Etat des Kanzleramts gekommen.

Auch das Innenministerium war als Geldgeber dabei, also das Ministerium, dessen damaligem Chef Horst Seehofer die Vereinsvorsitzende Blut-und-Boden-Ideologie vorgeworfen hatte, weil er nach ihrem Geschmack zu viel Freude am Begriff Heimat zeigte, ein Vorwurf, der wiederum Seehofer veranlasste, einem Integrationsgipfel fernzubleiben, bei dem er auf Ataman treffen sollte.

Ich kenne Seehofer noch länger als Ataman. Der Mann ist wirklich nicht mit dem kleinen Finger gemacht. Wenn er seine Teilnahme bei einer Veranstaltung absagt, dann, weil für ihn ausnahmsweise eine Grenze überschritten wurde. Aber hey, warum so empfindlich, heißt es, wenn einer eingeschnappt ist. War doch nicht so gemeint, so wie es selbstverständlich, zwinker, zwinker, auch nicht beleidigend gemeint ist, wenn man Deutsche als Kartoffeln bezeichnet.

Vor einigen Tagen hat Ataman alle Spuren auf Twitter gelöscht. Offenbar war sie selber der Meinung, dass ihr altes Leben in so einem eklatanten Widerspruch zur neuen Aufgabe steht, dass sie dieses besser vor der Öffentlichkeit verbergen sollte. Wer heute auf ihren Account geht, sieht dort nur noch harmlose Einträge wie Glückwünsche zur Nominierung.

Unter den Tweets, die nicht mehr angezeigt werden, befindet sich die Einschätzung, dass die deutsche Gesellschaft im Innern so verdorben sei, dass Ärzte zu Ungunsten von Migranten selektieren würden. Wörtlich schrieb Ataman zu Beginn der Pandemie: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden.“

Das ist kein Ausrutscher, wie man denken könnte. Es ist Ausdruck einer Weltsicht, die auch die Grundlage des zugehörigen Geschäftsmodells bildet. Die deutsche Gesellschaft ist demnach so sehr von Diskriminierung durchzogen, dass dem Problem mit normalen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Es braucht positive Diskriminierung, also Quoten und staatliche Gegenmaßnahmen, um am Ende eines mühsamen Prozesses bei einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft herauszukommen.

Selbstverständlich zählt auch nicht jeder Migrationshintergrund, um zum Kreis der zu Fördernden gerechnet zu werden, sondern nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die als „rassistisch markiert“ gilt, wie das heißt – womit schon mal alle raus wären, die eine polnische oder dänische oder französische Großmutter haben.

Damit wir uns nicht missverstehen, ich bin nicht gegen Aktivismus. Jeder kämpft für seine Anliegen, so gut er kann: die Freunde des geschlechtsneutralen Oben-ohne-Badens im deutschen Freibad ebenso wie die Befürworter der Gendersprache oder eben die Vertreter der migrantischen Sache. Ich habe nur Zweifel, ob jemand, der jeden Vertreter der Mehrheitsgesellschaft für rassismusgefährdet hält, die richtige Person an der Spitze einer aus Bundesmitteln finanzierten Beratungsstelle ist.

Es käme ja auch niemand auf die Idee, jemanden wie mich zum unabhängigen Bevollmächtigten für gesellschaftlichen Ausgleich und Verständigung zu machen. Und wenn, sagen wir, der Justizminister mit dieser Idee um die Ecke käme, würden sich alle zu Recht die Bäuche halten vor Lachen.

©Sören Kunz

Bloß raus aus diesem Klub

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat sich diese Woche neu zusammengefunden. Mit dabei: China, Pakistan, Nordkorea und Kuba. Woran sich die Frage anschließt: Was machen wir noch in der UN?

Was tut eine Menschenrechtsbeauftragte? Sich um die Verbesserung der Menschenrechte kümmern, wäre die naheliegende Antwort.

Vor drei Wochen war die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in China. Der Zeitpunkt hätte kaum passender sein können. Zeitgleich zu ihrem Besuch hatte die internationale Presse ausführlich über die Praktiken in den Folterlagern berichtet, in denen die chinesische Staatsführung Hunderttausende von Uiguren gefangen hält. Die Uiguren gehören mehrheitlich der Glaubensgruppe der Muslime an. Das reicht in China, um als Subjekt zu gelten, das man am besten wegsperrt.

Über die vergangenen Jahre hat China in der Provinz Xinjiang das größte Lagersystem seit dem Ende des Gulag errichtet. Bislang war man auf Augenzeugenberichte über die Zustände in den Lagern angewiesen, die systematische Entrechtung, den Terror, um den Willen der Menschen zu brechen, die permanente Gehirnwäsche. Jetzt veröffentlichten führende Presseorgane im Westen die Auswertung interner Polizeiakten, die über ein Datenleck in die Hände von Menschenrechtsaktivisten gelangt waren.

Wer in dieser Schreckenswelt verschwindet, kommt nur als Schattenwesen wieder heraus. Und es ist völlig willkürlich, was einen zum Verbrecher stempelt. Der eine landet im Lager, weil er sich zu oft mit dem Handy im Netz bewegt hat – ein anderer, weil er über Monate die Onlinewelt strikt gemieden hat. Alles kann als Uigure gegen einen ausgelegt werden, alles macht einen verdächtig. Das Einzige, worauf Verlass ist, ist die Härte der Strafe: sieben Jahre für das Öffnen eines Gebetsbuchs, zwölf Jahre für die Teilnahme an einem Gebetskreis, sechzehn Jahre für das Umgehen einer Internetsperre.

Entsprechend hoch waren daher die Erwartungen an den Besuch von Frau Bachelet. Endlich jemand, der die Zustände in Xinjiang zur Sprache bringen würde! Der letzte Besuch eines hohen Vertreters der Vereinten Nationen lag 17 Jahre zurück. Aber was tat die UN-Menschenrechtsbeauftragte bei ihrer Pressekonferenz in Peking? Sie bedankte sich artig für die Gelegenheit, die „Ausbildungszentren“ gesehen zu haben, wie die Staatsführung die Internierungslager nennt, und redete dann ausführlich über die „erschütternden Menschenrechtsverletzungen“ in den USA.

Ein Wort über den Gulag in Xinjiang? I wo. Man will ja als hochrangiges Mitglied der Vereinten Nationen die Gastgeber nicht verstören. Wie anschließend zu lesen war, konnten die Chinesen ihr Glück kaum fassen.

Die meisten Menschen denken, wenn sie an die UN denken, an ein Parlament der Völker, eine Art Riesen-NGO, in der sich die Weltgemeinschaft im diplomatischen Ringen darauf verständigt, wie man den größten Übeln der Menschheit beikommt. Mag sein, dass es mal so lief – vielleicht 1948, als Eleanor Roosevelt als erste Vorsitzende der Menschenrechtskommission die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündete. Heute ist es eine Show, um den schlimmsten Diktaturen der Welt den Anstrich der Ehrbarkeit zu verleihen.

Es reicht ein Blick auf die Mitgliederliste des Menschenrechtsrats, dem Gremium, in dem über die Einhaltung der berühmten Charta gewacht wird, und man weiß, woran man ist. Zu den Mitgliedern dieser Herzkammer der Vereinten Nationen zählen: Venezuela, Pakistan, China, Libyen, Kuba, Katar, Sudan, Gabun, Kasachstan, Usbekistan. Diese Woche hat sich das Gremium gerade zu seiner 50. Sitzung zusammengefunden. Iran ist jetzt raus, wenn ich es richtig sehe. Dafür ist Kuba wieder dabei.

Gut, hier sitzen die Richtigen zusammen, kann man sagen. In allen diesen Ländern ist man als Freigeist schneller im Gefängnis, als man das Wort „Freiheit“ aussprechen kann. Wobei man noch Glück hat, wenn man im Gefängnis landet. Wenn man Pech hat, ist man gleich tot.

Es ist auch nicht so, dass das Gremium tatenlos bliebe. Ich bin kürzlich beim Surfen im Netz auf Anträge zu Menschenrechtsverletzungen in Island gestoßen. Ich hatte keine Ahnung, wie verheerend die Menschenrechtssituation in dem kleinen Land im Nordatlantik ist. Ich dachte immer, die Isländer lebten ein relativ beschauliches Leben zwischen ihren Vulkanen und Geysiren.

Venezuela zeigte sich „besorgt über den Anstieg rassistischer Diskurse und die große Zahl von Gewalttaten und sexuellen Übergriffen“, ist in den Unterlagen des „Human Rights Council“ vermerkt. Belarus ist „besorgt über systemische Menschenrechtsprobleme“. China ist „besorgt über die kontinuierliche Diskriminierung von Zuwanderern und ethnischen Minderheiten, zunehmende Gewalt gegen Frauen, Menschenhandel und die ungesicherte Lage von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen“. Nordkorea ist „besorgt über fortgesetzte Hatespeech and Hate Crime“. Ja und Russland, um den Kreml nicht zu vergessen, äußert sich „besorgt über die Zunahme an rassistischer Sprache“.

Was genau Island den Zorn des Menschenrechtsrates eintrug, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Vermutlich hat sich irgendein isländischer Politiker erdreistet, etwas gegen Schurkenstaaten vorzubringen. Rassismus ist eine Karte, die immer zieht. Den Bogen hat inzwischen die kleinste Dschungel-Despotie raus: Einfach ein paar Begriffe in die Luft geworfen, bei denen jeder gutgesinnte Westeuropäer in die Knie geht, und schon hat man Carte blanche.

Die großen Strippenzieher in der UN sind die Chinesen. Mit einer Kombination aus Bestechung, Erpressung und Einschüchterung haben sie nicht nur eine Reihe asiatischer Länder auf ihre Seite gebracht, sondern auch große Teile des afrikanischen Kontinents. Wenn es darum geht, ein westliches Land vorzuführen, steht der Block. Siehe Island.

Wie weit der Arm Chinas reicht, bekam die Welt zu Beginn der Covid-Pandemie vorgeführt, als sich die zur UN gehörende Weltgesundheitsorganisation zum Handlanger der Regierung in Peking machte, als die noch versuchte, die Gefährlichkeit des Virus herunterzuspielen. Natürlich durfte die Virusvariante Xi auch nicht Xi heißen, sondern musste Omikron genannt werden, obwohl Xi nach Delta an der Reihe gewesen wäre.

Aber das hätte ja als Beleidigung des chinesischen Staatschefs Xi Jinping verstanden werden können, und mit Xi Jinping will man es sich bei den Vereinten Nationen nun wirklich nicht verscherzen. Der Chinese kann furchtbar empfindlich sein, davon können sie am One United Nations Plaza ein Lied singen.

Mit dem Universalismus ist es vermutlich für immer vorbei. In China wird ganz offen propagiert, dass Menschenrechte nichts anderes seien als der Versuch des Westens, aufstrebende Mächte am Aufstieg zu hindern. Die Idee, dass der Westen die Menschenrechte nur erfunden habe, um die Welt weiter dominieren zu können, hat auch im Westen seine Anhänger. Postcolonial Studies heißt das Modefach, in dem Studenten beigebracht wird, dass alle Übel ihren Ursprung im westlichen Überlegenheitsanspruch haben.

Ich weiß, man soll so nicht denken: Aber ich ertappe mich manchmal bei dem Gedanken, dass ich Leuten, die so etwas für bare Münze nehmen, ein oder zwei Jährchen als Friedensaktivisten in Russland oder China wünsche, wo sie dann im Feldversuch belegen können, dass der westliche Überlegenheitsanspruch keine, aber auch wirklich keinerlei Berechtigung hat.

Ich war nie ein Fan von Donald Trump. Ich habe mich weidlich über den Mann mit dem Teint einer überhitzten Orange lustig gemacht. Aber vielleicht war sein Entschluss, aus Organisationen wie der WHO oder dem UN-Menschenrechtsrat auszusteigen, gar nicht so dumm. Noch schlimmer als eine Charade auf eigene Kosten ist eine Charade, bei der man beim bösen Schabernack eilfertig den Vorhang hält.

©Silke Werzinger

Worüber reden sie?

Olaf Scholz ruft laufend bei Wladimir Putin an, um ihm zu sagen, wie isoliert er doch sei. In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt

Vor zwei Wochen hat Olaf Scholz wieder mit Wladimir Putin telefoniert. 80 Minuten dauerte das Gespräch. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron war ebenfalls zugeschaltet. Neuauflage des Normandie-Formats, mit dem schon Frank-Walter Steinmeier die Russen vom Frieden überzeugen wollte – diesmal als Teams-Meeting.

Wie redet man mit einem Kriegsverbrecher? Geht man zusammen den Frontverlauf durch? Unterrichtet man ihn über die neuesten Waffenlieferungen, damit er davon nicht erst aus dem Fernsehen erfährt? Wechselt man zum Small Talk, wenn der Gesprächsfluss zu stocken droht? 80 Minuten sind eine lange Zeit. Viele Paare sprechen in einer Woche nicht so viel miteinander.

Der Kreml hat anschließend eine Zusammenfassung der für die russische Seite wichtigsten Punkte veröffentlicht. Danach hat Putin die Gelegenheit genutzt, seine beiden Gesprächspartner mit neuen Drohungen zu überziehen. Im Drohen hat er inzwischen eine gewisse Übung. Wenn der Westen nicht die Sanktionen beende, werde Russland alle Getreidelieferungen blockieren. Hunger als Waffe, das gab es schon bei Stalin. Hat damals vier Millionen Menschen das Leben gekostet. Die gute Nachricht aus deutscher Sicht: Anders als die Atombombe trifft ein Getreideboykott nur die Dritte Welt.

Es heißt, solange man miteinander rede, werde nicht geschossen. Putin zeigt, dass beides mühelos gleichzeitig geht. Während er mit Scholz und Macron redet, lässt er seine Soldateska morden, vergewaltigen und brandschatzen. Vielleicht stachelt es ihn sogar an, dass die beiden ihn ständig anrufen. Es soll Menschen geben, die einen perversen Reiz empfinden, anderen ihre Macht zu demonstrieren, während sie gleichzeitig Höflichkeiten austauschen.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat vor wenigen Tagen eine bemerkenswerte Erklärung für die Telefondiplomatie geliefert. Die Gespräche dienten dazu, Putin deutlich zu machen, wie isoliert er sei. Inzwischen sei man dabei ein gutes Stück vorangekommen. Klingbeil wertet die Telefonate daher als Erfolg.

Das ist eine Begründung, über die es sich nachzudenken lohnt. Der deutsche Bundeskanzler sucht also regelmäßig den Kontakt zu einem Mann, der sich aus allen völkerrechtlichen Bindungen gelöst hat, um ihm zu sagen, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will? In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt.

Bei kleinen Kindern ist es der sicherste Wege, sie in eine Psychose zu treiben. Auch bei Erwachsenen kann dieses Verhalten Verhaltensstörungen auslösen. Ich vermute allerdings, dass Putin über den Punkt hinaus ist, an dem man ihn noch mit Psychotricks in die Enge treiben kann. Wer die Kreml-Diplomatie durchlaufen hat, der übersteht auch 80 Minuten mit dem Scholzomat. Das ist einer der Vorteile, wenn man im KGB aufgewachsen ist.

Putin hält den Westen für zu weich, zu dekadent, zu verwöhnt. Wenn man einem Bericht in der „Washington Post“ glauben darf, der sich auf Quellen im russischen Machtapparat beruft, dann ist der Kreml-Chef davon überzeugt, dass die Zeit für ihn arbeitet. Je länger sich der Krieg hinzieht, so sein Kalkül, desto größer die Chance, das Kriegsglück zugunsten Russlands zu wenden.

Demokratische Gesellschaften haben einen strukturellen Nachteil gegenüber Diktaturen: Sie müssen auf die Meinung der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen. Und die Öffentlichkeit ist wankelmütig. Das war in Vietnam so. Es hat sich in Afghanistan wiederholt. Es könnte auch in der Ukraine so kommen.

Welches Signal vernimmt Putin daher, wenn Scholz um einen Telefontermin bittet? Ein Signal der Entschlossenheit und Stärke, dass man im Westen nicht zurückweichen werde? Oder eher einen Hinweis auf steigende Nervosität im Lager der Gegner? Ich bin kein Kreml-Experte, aber ich tippe auf Letzteres.

Man müsse das Fenster für Verhandlungen offen halten, heißt es. Am Ende könne der Konflikt nur auf diplomatischem Wege gelöst werden. Oder wie SPD-Chef Lars Klingbeil sagt: „Der Krieg wird am Verhandlungstisch entschieden.“

Klingt super. Wer ist schon gegen Diplomatie? Es gibt allerdings ein Problem, das sich auch nicht mit der geduldigsten Dauertelefonie aus dem Weg räumen lässt: Alle diplomatischen Bemühungen setzten voraus, dass derjenige, mit dem man verhandelt, sich anschließend an das Verhandlungsergebnis gebunden fühlt. Wenn Wladimir Putin die Welt eines gelehrt hat, dann dass er keine Vereinbarung als verbindlich betrachtet, auch nicht die, die seine eigene Unterschrift trägt. Jeder Vertrag, den er schließt, ist nur so lange etwas wert, wie er meint, dass es ihm nutzt.

Man ist nicht auf Vermutungen angewiesen, was Putin vorhat, sollte es ihm gelingen, die Ukraine zu unterwerfen. Anfang April erschien bei der staatlichen Nachrichtenagentur „Ria Novosti“ ein Text mit der Überschrift „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“. Darin wird im Detail das Programm für die Zeit nach dem Endsieg ausgebreitet. Von ethnischen Säuberungen ist die Rede, von Deportationen und Massenerschießungen. Nicht nur die Führungsschicht gilt in Moskau als Nazibrut, die eliminiert gehört, sondern alle Ukrainer, die eine Waffe in die Hand genommen haben.

Wer denkt, Putin habe sich nur in der Wortwahl vergriffen, als er davon sprach, Feinde des Volkes wie Fliegen zu vernichten, glaubt auch noch an den kleinen Häwelmann. „Die Gegner des Buchstaben Z müssen verstehen, dass sie nicht verschont bleiben. Es ist ernst: Konzentrationslager, Umerziehung, Sterilisation“, sagt der Kreml-Propagandist Karen Georgijewitsch Schachnasarow zur besten Sendezeit im Staatsfernsehen. Die Gastgeberin einer beliebten Talkshow bevorzugt die Idee, gefangen genommene Ukrainer auf Marktplätzen auszustellen, wo man dann mit ihnen anstellen darf, „was immer man will“.

Man müsse Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten, sagt Emmanuel Macron. Doch wie sollte der aussehen? Jeden Waffenstillstand würde die russische Seite nutzen, um sich so weit zu reorganisieren, dass sie mit frischer Kraft vollenden kann, was sie angefangen hat. Realistischer scheint mir der amerikanische Ansatz, Russland so weit zu schwächen, dass es für die nächsten vier, fünf Jahre nicht in der Lage sein wird, einen Nachbarn zu überfallen. Das wäre allerdings genau die Demütigung, die der französische Präsident unbedingt vermeiden will.

Es hat seinen Grund, warum Psychologen dazu raten, ab einem bestimmten Punkt jeden Kontakt zu einem Gewalttäter abzubrechen. Wer weiter die Hand ausstreckt, trotz schockierendster Grenzüberschreitungen, zeigt damit, dass er es mit den angekündigten Strafen nicht wirklich ernst meint. Aber vielleicht geht es ja genau darum: Putin zu signalisieren, dass man sich schon irgendwie einig wird, wenn er an den Verhandlungstisch zurückkehrt.

Ein Satz des Bundeskanzlers ist mir in Erinnerung geblieben. „Wo Putin den Konflikt sucht, stößt er auf unseren Konsens“, erklärte er im April im Bundestag. „Konsens“ hat mehrere Bedeutungen, die gebräuchlichste ist „Einverständnis“, „Entgegenkommen“. So war es vermutlich nicht gemeint, aber manchmal verrät sich der Wunsch im Versprecher.

©Michael Szyszka

Die letzten Tage von Sylt

Auf der Ferieninsel fürchten sie den Untergang, seit Aktivisten dazu aufgerufen haben, mit dem Neun-Euro-Ticket die Insel zu stürmen. Aber Hand aufs Herz: Wäre ein Ende von Sylt wirklich so schlimm?

Einmal war ich in List zu einem Vortrag. Der Veranstalter hatte für mich ein Zimmer im „Hotel Arosa“ gebucht. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man das Meer. Das Meer war weit weg, weil das Watt dazwischenlag. Aber wenn man sich anstrengte, sah man es.

Christian Wulff war mit mir auf Sylt. Das habe ich allerdings erst erfahren, als er schon wieder zu Hause war. Für ihn ist der Besuch nicht so gut verlaufen. Er hatte sich mit seiner Frau in einem Hotel in Westerland eingemietet. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Westerland und List, würde ich immer List wählen. Westerland ist gewissermaßen das Bottrop von Sylt. Trotzdem gab es Ärger.

Ein Freund hatte die Buchung vorgenommen und später auch die Rechnung beglichen. Wulff sagte dazu, er habe dem Freund das Geld in bar zurückgegeben. Aber das glaubte ihm niemand. Die Geschichte stand dann groß in allen Zeitungen. Wenn der Bundespräsident sein Portemonnaie vergisst, ist das ein gefundenes Fressen, auch wenn es nur für Westerland reicht.

Glaubt man den Sylt-Fans, ist Sylt das Paradies auf Erden. Deshalb wollen auch alle hin, wie es heißt, angefangen vom Bundespräsidenten, was wiederum die Immobilienpreise in Höhen getrieben hat, die selbst Leute, die in Starnberg am See wohnen, beim Erstgespräch mit dem Makler erblassen lässt.

Jetzt haben die Leute auf Sylt Angst. Nicht vor sinkenden Preisen, sondern vor dem Neun-Euro-Volk, das sich angekündigt hat. Seit Wochen trommeln Aktivisten, die Insel zu stürmen. Sieben Millionen Menschen haben das Billigticket bereits in der Tasche.

Ich habe nicht ganz verstanden, warum es das Neun-Euro-Ticket braucht, um Sylt heimzusuchen. So schlecht verdienen sie in den linken Kreisen nun auch nicht, dass man für eine Reise an die Nordsee auf verbilligte Bahnfahrten angewiesen wäre. Selbst bei der Antifa, die geregelte Beschäftigung nur dem Wort nach kennt, kommen die meisten mit staatlichen Subsidien und etwas Schwarzarbeit gut über die Runden.

Außerdem sind Schnellverbindungen beim Billigticket ausgeschlossen. Und mit dem Bummelzug kam man auch bislang schon relativ günstig nach Sylt. Dennoch ist in der „Süddeutschen Zeitung“ bereits ein Nachruf auf die Insel erschienen, eine melancholische Rückschau auf Uwe-Düne und Rotes Kliff, bevor der Mob alles niedertrampelt.

Ich habe die Sylt-Begeisterung nie teilen können. Manche sagen: Sylt sei die Hamptons Deutschlands. Der Vergleich stimmt – in dem Sinne, wie Bottrop das Paris des Ruhrpotts ist oder Chemnitz das Shanghai Ostdeutschlands.

Ich habe vier Jahre lang in New York gelebt, also gleich um die Ecke der Hamptons. Ich war beeindruckt, wie zurückgenommen und Low-key ein Ort sein kann, der sich als Rückzugsgebiet gestresster Wall-Street-Banker einen Namen gemacht hat. Auf Sylt ist es genau umgekehrt: Man wird aufs Geld gestoßen, wo man hinschaut.

Weil die Bauvorschriften kaum Neubauten zulassen, sehen die Reetdächer über den Butzenscheiben so aus, als sei jeder Halm einzeln gerupft, gezupft und gestriegelt worden. Ich glaube, wenn sie könnten, würden sie für den Ferrari auch noch eine unterirdische Reetdachgarage bauen. Und für den Hund ein Reetdachkuschelzimmer. Wobei, wer weiß, vielleicht gibt es das ja längst.

Sylt ist so lässig wie eine 60-Jährige, die partout wie 40 aussehen will. Zu viel Chirurgie, zu viel Filler, zu viel Anstrengung. Eigentlich ein Wunder, dass die Insel bei den Russen nicht beliebter war, als die noch reisen konnten. Ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass man im Watt nur bedingt mit einer Megajacht navigieren kann

Wettermäßig sollte man nicht zu viel erwarten. Man kann Glück haben, dann scheint die Sonne. Aber es hat seinen Grund, weshalb überall Strandkörbe herumstehen, die einen vor den Launen der Witterung schützen. Als ich dort war, war es Mai und lausig kalt. Dafür schwärmten sie unentwegt von der Champagnerluft, die Sylt angeblich so einzigartig macht.

Dieses zwanghafte Gutfinden drückt sich auch kulinarisch aus. An der berühmten „Sansibar“ ist vor allem bemerkenswert, dass man monatelang im Voraus buchen muss, um einen Platz zu ergattern. Der andere Großgastronom ist der Fischhändler Gosch. Dass man es mit pappigen Aufbackbrötchen, in die man ein paar zu Tode gesottene Scampi gequetscht hat, zum Inbegriff der Küstengastronomie bringen kann, ist zweifellos bewundernswert. Mit Küche hat das allerdings nichts zu tun.

Sylt ist der Beweis, dass Geld und guter Geschmack nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen. Es gab andere Zeiten, als die kulturelle High Society aus Hamburg die Insel als Sommerfrische entdeckte – Augstein, Nannen, der große Fritz J. Raddatz. Für ein paar Jahre mischte sich sogar Gunter Sachs mit seiner Entourage unters Partyvolk. Aber das ist lange her.

Heute ist Sylt fest in der Hand der Zahnarztmillionärin aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, die es für wahnsinnig fancy hält, wenn man sich eine Sauna zum Trocknen der Kaschmirpullover einbauen lässt und das auch allen auf die Nase bindet. Kurz: Es ist der ideale Ort für Menschen, die an Zwangsstörungen leiden. Sie fühlen sich nicht so alleine.

Was uns zu der Frage bringt, ob reiche Menschen die glücklicheren Menschen sind. Die meisten vermuten automatisch, dass Geld die Stimmung hebt, daher auch der Neid, den Reichtum bei den weniger Begüterten auslöst. Dass Geld glücklich macht, stimmt, allerdings nur zu einem gewissen Grade. Wenn man aller Geldsorgen enthoben ist, steigert das zunächst nachweisbar das Wohlbefinden. Danach aber beginnt ein Reichsein, wo es faktisch egal ist, ob man nun zehn Millionen oder zehn Milliarden besitzt.

Der Mensch vergleicht sich mit anderen, das liegt in seinem Wesen. Es gibt immer einen, dessen Haus größer, dessen Jacht länger und dessen Auto schneller ist. Nicht einmal Elon Musk ist davon frei. Im Zweifel hat Jeff Bezos gerade die fettere Schlagzeile und Bill Gates die wohlwollenderen Kritiken.

Die wirklich reichen Leuten sind ohnehin nicht auf Sylt. Wer so viel Geld besitzt, dass es für mehrere Leben reicht, hat es in der Regel nicht nötig, damit anzugeben. Außerdem sind viele Megareiche nicht für den Müßiggang gemacht, deshalb sind sie ja so reich. Im „Spiegel“ habe ich ein Porträt des Unternehmers Michael Kühne gelesen, der es mit Logistik zu einem der reichsten Männer Deutschlands gebracht hat. Der Mann ist 85 Jahre alt, aber bis heute beginnt der Tag um sechs Uhr morgens. Es folgen Sitzungen, Telefonate, ein endloser Strom von Mails. Ich bezweifle, dass einer wie Kühne einen Fuß nach Sylt setzt. Ihm wäre es dort zu fad.

Der eigentliche Reiz von Sylt sei, dass man unter sich sei, sagt der Makler Eric Weißmann. Das leuchtet ein. Über die Probleme mit dem Parken des Bootes spricht es sich einfacher mit Menschen, die ebenfalls darunter leiden, dass die Liegeplätze so knapp geworden sind. Andererseits stelle ich es mir grauenhaft langweilig vor, immer dieselben Gespräche führen zu müssen.

Ich habe einmal mit Gloria von Thurn und Taxis über ihr früheres Jetset-Leben gesprochen. Am Anfang sei es ganz lustig gewesen, sagte sie. Aber dann habe es ihr furchtbar zum Hals herausgehangen: immer die gleichen Orte, immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Themen. Weshalb sie sich bald ausklinkte und ihr Leben fortan der Familie und der Sicherung des Unternehmens widmete.

Der kurioseste Aspekt am Sylt-Erstürmungsaufruf der Neun-Euro-Aktivisten ist sicher, dass hier Leute über andere die Nase rümpfen, die in ihrer Welt mindestens genauso penibel darauf achten, dass man schön unter sich bleibt. Hier reicht schon die falsche Haartracht und man ist rausgefallen.

Schon deshalb wäre ich für einen Sturm auf Sylt. Das könnte lehrreich für beide Seiten sein. Der Kontakt mit fremden Kulturen soll einem ja manchmal die Augen öffnen.

©Sören Kunz

Tesla-Speed? Auf keinen Fall!

Die Deutsche Umwelthilfe hat Widerspruch gegen das erste geplante Flüssiggas-Terminal eingelegt. Der Krieg in der Ukraine ist schlimm. Aber nicht so schlimm, dass man deshalb deutsche Genehmigungsverfahren verkürzen darf

Olaf Scholz war vor zwei Monaten in Brandenburg, um mit Elon Musk die Tesla-Fabrik in Grünheide einzuweihen. 730 Tage hat es vom Spatenstich bis zu dem Moment gedauert, als die ersten Autos vom Band liefen. Deutscher Rekord. Scholz war begeistert.

Er würde das gerne auf die Energieversorgung übertragen. Wir brauchen jetzt ganz schnell vier Flüssiggas-Terminals. Dummerweise dauert der Bau eines solchen Terminals acht Jahre, wenn man alle Genehmigungsverfahren ordnungsgemäß durchläuft. Das könnten acht sehr kalte Jahre werden, da der Klimawandel nicht schnell genug kommt, um den Ausfall des russischen Gases zu kompensieren. Also: Tesla-Speed. Sagt der Kanzler.

Das Nächste, was ich zum Thema hörte, war, dass Robert Habeck die Umweltverbände angefleht hat, auf Klagen gegen das Terminal in Wilhelmshaven zu verzichten, für das die Planungen am weitesten gediehen sind. Sofort Empörung von der „taz“ bis zur „Süddeutschen“: Das sende das völlig falsche Signal. Der Krieg sei schlimm. Aber nur weil Putin die Ukraine überfallen habe, bestehe doch kein Grund, auf die bewährten Genehmigungsverfahren zu verzichten.

Anfang des Monats hat die Deutsche Umwelthilfe Widerspruch eingelegt. Gerade in Krisenzeiten müssten die Prinzipien des Rechtsstaates gewahrt bleiben, das gelte insbesondere für das Klimaschutz- und Umweltrecht, erklärte der Geschäftsführer.

Der Verein fürchtet, dass durch den Bau das Unterwasser-Biotop bei Wilhelmshaven unumkehrbar zerstört würde. Außerdem werden vor der Küste Schweinswale gesichtet. Wer weiß, welche Auswirkungen der Terminalbau auf die Wale hätte? Irgendein Tier findet sich immer, das gegen einen Eingriff in die Natur spricht. Es ist das Wesen der Natur, wenn man so will, dass sie jedem Bauvorhaben im Wege steht.

Die Deutsche Umwelthilfe ist übrigens der Verein, der vor Corona reihenweise deutsche Innenstädte lahmlegen ließ, weil angeblich die Stickoxidkonzentration in der Luft zu hoch war. Wussten Sie, wann dann an Messstationen die höchsten Stickoxidwerte gemessen wurden, die man jemals verzeichnet hat? Im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns, als der Straßenverkehr in Deutschland praktisch zum Erliegen gekommen war. Wenn Sie jetzt denken, das würde die Deutsche Umwelthilfe etwas bescheidener auftreten lassen: selbstverständlich nicht!

Das Wort der Stunde ist „Zeitenwende“. Alles müsse neu gedacht und bewertet werden. Nennen wir es eine Déformation professionelle, aber immer wenn ich höre, dass nun wirklich alles ganz, ganz anders werde, denke ich: Schauen wir mal.

Erinnern Sie sich an die ersten Corona-Monate? Die Pandemie werde das Tor aufstoßen zu einer neuen Welt, in der das Wir und nicht mehr das Ich im Vordergrund stehe. Stand so nahezu wörtlich in den fortschrittlich gesinnten Blättern.

Oder nehmen Sie die Flüchtlingskrise: Wir müssten uns grundsätzlich hinterfragen, erklärte die Bundeskanzlerin in einer ihrer ersten Pressekonferenzen, als täglich Tausende über die Grenze kamen. Deutsche Gründlichkeit sei super, aber in der Krise müsse alles auf den Prüfstand, auch die deutsche Gründlichkeit.

Es gab dann sogar ein Gesetz gegen zu viel Gründlichkeit, das „Standardabweichungsgesetz“. Wenn wir schon gegen die Gründlichkeit vorgehen, dann aber gründlich. Ohne die entsprechende Verordnung läuft in Deutschland gar nichts.

Ich bin der Letzte, der etwas dagegen hätte, wenn wir uns von ein paar Regelungen trennen würden. Ich würde mich freuen, wenn wir wieder zu mehr Freiheit und weniger Bevormundung finden würden. Leider geht es meist in die andere Richtung.

Fachleute des Bundesjustizministeriums haben nachgezählt und sind auf 246944 Bundesvorschriften gekommen, die von den Bürgern zu beachten sind. Und da sind die Regelungen von Ländern, Kommunen und Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht einmal mitgerechnet.

Die deutsche Bürokratie ist ein unerschöpfliches Thema. Der Kollege Alexander Neubacher ist bei einer Recherche auf die Vorschrift für die Wartungsarbeiten an Offshore-Windanlagen gestoßen. In dieser Vorschrift ist nicht nur festgelegt, dass die Monteure Schlafsäcke und Kekse vorfinden, wenn sie einmal wegen schlechten Wetters länger auf dem Windrad aushalten müssen als geplant.

Nein, sie schreibt auch vor, dass auf jeder Windanlage ein Kartenspiel vorrätig sein muss, damit den Wartungskräften nicht zu langweilig wird, während sie in luftiger Höhe ausharren. Ist die Vorschrift noch in Kraft? Trotz Corona? Trotz Krieg? Trotz Standardabweichungsgesetz? Natürlich ist sie das.

Solange sich alles in gewohnten Bahnen bewegt, kommt man auch mit 246944 Bundesvorschriften zurecht. Es darf halt nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommen. Wie eine Pandemie. Oder ein Krieg in Europa.

Ich habe vergangene Woche einen Anwalt kennengelernt, der Windparks in Schleswig- Holstein betreibt. Was er aus der Praxis berichtete, klang nicht so, als würden wir bald den Russen mit unserer eigenen Energie ein Schnippchen schlagen. Erst musste er zwölf Jahre lang warten, bis er seine Windanlagen repowern durfte. So nennt man es, wenn alte Windräder durch neue ersetzt werden. Eigentlich eine feine Sache, weil das Windrad danach doppelt so viel leistet wie zuvor. Leider hatten sich zwischendurch die Abstandsregeln geändert. Jetzt ist Fledermaussaison. Alles läuft mit halber Kraft, weil nicht auszuschließen ist, dass sich eine Fledermaus in den Rotorblättern verirrt.

Der Anwalt setzt seine Hoffnung auf die Grünen. Wenn es eine Partei hinbekommt, dann die Grünen, sagt er. Das sei wie mit Hartz IV. Die Einzigen, die in der Lage waren, den Arbeitsmarkt zu modernisieren, seien die Sozialdemokraten gewesen.

Ich bin mir da nicht so sicher. Es würde auch naheliegen, über die Nutzung der Atomkraft noch einmal nachzudenken. Wir haben drei verbliebene Atomkraftwerke, die uns noch nützliche Dienste erweisen könnten, wenn das Gas ausfällt. Aber im Dezember soll endgültig Schluss sein. Es gilt eisern das Veto der grünen Umweltministerin Steffi Lemke. Am deutschen Atomausstieg wird festgehalten, auch wenn die Lichter zu flackern beginnen, weil der Strom knapp wird.

Der grüne Deutsche sitzt zu Hause lieber bei Kerzenlicht, als dass er einen Tag länger Atomstrom bezieht. Sollen sie doch in Finnland und Frankreich und Großbritannien und Schweden und Belgien weiter auf die Atomkraft setzen. Wir wissen besser als alle anderen, was das für ein Teufelszeug ist!

Gesellschaften sind erstaunlich zähe und träge Gebilde. Man kann darin durchaus etwas Tröstliches sehen. Revolutionen funktionieren nur mit vorgehaltener Waffe. Aber ein klein wenig Bewegung wäre doch wünschenswert, finden Sie nicht?

Vielleicht könnte man damit anfangen, der Deutschen Umwelthilfe die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Das wäre eine Maßnahme, deren segensreiche Wirkung sich sofort entfalten würde.

©Silke Werzinger

 

Die Enden des Hufeisens

Der Krieg in der Ukraine hat einen Teil des rechtskonservativen Milieus in Kalamitäten gestürzt. Man kämpft gegen Tempolimit, Maskenpflicht und grüne Verbotskultur. Aber mehr noch als die Freiheit liebt man offenbar das Autoritäre

Ein Freund von mir ist der Journalist Georg Gafron. Wir haben uns auf der Terrasse des „Polana Serena“-Hotels in Mosambik kennengelernt. Ich weiß, das klingt etwas verrückt. Andererseits, wer Gafron näher kennt, weiß: Könnte es einen besseren Platz für ein Treffen mit ihm geben als eine Hotelterrasse in Afrika?

Gafron war schon gegen die Linken, als ich noch dachte, alles Gute käme von den Grünen. Er hat für Leo Kirch das erste Privatradio in Berlin aufgebaut. Als Kirch Konkurs anmeldete, sagte er den unsterblichen Satz: „Mit einem Unternehmer wie Leo Kirch ist selbst der gemeinsame Untergang noch eine große Ehre, gemessen am jämmerlichen Dasein so vieler anderer.“ Danach war er zwei Jahre lang Chefredakteur des Berliner Boulevardblatts „B.Z.“. Die „B.Z.“ ist wie „Bild“, nur mit noch größeren Buchstaben.

Er war auch eng mit Helmut Kohl befreundet. Wenn es jemanden gibt, der weiß, woher die Spenden kamen, über die Kohl in Ungnade fiel, dann Gafron. Natürlich belegte er regelmäßig einen der vordersten Plätze auf der Liste der peinlichsten Berliner, die das Stadtmagazin „tip“ jedes Jahr zum Jahreswechsel in liebevoller Kleinarbeit kuratierte.

Als die „Süddeutsche Zeitung“ noch eine Berlin-Seite hatte, gab es eine Rubrik, die sich eigens mit ihm und seinem Wirken beschäftigte. Habe ich schon erwähnt, dass ihm Joschka Fischer mal Schläge androhte, weil er sich über seine Frau lustig gemacht hatte? Mit Fischer versteht sich Gafron heute sehr gut. Sie gehen gelegentlich im „Hot Spot“ zusammen essen, einem Chinesen im Westteil der Stadt, der über eine legendäre Weinkarte verfügt.

Vor drei Wochen erschien von Gafron die Besprechung einer „Anne Will“-Sendung auf „Tichys Einblick“, für den er seit zwei Jahren schreibt. In dem Text ging es vor allem um den Auftritt von Annalena Baerbock, die zu der Talkshow zugeschaltet war. Frau Baerbock kam in dem Artikel nicht gut weg. Das hat mich erstaunt, weil mir Gafron ein paar Tage vorher gesagt hatte, wie froh er sei, dass Baerbock unsere Außenministerin sei und nicht einer dieser Russlandfreunde von der SPD.

Wenige Tage nachdem das Stück erschienen war, telefonierten wir. „Du wirst es nicht glauben“, sagte er, „aber ich habe gerade gesehen, dass es gar nicht mein Text ist, der unter meinem Namen auf die Seite gestellt wurde. Da stehen lauter Sachen drin, die ich nie geschrieben habe.“

Ich habe mir die beiden Fassungen daraufhin angesehen, den Text, den mein Freund an die Redaktion geschickt hatte, und die Fernsehkritik, die unter seinem Namen zur Veröffentlichung kam. Es ist wirklich erstaunlich. Etwa ein Drittel des Textes wurde verändert. Wo Baerbock im Original für ihre klaren Antworten gelobt wurde, stand nun, dass sie sich gewunden habe und es nur dem zähen, unbeeindruckten Nachfassen der Moderatorin zu verdanken sei, dass die Zuschauer überhaupt eine Antwort erhielten.

Einige Passagen waren komplett neu dazugekommen, zum Beispiel ein Absatz, in dem der Ministerin vorgehalten wurde, sie habe Deutschland als das „größte Land in Europa“ bezeichnet, einer der „Versprecher“, die sie, Zitat, „für das Amt so gefährlich machen“. Kurze Zwischenfrage an der Stelle: Ich mag mich, was Bevölkerung und Wirtschaftsstärke angeht, irren, aber gibt es ein Land in Europa, von dem man sagen kann, dass es größer als Deutschland ist?

Ich bin seit 1989 im Journalismus. Ich war selbst einige Jahre Ressortleiter. Dass man Texte redigiert, klar. Dass man Sätze umstellt und Ungeschicklichkeiten glättet, auch das. Aber dass man das Geschriebene in sein Gegenteil verkehrt und das Ganze dann publiziert, ohne dem Autor Bescheid zu geben? Das ist mir in 34 Jahren Journalismus noch nicht begegnet. Ich dachte, so etwas gibt es nur in Putins Russland.

Warum macht eine Redaktion das? Offenbar fürchtet man bei „Tichys Einblick“, dass ein Lob der Grünen die Leser so verstören könnte, dass man ihnen diese Unannehmlichkeit besser erspart. Ein gutes Wort über die Außenministerin und ihren Ukraine-Kurs auf einem solchen Portal! Um Gottes willen!

Der Krieg in der Ukraine hat einen Teil des rechtskonservativen Milieus in schwere Kalamitäten gestürzt. Man sieht sich als Verteidiger der Freiheit, selbstverständlich. Man kämpft gegen Tempolimit, Maskenpflicht und grüne Verbotskultur. Aber mehr noch als die Freiheit liebt man den autoritären Auftritt.

Die gleichen Leute, die eben noch gegen die „Corona-Diktatur“ zu Felde zogen, drücken nun ausgerechnet einem Usurpator die Daumen, der jeden abführen lässt, der auch nur leise Kritik an seiner Politik übt. An die Stelle der Corona-Maßnahmen ist als Feindbild die Nato getreten, an die Stelle der Maskenbefürworter die „Kriegstreiber“, gegen die es sich nun zu wehren gilt. Vom Impfgegner zum Russlandfreund ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Ich bin seit Langem ein Anhänger der These, dass ganz links und ganz rechts mehr miteinander gemein haben, als den Anhängern lieb ist. Man muss ja nur in den Bundestag schauen, wer Putin verteidigt, und man weiß augenblicklich, dass die Hufeisentheorie zutrifft. Manchmal denke ich, das ist so irre, was an Argumenten gegen eine Aufrüstung der Ukraine vorgetragen wird: Da muss doch Geld geflossen sein. Aber am Ende ist es vermutlich Überzeugung.

Der Kulminationspunkt der Affekte ist der Antiamerikanismus. Davon leitet sich alles ab, rechts wie links: die seltsame Russlandverklärung, die Sehnsucht nach der Heimeligkeit der geordneten Welt, auch die Spießigkeit und Muffigkeit, die mit dem allzu Heimeligen einhergeht. Dass es vom Antiamerikanismus zum Antisemitismus nicht mehr weit ist, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.

Es hat seinen Grund, warum die Grünen von allen Parteien am wenigsten auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Sie haben sich über die Natur eines autoritären Regimes wie Russland nie Illusionen gemacht. Es gibt ein bemerkenswertes Video aus dem Wahlkampf, in dem Annalena Baerbock die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas anspricht. Man kann erkennen, dass Scholz und Laschet in dem Moment gar nicht wissen, wovon sie redet.

Die Außenpolitik ist immer das Beste an den Grünen gewesen, da bin ich mir mit meinem Freund Gafron einig. Schon zu DDR-Zeiten waren sie die Einzigen, die bei Besuchen im anderen Teil Deutschlands regelmäßig bei den Bürgerrechtlern vorbeischauten. Davon ließen sie sich, anders als viele Vertreter der SPD oder der Union, auch nicht durch Drohungen oder Schmeicheleien abhalten.

Gafron hat das nicht vergessen. Er saß in der DDR im Knast, wegen versuchter Republikflucht. Kaum war er entlassen, hat er es dann gleich wieder probiert, im Kofferraum eines umgebauten R4. Dieses Mal war er erfolgreich. Wer einmal wirklich für seine Freiheit kämpfen musste, der ist für immer gegen jede Form des Kollektivismus imprägniert. Deshalb hat er stets Distanz zur AfD und ihren Leuten gehalten, auch wenn er manchem, was die AfD an Kritik vorbrachte, zustimmen konnte.

Ich glaube nicht an feministische Außenpolitik. Alles, was ich dazu gelesen habe, war ziemlicher Unsinn. Aber ich glaube daran, dass sich der Zivilisationsgrad einer Nation daran bemisst, wie sie mit Minderheiten umgeht. Man muss nur die Landkarte der Länder übereinanderlegen, in denen Schwule verfolgt werden, und man weiß ziemlich genau, wo man als freiheitsliebender Mensch leben will und wo nicht. Überall dort, wo an der Spitze Leute stehen, die sich davon bedroht fühlen, wenn Menschen anders leben als sie, wird es schnell sehr eng und sehr hässlich.

Der Artikel über Baerbock ist übrigens der letzte Artikel, den man bei „Tichys Einblick“ von Gafron findet. Ein Publikationsorgan, das seine Leser vor Meinungen, die sie nicht teilen, beschützen will, kann für einen wie ihn keine Heimat sein.

©Michael Szyszka

Zero Covid Forever

Wurde uns nicht China eben noch als Labor der Moderne angepriesen? Und nun? Nun stecken sie Teststäbchen in Lachse und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt

Ich bin in meinem Leben in vielen Ländern der Welt gewesen. Ich gehöre zu einer Generation, die noch ohne schlechtes Gewissen fliegen durfte. Eigentlich hat es mir überall gut gefallen.

Ich war auch einmal in China. Ich war bei einem Staatsbesuch dort, als Mitglied der journalistischen Entourage des Bundespräsidenten.

Touristisch gesehen lässt sich nichts aussetzen. Das Land hat atemberaubende Landschaften zu bieten. Die Verbotene Stadt gehört zu den architektonischen Wunderwerken, die man gesehen haben muss. Shanghai ist eine Megalopolis, die so schnell ihr Gesicht ändert, dass alle sechs Monate der Stadtplan überholt ist.

In Peking waren wir zu einem Staatsbankett eingeladen. Wir saßen an 12er-Tischen. Mein Sitznachbar zur Rechten war irgendein hohes Tier im Staatsapparat, mein Nachbar zur Linken machte was mit Finanzen.

Wenn Sie jemals eine Einladung zu einem Staatsdinner erhalten sollten, überlegen Sie es sich gut, ob Sie teilnehmen wollen. Es ist in der Regel eine sterbenslangweilige Veranstaltung. Das lässt man sich natürlich nicht anmerken. Schließlich ist man ja nicht als Privatperson eingeladen, sondern als Vertreter seines Landes. Also versucht man, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Ich bemühte mich auf Englisch, ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Aber da war ich erkennbar an die Falschen geraten. Der Chinese zu meiner Rechten tippte die ganze Zeit ungerührt in sein Handy, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Nachbar zur Linken drehte mir den Rücken zu und telefonierte ungezwungen, während er gleichzeitig seine Suppe schlürfte. Der einzige Trost war: Meinen Mitreisenden erging es nicht besser, wie mir ein Blick über die anderen Tische sagte.

Ich muss zugeben, diese Erfahrung hat mein Bild von China als Kulturland ein wenig getrübt. Ich bin überzeugt, es gibt auch ganz reizende, bescheidene Chinesen, die wissen, wie man sich Fremden gegenüber so benimmt, dass sie nicht das Gefühl haben, Gastfreundschaft sei ein Schimpfwort. Ich habe sie nur nicht kennengelernt.

Das Irre an den Chinesen ist: Sie halten sich für die Krone der Schöpfung. Ich glaube, es gibt kein Volk, das so von sich eingenommen ist wie das chinesische. Jeder, der nicht so ist wie sie, gilt als Mensch zweiter Klasse – wenn’s hochkommt. Ich hätte gedacht, bei einer Nation, der man mühsam abgewöhnen muss, nicht bei jeder Gelegenheit auf den Boden zu spucken, sei zivilisatorisch noch Luft nach oben, wie es so schön heißt. Aber das ist vermutlich diese typische europäische Hochnäsigkeit.

Warum diese kleine Vorrede? Weil ich seit Wochen in den Zeitungen Berichte finde, wie sie in Shanghai einen Lockdown nach dem anderen verhängen. Auch in Peking fürchten die Bürger eine neue Ausgangssperre.

Niemand darf die Wohnung verlassen, nicht einmal für den Gang mit dem Hund. Durch die Straßen patrouillieren Roboter, die die Menschen ermahnen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Sie hungern. Seit Bewohner in Shanghai auf ihren Balkon traten, um ihre Verzweiflung herauszuschreien, ist auch das Betreten des Balkons verboten. Wer dabei erwischt wird, wie er das Balkonfenster öffnet, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen.

Noch schlimmer dran sind nur diejenigen, die das Unglück haben, in einem der Quarantänezentren zu landen. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern sind so katastrophal, dass man sich garantiert ansteckt, wenn nicht mit Covid, dann mit einer anderen schrecklichen Krankheit. Es gibt Berichte über alte Menschen, die sie nachts aus ihren Betten zerren, um sie abzusondern. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, Babys von ihren Müttern. Niemand ist mehr sicher.

Ich lese die Berichte aus Shanghai mit einer Mischung aus Faszination und Grusel. Wurde uns nicht China bis eben noch als Mekka der Hochtechnologie angepriesen? Als das Land, in dem alles zehnmal so schnell geht wie bei uns? Als Zukunftslabor des Kapitalismus und Leuchtturm der Moderne? Und nun stecken sie Teststäbchen in Lachse, weil das Virus angeblich über norwegische Lachsbestände eingeschleppt wurde, und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt. Ich habe mir die Moderne anders vorgestellt.

Überall in der Welt beginnt das Leben wieder normal zu laufen, nur in China nicht. Warum? Weil den Chinesen der Nationalstolz verbietet, sich mit einem Impfstoff impfen zu lassen, der funktioniert. Es gibt einen chinesischen Impfstoff, doch der taugt nichts gegen Omikron. Es ist halt eine Sache, Adidas-Sneaker oder Kettensägen von Stihl zu kopieren, und eine ganz andere, einen mRNA-Impfstoff abzukupfern. Mit Biontech gibt es einen Vertrag über die Lieferung von 100 Millionen Impfdosen, aber es fehlt die Zulassung, weil die Staatsführung den Einsatz als Eingeständnis der Schwäche sieht. Also bleibt nur der Dauerlockdown. Zero Covid Forever.

Ich habe nie verstanden, wie man es in China aushalten kann. Diese Mischung aus Crony-Kapitalismus, Kontrollsucht und unverstellter Aggressivität würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin vielen Leuten begegnet, die von China schwärmten. Die Geschwindigkeit, sagten sie, die Effizienz! Von Asien lernen hieße Siegen lernen.

Das galt auch lange für Corona. Erinnern Sie sich noch, vor zwei Jahren, als bei uns in den Talkshows lauter junge Frauen mit asiatischem Migrationshintergrund saßen, die uns genau erklären konnten, was sie weit im Osten alles besser machen würden als wir? Es ist um die No-Covid-Freunde erkennbar stiller geworden.

Ein ganz großer China-Fan war Angela Merkel. Sie bekam leuchtende Augen, wenn sie von ihren Besuchen bei Xi Jinping sprach. Kein Kanzler hat die Volksrepublik so oft besucht wie sie. Zwölfmal war sie in ihrer Amtszeit dort. Ich glaube, sie bewunderte Xi Jinping insgeheim dafür, wie er das Land regierte. Einmal so durchregieren können wie er, ohne dummerhafte Reinquatschereien von der Seite, das wäre auch ihr Traum gewesen. Man würde gerne wissen, wie sie das heute sieht. Aber sie ist ja verschwunden.

Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer hinsehen, von wem wir uns wirtschaftlich abhängig machen. Ich bin nicht dafür, sich abzuschotten oder die Globalisierung zurückzudrehen, ganz und gar nicht. Aber es wäre doch schön, wir würden nicht den Fehler wiederholen, den wir mit Russland gemacht haben. Wer 1,5 Millionen Menschen in Umerziehungslager steckt, nur weil sie einer Religionsgemeinschaft angehören, der sie an der Staatsspitze misstrauen, dem ist alles zuzutrauen, auch im Bösen.

Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat vor einem Jahr über den Kampf gegen Covid-19 gesagt: „Beurteilt danach, wie die Pandemie von unterschiedlichen Regierungen und politischen Systemen gehandhabt worden ist, können wir klar sehen, wer besser ist.“ Da sah es noch so aus, als würde China als Musterland durch die Krise kommen.

Xi Jinping will im Herbst wiedergewählt werden. Dafür hat er extra die Verfassung ändern lassen. Er ist dann noch länger an der Macht als Mao. Ich sehe keinen Grund, ihm zu widersprechen. „Beurteilt nach den Ergebnissen…“: klar, warum nicht?

©Sören Kunz

Mit brennendem Herzen

War es nicht immer eine Eigenschaft der Linken, wegen allem wie Espenlaub zu zittern? Und nun wollen ausgerechnet die Grünen Waffen an die Ukraine liefern und Leute wie Dieter Nuhr und Martin Walser stemmen sich aus Angst dagegen

Seit Langem fragen sich viele Deutsche, wie sie sich vor 80 Jahren wohl verhalten hätten. Bei den 28 Publizisten und Künstlern, die mit einem offenen Brief in der „Emma“ an Bundeskanzler Olaf Scholz appellierten, ja keine schweren Waffen in die Ukraine zu liefern, ist man nicht länger auf Vermutungen angewiesen. Die 28 hätten zu denen gezählt, die den Friedensschluss mit Hitler-Deutschland gesucht hätten.

Alle Argumente, die sie nennen, hätten schon damals gegolten: dass die Angst vor dem Weltenbrand ein besonnenes Agieren notwendig mache. Dass die Pflicht, dem Schwachen beizustehen, dort ende, wo der Widerstand den Angreifer noch wilder mache. Dass auch der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor das Leid der Zivilbevölkerung so vergrößern könne, dass er moralisch nicht mehr zu rechtfertigen sei.

Es gab vor 80 Jahren, nach dem Blitzkrieg gegen Frankreich, eine ähnliche Diskussion wie heute. Soll man sich dem Diktator entgegenstellen – oder beschwört der Widerstand nur noch größeres Unglück herauf?

„Fünf Tage in London“ heißt ein kleines, sehr lesenswertes Buch, in dem der Historiker John Lukacs die Diskussion 1940 im britischen Kriegskabinett nachzeichnet. Hier die Warner um den gerade zurückgetretenen Premierminister Chamberlain, die meinten, man dürfe nicht auf Eskalation setzen und solle Hitler Friedensverhandlungen anbieten. Dort die Gruppe um Churchill, die sagte: Kämpfen? Jetzt erst recht! Am Ende setzte sich Churchill knapp durch, zum Glück für den Kontinent und die Welt.

Es finden sich bekannte Namen unter dem Appell an Scholz, der seit seinem Erscheinen die Gemüter bewegt. Die Altgrüne Antje Vollmer hat unterschrieben, der Sozialpsychologe Harald Welzer, der schon vor Wochen die „unangenehmen Gefühle“ beschrieb, die es ihm bereite, wenn jemand „tapfer für sein Land“ kämpfe.

Aber es gibt eine Reihe von Namen, die mich überrascht haben. Auch Dieter Nuhr oder Gerhard Polt meinen, dass Olaf Scholz der Ukraine Panzer verweigern sollte? Und was, um Gottes willen, ist in Juli Zeh gefahren, die Frau, die Erfolgsbücher über Leute schreibt, die es nicht im Prenzlauer Berg aushalten, und die nun den Ukrainern rät, sich mit der russischen Besatzung zu arrangieren?

„Mit brennendem Herzen und in großer Sorge“, so begannen früher Unterschriftenaktionen, in denen gegen alles Mögliche zu Felde gezogen wurde – die Überbevölkerung, das Waldsterben, den Atomstaat. Ich dachte, der Intellektuelle, der mahnend das Wort an die Politik richtet, sei mit Günter Grass für immer von der Bühne verschwunden. Da habe ich mich erkennbar geirrt.

Der Krieg führt zu merkwürdigen Konstellationen und Allianzen. Ich finde mich plötzlich an der Seite von Leuten wieder, mit denen ich eben noch in nahezu jeder Frage über Kreuz lag. Ich lese, was linke Plagegeister wie Friedemann Karig, Jagoda Marinic oder Mario Sixtus zum Krieg zu sagen haben, und es erscheint mir grundvernünftig. Ich meine: Sixtus! Der Mann, der auf Twitter das halbe Internet geblockt hat. Und jetzt kann ich jedes Wort von ihm unterschreiben.

Das letzte Mal, dass meine Welt so durcheinandergeriet, war nach den Anschlägen vom 11. September. Ich lebte mit der Familie in New York, als die Türme fielen und George W. Bush dem Irak den Krieg erklärte. In meinem Postfach fanden sich darauf Schreiben von Freunden, sie hätten eigentlich zu Besuch kommen wollen, aber da der Besuch als Solidarität mit den USA verstanden werden könnte, müssten sie ihn leider verschieben.

Einige Freundschaften haben sich davon nicht mehr erholt. Es gibt Momente, in denen man auf den Boden einer Beziehung sieht. Das ist wie in einer Ehe, wenn der Partner ein Gesicht zeigt, das man anschließend nicht mehr vergessen kann, so sehr man sich auch bemüht.

Ich vermute, dass die Panzerlieferungsgegner mehr Menschen hinter sich haben, als es den Anschein hat. Möglicherweise vertreten sie sogar die Mehrheitsmeinung im Land. Nur weil in den Zeitungen die Stimmen derer dominieren, die für ein entschiedenes Eingreifen zugunsten der Ukraine sind, müssen die Leser das nicht auch so sehen. Sich raushalten lag den Nachkriegsdeutschen immer schon näher, als sich einzumischen.

Allerdings macht die Tatsache, dass man die Mehrheitsmeinung vertritt, die Argumente ja noch nicht unbedingt besser. Die Unterrepräsentation der Zögerlichen in deutschen Talkshows liegt möglicherweise auch daran, dass in ihrer Argumentation ein großes, schwarzes Loch klafft.

Alle beteuern, wie sehr ihnen das Schicksal des von Russland bedrängten Landes am Herzen liege. Natürlich dürfe die Ukraine den Krieg nicht verlieren, lautet der letzte Satz in dem Essay, mit dem der Philosoph Jürgen Habermas am Wochenende so etwas wie die Langversion des „Emma“-Aufrufs an Olaf Scholz lieferte. Aber jeder weiß, dass es ohne Panzer und Haubitzen schwer wird, eine Invasionsarmee aufzuhalten.

So bleibt am Ende nur das Argument, dass jede Nation in Kriegszeiten selbst sehen müsse, wo sie bleibe. Am brutalsten hat das Björn Höcke ausgedrückt: „Der Krieg in der Ukraine ist schrecklich, aber es ist nicht unser Krieg.“ So will man es außerhalb der AfD natürlich nicht sagen. Dabei läuft es genau darauf hinaus.

Es heißt, man dürfe Putin nicht weiter provozieren, sonst hole er die Atomwaffe raus, und ehe man es sich versehe, sei man im Dritten Weltkrieg. Kurioserweise sind die Leute, die so denken, nicht weit entfernt von denjenigen, die Putin für einen Wiedergänger Hitlers halten. Wenn man davon ausgeht, dass Putin sogar die Atombombe zünden würde, um seine völkischen Ideen in die Tat umzusetzen, was sollte ihn hindern, einfach weiterzumachen, wenn er erst einmal die Ukraine unterjocht hat?

Mir ist eines aufgefallen: Im Team Vorsicht sind ganz viele Leute, die politisch normalerweise eher meiner Weltsicht zuneigen. Umgekehrt findet man im Lager der Ukraine-Unterstützer überdurchschnittlich viele Menschen, die eher mit den Grünen sympathisieren. Das spiegelt sich auch in den Umfragen wider. Am stärksten ist die Zustimmung zur Militärhilfe für die Ukraine bei den Anhängern von Robert Habeck und Annalena Baerbock. 72 Prozent befürworten dort die Lieferung schwerer Waffen, selbst wenn das bedeuten sollte, dass Deutschland als Kriegspartei gilt.

Warum haben konservativ gesinnte Menschen mehr Angst vor dem Atomkrieg als Grünen-Anhänger? Ich dachte immer, es sei eine Charaktereigenschaft der Linken, wegen allem und jedem wie Espenlaub zu zittern. Gerade die Atomangst war doch eine urlinke Erfindung. Kann man sich darauf auch nicht mehr verlassen?

Schon altersmäßig sind viele, die jetzt zur „Besonnenheit“ mahnen, wie das neue Wort für Untätigkeit lautet, von einem Atomkrieg weniger betroffen. Alice Schwarzer wird dieses Jahr 80 Jahre alt, Alexander Kluge ist gerade 90 geworden, Habermas ist 92 Jahre alt, Martin Walser sogar schon 95. Ich weiß, der Tod kommt immer verfrüht. Aber für einen 25- oder 30- Jährigen kommt er doch deutlich verfrühter.

Vielleicht liegt der Schlüssel zur Erklärung im Selbstbewusstsein eines bestimmten intellektuellen Milieus. Ein Freund brachte mich auf den Gedanken. Er meint, Leute wie Walser oder Habermas können sich schlechterdings nicht vorstellen, dass in den Abendnachrichten vom Erstschlag die Rede ist und sie sind nicht dabei. Sie sagen sich: Wenn es einen Atomkrieg gibt, dann wird mir die Atombombe als Erstem auf den Kopf fallen.

Diese Erklärung hat mir spontan eingeleuchtet.

©Sören Kunz