Warum wählen so viele Leute grün? Weil die anderen es auch tun. Nicht das Programm, sondern vor allem der Opportunismus hat die Ökopartei stark gemacht. Jetzt geht es deshalb in die andere Richtung
Ich habe viele Jahre die Grünen gewählt, erst als Akt der Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Meine erste Bundestagswahl war die von Helmut Kohl gegen Helmut Schmidt. Kohl kam selbstverständlich nicht infrage. Eher hätte ich mir die Hand abhacken lassen, als dass ich mein Kreuz bei der Union gemacht hätte. Da schlug meine sozialdemokratische Erziehung voll durch.
Schmidt wiederum erschien mir zu autoritär und überhaupt zu altbacken. Außerdem wollte ich es meinen Eltern zeigen. Da kamen die Grünen gerade recht.
Es gab einen Riesenstreit, als ich mit nach Brokdorf wollte, den Atomstaat in die Knie zwingen. Meine Mutter war strikt dagegen, sie begründete ihr Verbot mit der Sorge um meine Gesundheit. Ich hatte sie im Verdacht, heimlich mit der Atomlobby zu sympathisieren. Die Sozialdemokraten unter Schmidt waren noch große Fans der Kernenergie. Wäre es nach Schmidt gegangen, würde Deutschland heute 90 Prozent seiner Energie aus heimischen Meilern beziehen. CO₂-Probleme hätten wir jedenfalls keine mehr.
Später dann wählte ich die Grünen, weil alle es taten, die Kommilitonen an der Uni, die meisten Freunde und Bekannten und die Mehrzahl der Redakteure, auf die ich bei meinen Berufsstationen stieß, sowieso. Keine Partei erfreute sich schon damals unter Journalisten solcher Beliebtheit wie die Ökopartei.
Ich kann nicht genau sagen, wann ich den Grünen untreu wurde. Vermutlich bei der Wahl 2002, als Schröder gegen Stoiber stand. Schröder hatte Unterstützung verdient, wie ich fand. Ich habe danach noch einmal Merkel gewählt, bis ich bei der FDP hängen blieb. Die näheren Umstände sind mir heute nicht mehr erinnerlich, da geht es mir wie Aiwanger. Fortan war ich jedenfalls für die grüne Sache verloren.
Mein Eindruck war immer, dass viele für die Grünen stimmen, weil es die anderen auch tun. So lange ich denken kann, musste man sich nie in einer Talkshow dafür rechtfertigen, für die Grünen zu sein. Ein Bekenntnis für die CDU oder gar die Liberalen: Das konnte einen schnell in schwere See bringen. Aber als Grüner segelte man bei allen Diskussionen locker durch. Das war schon immer ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil.
Damit ist es vorbei. Am Sonntag saß ich im „Presseclub“, um über die Frage zu diskutieren, weshalb die Grünen so viel Wut auf sich ziehen würden. „Feindbild statt Volkspartei“, so lautete der Titel der Sendung.
Es gibt noch immer Milieus, in denen es völlig gefahrlos ist, sich zu den Grünen zu bekennen, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Synode der Evangelischen Kirche. Aber außerhalb dieser geschützten Welt kann es jetzt schon mal laut werden. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in einem Porträt der bayerischen Spitzenkandidatin Katharina Schulze geschrieben, wie „brutal“ der Wahlkampf war. Kaum begibt sich die Kandidatin aufs Land, ertönt ein Pfeifkonzert. Neulich flog sogar ein Stein.
Gut, da kann der altgediente Christdemokrat nur müde lächeln. Rohe und gekochte Eier sowie Tomaten jeden Reifegrads waren Jahre lang Standardrequisite eines Kohl-Auftritts. Es gibt einen herrlichen Video-Ausschnitt, wie der Kanzler der Einheit mit Mühe zurückgehalten werden konnte, einem Krakeeler, der sich mit Kohl-Beschimpfungen besonders hervorgetan hatte, eine Watschen zu verpassen. Aber für die Grünen ist die Ablehnung, die ihnen entgegenschlägt, dennoch eine große Sache.
Sie ist auch nicht ungefährlich. Den Grünen geht der Ruf voraus, in der Wolle gefärbte Ideologen zu sein, die ihr Programm durchziehen, koste es, was es wolle. Die beinharten Ideologen gibt es, sogar in deutlich größerer Anzahl als in anderen Parteien. Aber daneben stehen eben viele, die der Opportunismus zur Bewegung getrieben hat. Woher kommt die Wut? Ich äußerte im „Presseclub“ die Vermutung, dass die Ablehnung auch damit zusammenhängen könnte, dass die Grünen allen, die nicht ihre Überzeugungen teilen, das Gefühl vermitteln, etwas minderbemittelt zu sein. Wenn es eine Partei gibt, die gerne ins ganz hohe Fach greift, dann die Partei mit der Sonnenblume. Entweder wird das Klima gerettet oder der gesellschaftliche Zusammenhalt oder zumindest die Biene, darunter machen es Grüne nicht.
Natürlich geht es bei der Landtagswahl in Bayern auch nicht einfach um eine Landtagswahl, sondern um eine Richtungsentscheidung für unsere Demokratie. Wenn die Bayern am Sonntag an die Wahlurne treten, entscheiden sie über Anstand oder Abgrund. Das habe ich mir nicht ausgedacht, um die Grünen zu verhöhnen – das ist O-Ton ihrer Parteivorsitzenden.
Bei den Grünen finden Pfarrstube und Lehrerhaushalt auf ideale Weise zusammen. Deshalb durchzieht viele Auftritte ja auch dieser Predigtton, wie man ihn ansonsten nur noch aus dem „Wort zum Sonntag“ kennt. Fatalerweise äußerte sich diese Kombination lange auch ästhetisch, weshalb es stilsensiblen Zeitgenossen schon in den guten Zeiten der Bewegung trotz inhaltlicher Übereinstimmung nicht möglich war, ökologisch einwandfrei zu wählen.
Mir tut der Abstieg leid, schon aus persönlichen Gründen. Aus kolumnistischer Sicht sind starke Grüne besser als schwache Grüne. Robert Habeck oder Annalena Baerbock im Kanzleramt – das wäre für mich wie ein Sechser im Lotto. Dann müsste ich mir keine Sorgen mehr machen, womit ich die Spalten fülle. Leider sieht es nicht danach aus, dass es dazu kommt.
Ganz auszuschließen ist es nicht, dass sich die Grünen noch einmal berappeln. Das ist ja das Schöne am politischen Geschäft: Im Politbusiness haben auch Leute eine Chance, auf die niemand mehr einen Pfifferling geben wollte. Wer hätte im Sommer 2021 darauf gewettet, dass Olaf Scholz einmal Kanzler werden würde? Ich erinnere mich, wie sich alle fragten, was denn der nette Herr mit der Glatze eigentlich bei den Triellen verloren habe, die sie im Fernsehen veranstalteten. Und dann saß er plötzlich im Kanzleramt.
Das Versprechen der Grünen, Kapitalismus und Moral zu versöhnen, ist unverändert attraktiv. Die Kohle raushauen, aber dabei kein allzu schlechtes Gewissen haben müssen, weil man das Geld mit dem richtigen Bewusstsein ausgibt – das ist ein fast unschlagbares Angebot. Dummerweise sprechen die Zeitläufe gegen eine baldige Erholung.
Das ganze grüne Sonnenblumenprogramm wirkt aus der Zeit gefallen. Es gibt einen sehenswerten Aufritt von Habeck, in dem er vor der Wahl erklärte, dass jeder Euro, den der Staat an Schulden aufnehme, um ihn für uns auszugeben, alle reicher mache. Das war schon damals Gaga – seit der Zinswende ist es kompletter Nonsens. Und die wirtschaftlichen Aussichten sind eher düster. Wenn wir Pech haben, dann ist der Konjunktureinbruch nicht eine Delle, die schon im nächsten Quartal wieder behoben ist, sondern Zeichen eines lang anhaltenden Abschwungs.
Der Vorteil der Grünen ist, dass ihre Klientel relativ gut gegen wirtschaftliche Verwerfungen geschützt ist. Ihre Wähler sind überdurchschnittlich vermögend, überdurchschnittlich gut gebildet und überdurchschnittlich verzichtsbereit. Das hilft über einiges hinweg.
Die treuesten Fans haben die Grünen zudem im öffentlichen Dienst, wo ökonomische Schocks nur mit großer Verspätung ankommen. Dass einem Beamten das Gehalt gekürzt wird, hat es meiner Erinnerung nach noch nicht gegeben. Aber nur mit Beamten und öffentlichen Angestellten schafft man es wiederum nicht ins Kanzleramt.
Wie die Basis reagiert, wenn plötzlich das Schulgeld für Sophie und Jonas nicht mehr drin ist, bleibt abzuwarten. Mit dem Verzicht ist es wie mit dem Abnehmen: Das eine ist, darüber zu reden, etwas ganz anderes, es dann auch durchzuziehen.
© Sören Kunz