Alle Artikel von Jan Fleischhauer

Der Zwergenkanzler

Er wäre so gerne ein Großer. Manchmal steht Olaf Scholz vor dem Spiegel und übt heimlich Helmut-Schmidt-Gesten. Aber er ist nicht mal ein Schmidtchen, wie die vergangenen Tage gezeigt haben

Der unglücklichste Kanzler war Ludwig Erhard. Als er das Amt übernahm, hielt er sich für den richtigen Mann am richtigen Platz. Der Aufstieg Deutschlands vom niedergebombten Ruinenstaat zum bewunderten Wirtschaftsriesen verband sich mit seinem Namen. „Vater des Wirtschaftswunders“ nannten sie ihn.

Aber kaum im Kanzleramt eingezogen, wendete sich das Schicksal. Erhard war zu freundlich und zu konziliant für das Amt. Die Menschen machten Witze über ihn und den Bonner Kanzlerbungalow, das „Palais Schaumbad“ mit dem Mini-Schwimmbecken in der Mitte. Wofür, fragten die Zeitgenossen, braucht ein Nichtschwimmer einen Pool? Dazu kam der Spott des Erst- und Altkanzlers Konrad Adenauer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger mit fiesen Kommentaren zu piesacken.

An zweiter Stelle der gescheiterten Kanzler steht Kurt Georg Kiesinger. Ein feinsinniger Mann, der nachts, wenn ihn die Schlafstörung heimsuchte, gerne im Badezimmer Gedichte las. Aber auch er war ein Mann des Übergangs. Kiesinger gilt heute als eher mediokre Gestalt. Am ehesten ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Journalistin Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedschaft verpasste.

Wo steht Olaf Scholz, wo sieht er sich selbst? Dass es für die erste Reihe nicht reicht, dämmert ihm möglicherweise selbst, auch wenn er sich grundsätzlich für den Klügsten und Weitsichtigsten im Raum hält. Adenauer, Brandt, Kohl – das sind Namen aus einer anderen Liga. Wer es mit ihm sehr gut meint, wird ihm einen Platz im Mittelfeld zuweisen, neben Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Die Historiker dürften weitaus ungnädiger urteilen. Wenn Scholz nicht noch auf den allerletzten Meter ein Husarenstück gelingt, wird er als glücklosester Kanzler aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Ein Zwergenkanzler, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss und die Dinge treiben ließ – und dann Führung beweisen wollte, als es zu spät war.

Mich verbindet mit der SPD eine lange, sentimentale Geschichte. Ich hielt sie immer für eine im Kern anständige Partei, glücklos mitunter, sicher, in ihren Ansprüchen nicht selten vermessen, ja hochtrabend, aber am Ende, wenn es darauf ankam, doch verlässlich.

Auch davon muss ich mich trennen. Der Kanzler erweist sich als rachsüchtiger Kleingeist, der ein Temperament erst entdeckt, wenn es um ihn selbst geht. Alles hat er an sich abperlen lassen: die Nöte des deutschen Mittelstands; die desaströsen Lageberichte des deutschen Heeres; die zunehmend verzweifelten Hilferufe der Ukraine, deren Jugend im Kampf für die Freiheit Europas verblutet.

Aber als ihm sein Finanzminister die Gefolgschaft aufkündigte, kannte er plötzlich kein Halten mehr. Ein „schlechter Mensch“ sei dieser Lindner, unseriös, egoistisch, skrupellos, ein Politiker, mit dem man nicht einen Tag länger zusammenarbeiten könne. So steigerte er sich in eine Suada der Erregung.

Leider sind die anderen Leute, die in der SPD den Ton angeben, nicht besser. Lars Klingbeil: ein Parteisoldat, der den Parteiegoismus unter seinem jungenhaften Charme verbirgt. Die unvermeidliche Saskia Esken, die noch dann die Lauterkeit der Sozialdemokratie beschwören würde, wenn sie morgen Nord Stream 2 wiedereröffneten. Und natürlich Rolf Mützenich, der Fraktionschef im Hintergrund, ohne den Scholz schon lange nicht mehr Kanzler wäre.

Wer mit falschen Heiligen vertraut ist, kennt den Typus. Wenn Mützenich vor die Presse tritt, dann mit dem gequälten Gesichtsausdruck des am Unrecht der Welt Verzweifelnden. Jede Entscheidung trägt er im sorgenvollen Tonfall eines Mannes vor, der sich wahrlich nichts leicht gemacht hat, auch wenn’s nur um den schnöden Machterhalt geht.

Bei Sonnenschein und mäßigem Wind lässt sich leicht regieren. Dazu braucht es nicht viel Könnerschaft. Der wahre Charakter zeigt sich im Sturm. So gesehen war der Überfall auf die Ukraine ein Glücksfall. Und zunächst sah es so aus, als wolle Scholz die Gelegenheit beim Schopf greifen und endlich Führungskraft zeigen. Die „Zeitenwende“, die er ausrief, sollte auch eine Wende in eigener Sache sein. Aber leider folgte dem nichts.

Die Bilanz nach drei Jahren fällt entsprechend düster aus. Die Sozialpolitik? Auf Pump finanziert, und in Teilen deshalb schon wieder notabgewickelt. Die Außenpolitik? Ein Trümmerfeld. In nur drei Jahren gelang es, nicht nur das Verhältnis zu Frankreich zu ruinieren, sondern das zu Polen gleich mit. Die Wirtschaftspolitik? Ein einziges Trauerspiel.

Im ARD-Presseclub erinnerte der „Wirtschaftswoche”-Chefredakteur Horst von Buttlar daran, dass derselbe Kanzler, der die Wirtschaft im Sommer dafür verspottete, dass sie ihm ihre Klagen vortrug, dem Land noch vor einem Jahr ein grünes Wirtschaftswunder in Aussicht gestellt hatte, mit Wachstumsraten von drei Prozent. Nun sind wir schon froh, wenn wir nicht Jahr um Jahr ärmer werden.

Scholz wäre so gerne ein Großer. Sein heimliches Vorbild ist Helmut Schmidt, der Mann mit der Lotsenmütze, Inbegriff des hanseatischen Krisenmanagers. Manchmal steht er vor dem Spiegel und übt heimlich Schmidt-Gesten.

Auch der Bruch der Koalition wurde als Wiederholung inszeniert. Bis in die Wortwahl glich die Begründung der Rede, mit der der berühmte Lotse 1982 das Ende seiner Regierung verkündete. Auch damals war vom hinterhältigen Anschlag der FDP die Rede. Der Unterschied ist: In Olaf Scholz sieht niemand einen Helmut Schmidt. Er ist nicht mal ein Schmidtchen.

So gleicht das Stück, dass die SPD aufführt, nicht der Tragödie, die sie so gerne auf dem Spielplan sehen würden, sondern bis in die Nebenrollen nur einer unfreiwilligen Komödie. Wer immer auf die Idee gekommen ist, dem FDP-Mann Wissing zusätzlich zum Verkehrsministerium auch noch das Justizministerium anzutragen, hat einen Sinn für abgründigen Humor. Jetzt darf der arme Mann bis Februar so tun, als sei er ein zweiter Karl Schiller, ein Superminister, auf dessen Wort ganz Deutschland hört. Das Lachen darüber hört man bis nach München.

Zwergenkanzler verzwergen auch das Land, dem sie vorstehen. Am Wochenende hieß es, es mangele an ausreichend Papier, deswegen könnten die Deutschen nicht schon im Januar oder Februar wählen. Das ist der Grund, den die Bundeswahlleiterin Ruth Brand nannte, um vor zu frühen Neuwahlen zu warnen.

Erst war es die Instabilität, die man Deutschland in so schwerer Zeit nicht zumuten könne, weshalb es besser sei, bis März eine Minderheitsregierung im Amt zu belassen. Dann war es die Erinnerung an die Nazis, derentwegen sich eine schnelle Vertrauensfrage des Kanzlers verbiete.

Kein Scherz, so sagte es der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese im Bundestag: Schon die Nationalsozialisten hätten die Republik in die Regierungsunfähigkeit zu manövrieren versucht, indem sie Zweifel an den Institutionen des Staates schürten. Dann, Ultima Ratio, die Papierknappheit.

Anderseits: Das passt zu einem Land, in dem führende Regierungsvertreter die Bürger vor dem Betreten von Brücken warnen, weil man deren Tragfähigkeit nicht länger gewährleisten könne, und jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang wird. Man fragt sich gelegentlich, wie es uns jemals gelingen konnte, die besten Flugzeuge und Autos der Welt zu bauen. Aber diese Errungenschaft stammt ja auch aus einer Zeit, als man sich noch nicht vor einem Wahltermin fürchtete.

Viel ist von dem Bild die Rede, das Deutschland im Ausland abgibt. Bei jedem Prozentpunkt mehr für die AfD wird warnend der Zeigefinger gehoben, welche abschreckende Wirkung der Erfolg der Rechten auf die Fachkräfte habe, die wir dringend bräuchten.

Ich gelange immer mehr zur Überzeugung, dass der größte Abschreckungseffekt von der Dysfunktionalität Deutschlands ausgeht. Wie attraktiv ist ein Land, in dem sich die Bahn im Postkutschentempo bewegt, das Internet auf dem Niveau von Burkina Faso liegt und man sich schon von einem außerplanmäßigen Wahlgang überfordert zeigt? Dann geht man doch lieber dahin, wo wenigstens die Steuern und Abgaben entsprechend niedrig sind.

Auch das spricht ganz klar gegen Deutschland: Nix hinbekommen – aber dafür die Bürger so zur Kasse bitten wie kein anderes Land in Europa.

© Sören Kunz

Still in Dubai

Der Iran ermordet einen deutschen Geschäftsmann, die Außenministerin kündigt „schwerwiegende Konsequenzen“ an. Und dann? Dann schließt sie ein paar Generalkonsulate. Mehr muss man über die deutsche Außenpolitik nicht wissen

Annalena Baerbock sieht blendend aus, um mal mit dem Positiven zu beginnen. Wenn sie die Gangway herab schreitet, sitzt jedes Haar. Neulich war sie im Nahen Osten unterwegs. Auf dem Pressefoto: die Ministerin mit schwarzer Sonnenbrille, schwarzem Hosenanzug und schwarzen Pomps umringt von vier Bodyguards. Atemberaubend. Ich dachte im ersten Moment, es würde sich um ein Szenenbild aus „Mission Impossible 5“ handeln. Aber nein, es war unsere Außenministerin im Einsatz für den Weltfrieden.

Normalerweise schickt es sich nicht, das Aussehen von Politikern zu kommentieren. Aber in dem Fall ist man dazu ja geradezu verpflichtet. 136000 Euro gibt Annalena Baerbock im Jahr für die Visagistin aus. Verschwendung von Steuergeldern ist ein großes Thema. Insofern ist man als kritischer Beobachter doch froh, wenn man sagen kann, dass das Geld gut angelegt ist.

Was die Außenpolitik angeht, sieht es leider nicht so rosig aus. Am vorletzten Montag hat das iranische Regime den deutschen Unternehmer Jamshid Sharmahd hinrichten lassen. Sharmahd unterhielt eine Webseite für Exiliraner, auf der er für die Rückkehr zur Monarchie warb. Das reichte für einen Platz auf der Todesliste. Während einer Geschäftsreise nach Dubai ließen ihn die Mullahs entführen, um ihn vor einem Revolutionsgericht in Teheran wegen „Korruption auf Erden“ abzuurteilen.

Kidnapping plus Geiselhaft plus Folter plus Mord: Das ist eine ziemlich lange Liste an Vergehen, selbst für einen Schurkenstaat wie den Iran. Dass man mal eben einen ausländischen Staatsangehörigen entführt, um ihn nach einem Schauprozess hinzurichten, kommt nicht mal im notorisch bedenkenlosen Nordkorea vor. Auch da kennt man politische Geiselnahme als diplomatisches Mittel, aber man bringt die Geiseln anschließend nicht einfach um die Ecke.

Der Kanzler sprach von einem „Skandal“ und verurteilte „aufs Schärfste“. Die Außenministerin verurteilte scharf und kündigte „schwerwiegende Konsequenzen“ an.

Wie die schwerwiegenden Konsequenzen dann aussahen? Der iranische Botschafter wurde ins Auswärtige Amt einbestellt, wo ihm mitgeteilt wurde, wie empört man sei. Und die Generalkonsulate in Hamburg, Frankfurt und München müssen schließen. Das Personal der Botschaft darf selbstverständlich unbehelligt im Land bleiben – man will schließlich die „stille Diplomatie“, an der Deutschland so viel liegt, nicht gefährden.

So sind wir: Immer bemüht, den richtigen Ton zu treffen, damit sich ja niemand vor den Kopf geschlagen fühlt.

Nicht einmal die bekannten Diktatorenanschmuser Viktor Orbán und Gerhard Schröder würden vermutlich bestreiten, dass eine Welt ohne Mullahs eine bessere Welt wäre. Hinter nahezu jeder Terrorgruppe, die dem Westen den Krieg erklärt, steckt der Iran. Führt das dazu, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dem iranischen Regime das Überleben so schwer wie möglich zu machen? Selbstverständlich nicht. Wir schaffen es ja noch nicht einmal, die iranischen Revolutionsgarden als terroristische Organisation einzustufen.

Einem Artikel in der „Welt“ habe ich entnommen, dass wir im Zweifel sogar dabei behilflich sind, iranische Moralvorstellungen nach Deutschland zu exportieren. Vor dem Islamischen Zentrum in Hamburg, einem Außenposten des Mullahregimes, demonstrierte ein Trupp Exiliraner. Einige der Demonstranten verbrannten dabei einige Koranseiten.

In Deutschland läuft so etwas unter Religionskritik. Die Zeiten, als die Obrigkeit die Entweihung religiöser Symbole als Provokation empfand, sind lange vorbei. So sah es auch die Polizei, die herbeigerufen wurde, um die Personalien der Demonstranten aufzunehmen.

Aber dann beschwerte sich das iranische Generalkonsulat in Hamburg und verlangte eine „Verurteilung dieses kriminellen und höchst provokativen Aktes“. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen „gemeinschaftlicher Beschimpfung von Glaubensbekenntnissen“. Man will ja schließlich die Mullahs nicht gegen sich aufbringen!

Obacht also liebe Leute, wenn ihr das nächste Mal ein Kreuz zertrümmert oder eine Christusstatue entweiht: Die Strafe folgt auf dem Fuße. Kleiner Scherz. Die Empfindlichkeit gilt selbstverständlich nur bei Symbolen fremder Mächte. Die eigene Religion darf man trashen, so viel man will. Da kann man sogar den Papst mit vollgepinkelter Soutane zeigen, ohne dass von Staats wegen ein Hahn danach kräht. Neueste Variante übrigens im Fall Sharmahd: Der Verurteilte sei gar nicht hingerichtet worden, sondern kurz zuvor einfach verstorben, erklärte jetzt ein Justizsprecher der Behörde in Teheran.

Die deutsche Außenpolitik krankte schon immer am Missverhältnis zwischen Anspruch und Möglichkeiten. Seit Wochen ist Annalena Baerbock im Nahen Osten unterwegs, um eine Eskalation zu verhindern, wie das in der Sprache der „stillen Diplomatie“ heißt. Die beiden anderen Begriffe, die in dem Zusammenhang unweigerlich fallen, sind „Gewaltspirale“ und „Flächenbrand“.

Die Shuttlediplomatie ist natürlich ein Witz. Die Einzigen, die im Nahen Osten etwas zu sagen haben, sind die Amerikaner. Wenn die USA morgen ein Waffenembargo beschließen, kommt eine Woche später kein Kampfjet mehr vom Boden. Wenn die Deutschen damit drohen, keine Waffen mehr zu liefern, fehlen ein paar Helme. Das macht die Appelle der Ministerin unfreiwillig komisch.

Die Region, wo wir etwas ausrichten könnten, wäre die Ukraine. Aber da ziehen wir es vor, uns vornehm zurückzuhalten.

Ich habe dieser Tage ein bemerkenswertes Interview mit dem Osteuropaexperten Jan Claas Behrends gehört. Er könne ja nachvollziehen, dass die Bundesregierung der Ukraine keine Taurus in die Hand geben wolle, sagte er darin. Aber weshalb sie nicht einmal den Versuch mache, von den Russen eine Gegenleistung zu verlangen, sei ihm unbegreiflich. Man könnte ja zum Beispiel fordern, dass sie aufhören Krankenhäuser, Kindergärten und Kraftwerke zu beschießen. Der einzige, der ständig rote Linien aufstellt, die wir dann auch noch peinlich genau beachten, ist Putin. Auch so verliert man einen Krieg.

Wir hätten die Möglichkeit, den Krieg zu wenden. Noch ein Jahr, so sagen es die Militärs, und der Mann im Kreml bekomme ernsthafte Schwierigkeiten, weil ihm die Soldaten ausgingen. 1000 Tote am Tag, das hält auf Dauer nicht einmal Russland durch. Aber so weit möchte man es wiederum bei der SPD nicht kommen lassen. Tatsächlich ist die Unterstützung für die Ukraine so kalibriert, dass uns niemand vorwerfen kann, wir würden das Land schutzlos dem Feind überlassen. Aber wir liefern eben auch nie so viel, dass es sich wirklich verteidigen kann.

Die Einzigen, mit denen wir uns anlegen, sind Donald Trump und seine Leute. Da gibt auch der brave deutsche Diplomat seine Zurückhaltung auf und zeigt mal, was in ihm steckt. Dass wir nichts sind ohne den Raketenschutz aus Washington? Egal. Kamala Harris heißt unsere Heldin. So steuern wir auch außenpolitisch ohne Kompass und Segel dahin, getrieben allein von der Hoffnung, dass am Ende schon die Richtigen gewinnen.

Zum Schluss doch noch eine gute Nachricht. Wir finanzieren Solarmodule auf marokkanischen Moscheen. Kein Witz, acht Millionen Euro ist uns der Spaß wert. Wie es der Zufall wollte, ertönte neben mir gerade der Ruf des Muezzin, als ich davon las. Ich verbringe die Herbstferien regelmäßig mit der Familie in Marrakesch. Ich hatte also Gelegenheit, mich vom baulichen Zustand der marokkanischen Moscheen zu überzeugen.

Das Land leidet an Wassermangel, aber nicht an einem Mangel an Strom. Auch das Solarmodul ist dort wohl bekannt. Das Entwicklungshilfeministerium hat das Projekt nichtsdestotrotz in Auftrag gegeben, um auch den marokkanischen Imam in Sachen Energieeffizienz zu „sensibilisieren”, wie es in den Unterlagen heißt. Außerdem habe man das Thema Geschlechtergerechtigkeit adressiert: Sechs von neun Mitarbeitern, die man über die Vorteile erneuerbarer Energien unterrichtet habe, seien Frauen gewesen.

Man könnte verzweifeln, wenn es nicht so komisch wäre.

Mehr Trump wagen

Viele Politiker haben in Wahrheit Angst vor Menschen. Abstrakt finden sie Demokratie prima. Aber wenn es konkret wird, würden sie am liebsten davonlaufen. Kein Wunder, dass das Vertrauen in die Politik ständig sinkt

Einmal war ich mit Klaus Wowereit im Wahlkampf unterwegs. Der erste Stopp: ein Einkaufszentrum in Berlin-Lichtenberg. Die Zeitungen waren wieder voll mit Nachrichten, was alles in Berlin schieflief, aber Wowereit schnappte sich kurzerhand ein Bund Rosen vom Wahlkampfstand und rannte auf ein Rentnerpärchen am Eingang des „Ring Center“ zu.

„Na“, sagte er, „wie jeht’s denn so?“

Dann guckte er der Frau in die Einkaufstasche.

„Passen Sie auf, dass Ihr Mann nicht vom Fleisch fällt. Es sei denn, Sie wollen ihn nicht mehr.“ Allgemeines Gelächter.

Nächste Station dann ein Imbiss im ersten Stock. Vor Tellern mit riesigen Hawaii-Toasts zwei junge Frauen, die offenbar ihr zweites Frühstück einnahmen. Wowereit steuerte schnurgerade auf den Tisch zu und beugte sich hinunter.

„Na, die Portion ist ja auch nicht zu klein geraten.“

Kurze Schrecksekunde bei den beiden Imbisskundinnen. Dann erneut Gelächter.

Man kann nicht behaupten, dass sich Wowereit beim Wähler angebiedert hätte. Aber natürlich hatte er am Ende die Nase vorn. Wenn er gewollt hätte, wäre er auch ein viertes Mal gewählt worden – trotz Flughafen-debakel, mieser Pisa-Ergebnisse und brennender Autos. Er hat es dann vorgezogen, sich aus der Politik zu verabschieden, bevor andere meinten, es sei Zeit zu gehen.

Ich habe auch Christian Ude im Wahlkampf beobachtet. Bevor es zu den ernsten Themen kam: erst einmal zwei Gags zum Aufwärmen. So fing bei dem Münchner Oberbürgermeister der Abend an. Man kann das furchtbar unseriös finden, aber es ist eben sehr viel unterhaltsamer als diese papierenen Reden, in denen ein Programmpunkt nach dem anderen abgearbeitet wird.

Nach seiner langen Karriere als Bürgermeister war Ude als Stand-up-Comedian auf Tour. Auch das: hochzweifelhaft. Andererseits als Politiker einen Raum voller Leute zu unterhalten, die dafür sogar bezahlt haben, wer kann das schon? Das setzt ein gerütteltes Maß an Selbstironie-fähigkeit voraus. Einer der wenigen, die in Bayern über ein ähnliches komödiantisches Talent verfügen, ist der bayerische Justizminister Georg Eisenreich. Wenn mich nicht alles täuscht, steht dem Mann eine große Karriere bevor.

Warum ich das erzähle? Weil wir uns gelegentlich daran erinnern sollten, dass es vor noch gar nicht so langer Zeit Politiker gab, bei denen man nicht sofort in Deckung ging, wenn sie auftauchten. Wir denken, Politiker müssten so sein wie Olaf Scholz oder Friedrich Merz, also wie Leute, bei denen jeder weiß, dass es furchtbar anstrengend wird, sollte man versehentlich in Rufweite geraten.

Ich habe einmal den Fehler gemacht, mich bei einem Sommerfest neben Olaf Scholz zu stellen. Erst folgte ein Vortrag über die Anfänge der SPD in Hamburg-Wandsbek, dann ein Vortrag über die SPD in Hamburg-Volksdorf. Nach 30 Minuten habe ich einen Hustenanfall vorgetäuscht, der mich dazu zwang, mich aus der Gruppe der Zuhörer zu entfernen.

Heute steht das Volkstümliche unter Verdacht. Wenn ein Politiker einen anderen schmähen will, dann wirft er ihm vor, ein Populist zu sein. Besser Populist als Langweiler, würde ich sagen. Aber mit dieser Meinung stehe ich erkennbar auf verlorenem Posten.

Alle Augen sind dieser Tage auf Kamala Harris gerichtet. „Kann sie die Welt retten?“, lautet die Frage bei „Stern“, „Zeit“ und „Süddeutscher Zeitung“ – wobei die Frage ja bereits die Antwort beinhaltet. Allenthalben wird gerätselt, wie es einem verurteilten Straftäter mit erratischem Verhalten und aus-geprägten Rachefantasien gelingen kann, in den Umfragen so weit aufzuschließen, dass ein Wahlsieg immer wahrscheinlicher wird.

Was ist das Geheimnis von Donald Trump? Dass er sich nicht verstellt, wäre meine Vermutung. In einer Zeit, in der alles mehr oder weniger nur noch Fassade zu sein scheint, geht davon eine enorme Verführungskraft aus.

Trump ist immer ganz bei sich. Er sagt, was ihm durch den Kopf geht, egal, was die anderen dazu denken. Wenn ihn die Berater in eine Richtung zu schubsen versuchen, neigt er sich aus Prinzip in die andere. Man merkt ihm auch sofort an, wenn er sich geschmeichelt fühlt oder sich ärgert.

Vor zwei Wochen war Trump bei McDonald’s. Seine Gegenspielerin hatte behauptet, sie habe als Studentin bei McDonald’s gearbeitet. Also tauchte er in einem Drive Thru auf, zog sich eine Schürze an und ließ sich in die Bedienung der Fritteuse unterweisen. Anschließend trat er vor die Kameras und sagte, er habe jetzt mehr Zeit bei McDonald’s verbracht als Kamala Harris in ihrem ganzen Leben.

Klar, es war ein Stunt, eine Inszenierung, wie sie in ihrer Schamlosigkeit nur Trump einfällt. Aber das Bemerkenswerte war: Es war an keiner Stelle peinlich. Trump ist immer Trump. Er findet sofort einen Draht zu den Leuten, mit denen er spricht. Er verhält sich auch nie von oben herab oder anbiedernd.

Man muss sich nur für einen Moment vorstellen, Kamala Harris hätte sich an den Burger-Grill gestellt. Es hätte mit einem Vortrag über die Gefahren von Fast Food begonnen. Oder, schlimmer noch: Einem Bekenntnis, dass sie früher auch gerne mal in einen Burger gebissen habe, weil ihr plötzlich eingefallen wäre, wie wichtig es sei, ihre Verbindungen zur Arbeiterklasse zu unterstreichen. Trump hat so etwas nicht nötig. Wenn es nach ihm ginge, könnte es jeden Tag Big Mac geben.

Wer volkstümlich ist, steht im Verdacht, den intellektuellen Anforderungen des Amtes nicht gewachsen zu sein. Das muss man als Politiker aushalten können.

Ich erinnere mich an eine der ersten Pressekonferenzen mit Kurt Beck, nachdem sie ihn zum SPD-Chef bestimmt hatten. Beck konnte auf eine beeindruckende Reihe von Erfolgen verweisen, kaum ein Ministerpräsident war so beliebt wie er. Aber das nützte ihm nichts.

Schon wie er aussah, mit dem Mecki-Schnitt und dem eigenartigen Bart, gab Anlass zu Spott. Dazu die verwaschene Ausdrucksweise seiner pfälzischen Heimat. Alles an diesem Mann strömte Provinz aus. So wurde er auch behandelt, als Provinzei, das sich in die Hauptstadt verwirrt hatte, ein Missverständnis auf zwei Beinen.

Zwei Jahre ging das so, dann zog Beck sich schwer verwundet zurück. Noch Jahre später konnte er Auskunft geben, wie ihn die Verachtung und Hochmütigkeit der Berliner Blase getroffen hatte.

Meiner Beobachtung nach haben mehr Politiker Angst vor Menschen, als man meinen sollte. Sicher, abstrakt finden sie das Volk prima. Demokratie heißt schließlich, den Mehrheitswillen zu organisieren. Aber wenn es konkret wird, bekommen viele Beklemmungen.

Man sieht es an der verdrucksten Art, mit der sie sich dem Wähler nähern, so als gehe von diesem eine unbestimmte Gefahr aus. Da stehen sie dann vor dem Obststand oder der Werkbank und stellen unbeholfene Fragen, weil ihnen die Berater gesagt haben, sie müssten sich zugänglicher zeigen. Entsprechend groß ist die Erleichterung, wenn alles vorbei ist und man wieder im Wahlkampf-Bus hockt.

Vielleicht ginge es der Politik besser, wenn es weniger Berater gäbe. Jeder Politiker hat heute einen Tross von Leuten um sich, die darüber wachen, dass nichts Unvorhergesehenes passiert. Wehe, jemand durchstößt den Kokon, dann herrscht Panik.

Ich glaube, es gibt ein riesiges Bedürfnis nach Politikern, die so reden, dass man das Gefühl hat, sie meinen, was sie sagen. Die meisten von ihnen haben furchtbar Angst, etwas falsch zu machen.

Ich weiß, ich lehne mich hier weit aus dem Fenster, aber wenn ich einen Rat hätte, dann wäre der: mehr Trump wagen.

© Michael Szyszka

Hütchenspieler im Kanzleramt

Der Staat erreicht eine magische Grenze: Im nächsten Jahr werden die Steuereinnahmen bei fast einer Billion Euro liegen. Gleichzeitig ist in Deutschland auf nichts mehr Verlass. Wie passt das denn zusammen?

Die wichtigste Nachricht vorneweg: Spätestens im kommenden Jahr werden die Steuereinnahmen die Marke von einer Billion Euro überschreiten.

Ich weiß, ich weiß, wenn man in die Zeitungen schaut, muss man zu einer ganz anderen Einschätzung kommen. Da ist ständig davon die Rede, dass die Steuereinnahmen viel geringer ausfallen als erwartet. Die meisten Menschen denken deshalb, die Bundesregierung müsse mit immer weniger Geld auskommen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Keine Regierung hat jemals über so viel Steuereinnahmen verfügt wie diese.

Das entscheidende Wort ist hier „erwartet“. Die Prognosen hatten ursprünglich noch mehr Geld versprochen. Wenn Leute wie der Linkspartei-Vorsitzende Jan van Aken in der Talkshow sitzen und davon reden, der Staat sei kaputtgespart worden, hat er recht – in dem Sinne, in dem auch ein Milliardär recht hat, wenn er darüber klagt, dass man nicht mehr nach Saint-Tropez könne, weil dort alles so überlaufen sei. Man lebt im Überfluss, aber halt nicht mehr ganz so schön, wie man es sich gestern noch ausgemalt hat.

Was bekommen wir für unser Geld? Wenn man sich den Zustand der Krankenhäuser ansieht oder der Straßen oder des Schienennetzes, muss man sagen: Nicht viel. Man kann inzwischen schon froh sein, wenn man binnen eines Tages von A nach B kommt. Verabredungen zu einer festen Uhrzeit treffen nur noch unverbesserliche Optimisten.

Jedes Unternehmen hätte längst Konkurs angemeldet, weil ihm die Kunden davongelaufen wären. Dummerweise kann der Bürger nicht davonlaufen. Wie heißt es so schön: Ein Staat kann nicht pleitegehen. Im Zweifel zwackt er den Bürgern einfach noch mehr Geld ab.

Das Versagen hat Auswirkungen, auch das lässt sich an Zahlen festmachen. Die Zahl der Menschen, die den Eindruck haben, dass der Staat restlos überfordert ist, hat einen Rekordwert erreicht. 70 Prozent finden das. Nur noch 25 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Die Zahl hat sich binnen vier Jahren halbiert, auch das ein Rekord.

Viel ist davon die Rede, dass man die Demokratie schützen müsse. Der wirksamste Demokratieschutz wäre nach meinem Dafürhalten ein funktionierendes Gemeinwesen. Einfach mal verlässlich ein ICE, der dort hält, wo es im Fahrplan vermerkt ist, und das zu der Zeit, die einem vorher zugesagt wurde: Das würde die Zahl der Staatsfeinde augenblicklich senken. 2070, so hat der Bahnvorstand erklärt, sollen sich die Deutschen wieder auf die Bahn verlassen können. Dann kommt der Deutschlandtakt. Aber hey, wer Bahn fährt, hat ja Zeit.

Die Linken haben auf die Misere zwei Antworten. Die eine Antwort lautet: mehr Schulden. Deshalb wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit für die Aufhebung der Schuldenbremse getrommelt. Nur die Argumente variieren. Entweder ist es die Waffenlieferung an die Ukraine, die mehr Schulden unausweichlich macht. Oder der Starkregen im August. Oder der Einsturz einer Elbbrücke in Dresden.

Kein Witz, das hat der grüne Finanzexperte Andreas Audretsch im Bundestag so vorgetragen: Dresden zeige, dass die Schuldenbremse tödlich sei. Wer nicht wolle, dass die Bürger beim Verlassen des Hauses in Lebensgefahr gerieten, müsse sie sofort aussetzen.

Die andere Antwort lautet: ordentlich Steuererhöhungen. So brutal sagt es natürlich niemand, schließlich will man die Wähler nicht verschrecken. Also wird der Kammerton des politischen Protestantismus angeschlagen. Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Besserverdiener stärker in die Verantwortung zu nehmen, ist eine Frage der Fairness. Es braucht eine solidarische Lastenverteilung. Die Kunst besteht darin, dabei so zu reden, dass sich niemand von den eigenen Unterstützern angesprochen fühlt.

Die SPD hat gerade einen Steuerplan vorgelegt, wonach 95 Prozent der Bürger entlastet werden sollen. Weil auch die SPD spitzbekommen hat, dass der Metallschlosser bei VW kein Tagelöhner ist, sondern mit einem Teil seines Einkommens locker den Spitzensteuersatz erreicht, werden nun alle möglichen Verrenkungen unternommen, um die Sache schön zu rechnen.

Das Problem ist: So viele Reiche gibt es nicht, wie es bräuchte, damit es sich am Ende ausgeht. Der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel hat in schonungsloser Offenheit vorgerechnet, was eine Steuerreform, bei der dann 404000 Steuerpflichtige rund 41 Millionen Steuerzahler entlasten sollen, in der Praxis bedeutet. Selbst wenn man den Spitzensteuersatz für die Topverdiener um 10 Prozent erhöhen würde, käme für den Einzelnen nur eine Entlastung von 55 Cent am Tag heraus. Das klingt nicht nach einem Wahlkampfschlager.

Oder man setzt schon bei Leuten an, die 80000 Euro im Jahr verdienen – so sieht es eine Modellrechnung des Seeheimer Kreises, also des konservativen Flügels in der SPD, vor. Das würde die Einnahmebasis deutlich verbreitern. Aber dann ist leider auch der VW-Angestellte dabei.

In Wahrheit funktioniert der deutsche Sozialstaat wie ein institutionalisierter Hütchenspielertrick. Was zum Beispiel bei allen Debatten unter den Tisch fällt: Dass 40 Prozent des Lohns schon mal weg sind, bevor das Finanzamt überhaupt zugreifen kann. Diese Steuer heißt nicht Steuer, sondern Sozialabgaben, was zugegebenermaßen netter klingt, aber auf dasselbe hinausläuft.

Dass die meisten keine Ahnung haben, dass ihnen 40 Prozent vom Lohn abgezogen werden, verdankt sich einem Buchungstrick. Die Hälfte der Abzüge wird einfach als Arbeitgeberanteil ausgewiesen. Damit sieht es auf dem Lohnzettel so aus, als würde man sich die Kosten teilen. Aber das ist natürlich Mumpitz. Kein Arbeitgeber hat etwas zu verschenken. Gäbe es die 40 Prozent Sozialkosten nicht, läge der Bruttolohn entsprechend höher. Aus 2400 Euro würden, schwupps, 4000 Euro. Aus 4500 Euro mit einem Schlag 7500 Euro.

Ich würde meinen, ein Staat, der eine Billion Euro im Jahr an Steuern einnimmt, verfügt über genug Geld. Im Zweifel kann er sich sogar eine Reihe von Extravaganzen leisten. Wenn Politiker trotzdem von Notlage reden, dann, weil sie das Geld noch schneller zum Fenster herausreichen, als es durch die Tür hereinkommt.

Ein weiteres Problem ist, dass man laufend Gruppen findet, die bei jedem Sparpaket von vornherein ausgenommen sind. Rentner sind zum Beispiel schon mal tabu. Gerade hat die Regierung ein Rentenpaket auf den Weg gebracht, das die jüngeren Beitragszahler 300 Milliarden Euro kosten wird, zusätzlich zu den 140 Milliarden, die jetzt schon jedes Jahr aus Steuermitteln in die Rente fließen. Auch die Beamten dürfen auf umfassende Für- und Nachsorge vertrauen. Und natürlich alle, die beschlossen haben, dass man auch ohne geregelte Arbeit durchs Leben kommt.

Allein die Ausgaben fürs Bürgergeld liegen bei 42 Milliarden Euro, und da sind die neun Milliarden noch nicht mitgerechnet, die außer Plan dazu kommen, weil viele Leute es erkennbar anders sehen als unser Arbeitsminister, der sagt, man müsse doch bescheuert sein, wegen dem Bürgergeld seinen Job zu kündigen. Nee, sagen die sich: Man muss nicht bescheuert sein, man muss nur rechnen können.

Genau genommen ist es immer eine Gruppe, die es am Ende trifft, weil sie als einzige ohne mächtige Fürsprecher dasteht: Menschen, die nicht vom Staat abhängig sind, sondern auf eigenen Beinen stehen.

Auf Wirtschaftsveranstaltungen werden dem Bürger, der mit unermüdlichem Fleiß seinen Teil zum großen Ganzen beiträgt, schöne Kränze geflochten. Aber im Prinzip ist der fleißige Mensch verdächtig. Wer vom Staat keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Wer dem Staat aber nichts schuldet, vor dem muss man sich vorsehen, denn der könnte ja auf dumme Gedanken kommen. Zum Beispiel auf den Gedanken, dass es so viel Staat gar nicht braucht.

© Sören Kunz

Lob des Boomers

Der Boomer ist das Auslaufmodell der Politik: zu alt, zu weiß, zu fortschrittsfeindlich. Aber hat sich mal jemand die Wahlergebnisse angesehen? Es sind nicht die Jungen, es sind die Alten, die das Bollwerk der Demokratie sind

Der „Spiegel“ hat mit 20 Jahren Verspätung mit Thomas Gottschalk abgerechnet. Gottschalk findet Jimi Hendrix bedeutender als Tokio Hotel! Er beurteilt Frauen nach ihrem Äußeren! Außerdem hat er einmal Geri Halliwell von den Spice Girls ans Knie gefasst!! Seine Antwort, er habe Frauen im TV rein dienst- lich angefasst, hat auch nicht geholfen.

Wenn man genau hinsieht, legt Gottschalk Geri die Hand nicht aufs Knie, sondern auf ihre Hand, die auf dem Knie ruht. Aber das nützt ihm auch nichts mehr. Insbesondere „junge Menschen“ fänden das heute unangebracht, befindet der „Spiegel“ streng.

Ich habe Zweifel, dass sich sehr viele junge Menschen Ausschnitte von „Wetten, dass..?“-Sendungen anschauen. Selbst wenn sie es täten, haben sie vermutlich schon Schlim- meres gesehen. Das Verdikt bleibt: Gottschalk ist out.

Es gibt ein eigenes Genre der Generationenbetrachtung: die Boomerbeschimpfung. Zu weiß, zu alt und insgesamt nicht fortschrittlich genug, so lässt sich der Vorwurf gegen die zwischen 1950 und 1965 Geborenen zusammenfassen.

Außerdem haben sie in ihrer Blütezeit nicht bescheiden genug gelebt. Statt die Klimabilanz ihres frivolen Treibens zu bedenken, haben sie fröhlich Party gemacht. Sie haben sich an großen Autos erfreut. Sie sind um die Welt gejettet, um der Enge der deutschen Heimat zu entfliehen. Und mit den Anstandsregeln haben sie es auch nicht immer so genau genommen. Schmutzige Witze kommen vermutlich noch hinzu. Und Drogen!

Welche Spuren der Verwüstung der sorglose Lebenswandel angerichtet hat, kann man an allen Enden und Ecken besichtigen. Hätten sich die Boomer mehr am Riemen gerissen, würden heute nicht die Flüsse über die Ufer treten und sich die Meere erheben. So sieht’s aus!

Ich erkenne zwei Strategien der Gegenwehr. Die gängigste Strategie ist der Verjüngungsversuch durch Umarmung. Indem man noch jugendlicher aufzutreten versucht als die „jungen Menschen“, hofft man, dem Verdammungsurteil zu entkommen. Das lässt sich auch bei der Befassung mit Gottschalk beobachten. Es sind ja nicht Vertreter der Generation Z, die dem Fernsehmoderator sein Sündenregister vorhalten, sondern mehrheitlich Journalisten, die den 40. Geburtstag deutlich hinter sich haben.

Auch der „Spiegel“ ist nicht mehr der jüngste. Der typische Abonnent ist weiß, männlich und, Gott sei’s geklagt, ziemlich alt. Daher soll jetzt der „junge Mensch“ umworben werden, weshalb man neuerdings ganz viel über Gefühle schreiben lässt. Nicht sagen, was ist, sondern sagen, was das, was ist, mit einem macht – das ist der neue Zugang.

Der andere Weg, sich dem Urteil zu entziehen: Zerknir- schung. Das ist die Übung, in der es der langjährige stellvertretende „Zeit“-Chefredakteur Bernd Ulrich zum Vorreiter und Rollenmodell gebracht hat. Motto: Ich habe schrecklich gesündigt, aber jetzt sehe ich es ein und versuche, gut zu machen, was nicht mehr gut zu machen ist. Also: Lob der Leinsamen und Kleie angerührt mit Wasser und einem Schuss Sesamöl gleich zum Frühstück.

Ulrich ist Katholik. Da ist das Bußritual eingeübt. Notfalls zieht man sich mit drei Rosenkränzen und einem Luisa-Neubauer-Interview aus der Affäre. Wobei: Ich sollte mich nicht zu sehr über ihn lustig machen. Neubauer als Gegenüber ist wie Wasserfolter. Unter allen Heimsuchungen, die einem der Wind des Netzes in die Timeline weht, ist sie eine der größten. Die Mischung aus Besserwisserei, Höhere-Töchter-Haltung und Kosmo-Kauderwelsch ist einzigartig – und auch einzigartig nervig.

Die Wahrheit ist: Boomer sind die Verteidiger der Demokratie, das letzte Bollwerk gegen rechts. Haben sie in den Redaktionen, in denen man missmutig ihre Vergehen zusammenzählt, mal drauf geschaut, wer in Brandenburg dem SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke den Hintern gerettet hat? Nein, es waren nicht die „jungen Menschen“, von denen der „Spiegel“ gerne mehr Leser hätte. Die haben mehr- heitlich für die AfD gestimmt. Es war die Generation Thommy, die Woidke vor dem Fall bewahrt hat.

In keiner Altersgruppe schneiden Weidel und ihre Leute so schlecht ab wie bei der Gruppe 65 plus. Gäbe es die Alten nicht, die AfD läge bundesweit über 20 Prozent. Es wird viel über das demografische Übergewicht der Boomer geklagt. Auf Jahre werden sie noch die Politik bestimmen, einfach, weil es von ihnen so viele gibt. Ich kann nur sagen: Gut, dass sie und nicht die Generation Z die Mehrheit stellen. Wäre es andersherum, müsste man sich um die Demokratie wirklich Sorgen machen.

Es sind übrigens auch die Boomer, die in München zum Jahrestag des 7. Oktober am Odeonsplatz stehen, um den jüdischen Nachbarn zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. In der ersten Reihe: Uschi Glas, Michaela May und der Kabarettist Christian Springer. Ja, Uschi Glas, die gerne wie Thomas Gottschalk wegen ihrer angeblich altbackenen Ansichten verspottet wird. Aber wenn’s drauf ankommt, ist auf sie, im Gegensatz zu vielen Klima-Vorturnern, halt Verlass.

Es ist kein Zufall, dass die alte Bundesrepublik zusammen- steht, wenn es darum geht, die republikanischen Werte zu verteidigen. In der Generation, die mit Willy Brandt aufgewachsen ist, hat man noch eine ordentliche Antifa-Schluckimpfung bekommen. Das wirkt bis heute nach.

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich erinnere mich noch genau, wie mich meine Mutter eines Abends zu sich rief – ich war gerade in der 4. Klasse vorgerückt –, um mich im ernsten Ton zu fragen, ob ich schon einmal etwas von Adolf Hitler gehört habe. Das sei ein sehr böser Mann gewesen. Er habe den Krieg angefangen und KZ bauen lassen und dafür gesorgt, dass die Juden getötet wurden.

Dann machte sie eine Pause und sah mich aufmerksam an: Wir müssten jetzt alle gemeinsam dafür sorgen, dass sich das nie wiederhole. Ich hatte bis zu diesem Augenblick noch nie von Juden gehört. Ich hatte auch keine Vorstellung, was ein KZ ist. Aber natürlich nickte ich.

Es gab nur zwei weitere Gelegenheiten, bei denen mich meine Mutter auf ähnliche Weise ins Gebet nahm: Das eine Mal, als sie mich vor „Mitschnackern“ warnte, wie bei uns im Norden Männer hießen, die sich an kleinen Kindern vergingen. Das andere Mal ging es um Drogen und wie sie einem für immer das Leben ruinierten.

Hitler, Heroin und Päderasten – damit war aus Sicht meiner Mutter das Wesentliche abgedeckt, um vorerst unbeschadet durchs Leben zu kommen. Was die Drogen und die Mitschnacker anging, war die Handlungsanweisung einfach: Halt dich einfach von Ihnen fern. Wie ich allerdings dafür sorgen sollte, dass sich Hitler nicht wiederholte, war schwerer zu sagen.

Als ich später die Geschichte der Anne Frank las, hatte ich zwar noch immer keine Vorstellung, wie wir diesmal den Nationalsozialismus besiegen würden. Dafür wusste ich nun, was anschließend zu tun war. Ich malte mir aus, wie jemand bei uns klingeln und um Versteck bitten würde. Ich hatte keinen Zweifel, dass wir Annes Nachfolgerin ohne Zögern einlassen würden. Ich hoffte nur, dass sie in meinem Alter war.

Selbstverständlich ist es auch die bundesrepublikanische Aufbaugeneration, die für ein angemessenes Gedenken gesorgt hat, gegen vielfältige Widerstände. Dass in Berlin an zentraler Stelle das Holocaust-Mahnmal steht, ist ganz wesentlich der Journalistin Lea Rosh zu verdanken, SPD-Mitglied seit 1968. Allen, die gegen das Denkmal waren, hätte ich gleich sagen können, dass es keinen Sinn hatte, sich querzustellen.

Auch in dem Fall weiß ich, wovon ich rede. Lea war eine gute Freundin meiner Eltern. Wenn sie bei uns mit großer Geste reingeschneit kam, verstummte sogar meine Mutter, und das will einiges heißen. Und heute? Wissen die jungen Menschen nicht mal mehr zu sagen, was der Holocaust war. 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 34 Jahren antworten auf die Frage, was ihnen dazu einfällt, mit einem Fragezeichen.

Vielleicht sollte man die Rente einfach umbenennen – in Demokratieabgabe. Es ist wie mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Es ist teuer, es ist lästig, aber am Ende sollte man froh sein, dass es das System gibt.

© Silke Werzinger

Der Tabubruch

Erst spricht Cem Özdemir darüber, wie seine Tochter von migrantischen Männern begafft und angegangen wird. Dann berichtet Kevin Kühnert über Anfeindungen durch muslimische Männergruppen. Bricht ein Damm?

Ein Minister schreibt einen Text zu einem wahlentscheidenden Thema. Er berichtet über persönliche Erlebnisse. Er schildert, wie ihn seine 18-jährige Tochter mit Erfahrungen, die ganz andere sind als seine, zum Nachdenken gebracht hat. Es ist ein ruhiger, abgewogener Text, der um die richtigen Worte ringt. Dann bricht der Sturm los.

Der Politiker wird als Rassist und Sexist beschimpft, ein namhafter Professor nennt ihn „ein Gesicht der völkischen Wende“. Man bezichtigt den Minister, den Rechtsruck in Deutschland zu verstärken und damit die Angst von Millionen von Migranten.

Was ist sein Verbrechen, was hat der Mann geschrieben? Er hat sich das Recht herausgenommen, darauf hinzuweisen, dass es beim Thema Einwanderung nicht nur ein Problem mit Rechtsradikalen gibt, die keine Fremden dulden wollen, sondern auch mit jungen muslimischen Männern, die Deutschland und seine Regeln verachten.

„Meine Tochter macht im nächsten Jahr ihr Abitur. Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“, schrieb der Autor, Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, in einem Gastbeitrag für die „FAZ“.

„Gegen solche Übergriffe hat sie sich, wie viele Frauen, das sprichwörtliche dicke Fell zugelegt. Doch ich spüre, wie sie das umtreibt. Und wie enttäuscht sie ist, dass nicht offensiver thematisiert wird, was dahintersteckt: die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen muslimisch geprägten Ländern.“

An der Aufregung über diese Zeilen lässt sich ermessen, welcher Tabubruch es ist, wenn ein Politiker aus der Phalanx derjenigen ausschert, die sagen, dass nie die Zuwanderer, sondern immer nur die Mehrheitsgesellschaft das Problem sei. Schon die Überschrift empfanden viele als Provokation. „Sprache, Arbeit und Gesetzestreue“, stand über dem Text. Das reichte, um Özdemir vorzuwerfen, er stelle sich nach rechts, wie es in einem Kommentar in der „taz“ anklagend hieß.

Ja, was denn sonst, möchte man rufen: Ist es etwa nicht wünschenswert, wenn die Leute, die dauerhaft bei uns leben wollen, die deutsche Sprache erlernen, einer geregelten Arbeit nachgehen und sich an die Gesetze halten? Aber so kann man das offenbar nur außerhalb der engen „taz“-Welt sehen.

Ich dachte, wir wären weiter. Ich ging davon aus, es gäbe inzwischen auch im linken Lager ein Problembewusstsein. Ich habe mich wohl getäuscht.

Bloß nicht genauer hinsehen, lautet die Devise, sonst hilft man den Falschen. Was nicht ins Weltbild passt, wird zum „Narrativ“ erklärt, also zur Fiktion. Die Offenheit von Leuten wie Özdemir bediene „rechte Narrative“, lautet ein gängiger Vorwurf. Wo alles zur Erzählung wird, löst sich die Wirklichkeit auf – was den Erzählfluss stört, lässt man einfach unter den Tisch fallen. Das ist ja der Vorteil der Fiktion, sie folgt dem Willen des Erzählers.

Das Verrückteste dabei ist: Die Leute, für die man sich in die Bresche wirft, haben es vor allem auf Menschen abgesehen, die im Zweifel grün wählen. Wen verachtet der syrische Scharia-Anhänger am meisten? Den katholischen Reaktionär, der findet, dass der eigentliche Platz einer Frau bei den Kindern sei? Eher nicht. Es ist kein Zufall, dass sich der Täter von Solingen ein Volksfest aussuchte, das als „Festival der Vielfalt“ beworben wurde. Nichts hassen islamistische Messermänner mehr als Vielfalt, also genau das, worauf man im rot-grünen Milieu so stolz ist.

Ich glaube, man kann diese Verdrängung nur psychopathologisch erklären. Aus der Forschung kennt man auch das Phänomen von Frauen, die sich in Verbrecher verlieben. Je schlimmer die Tat, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter im Gefängnis Liebesbriefe erhält.

Worauf man sich hingegen jederzeit einigen kann: dass Männer an sich ein Problem seien. So flötet es aus dem Blätterwald. So erklärt es die Familienministerin, wenn sie dazu Stellung nehmen soll, dass ein Syrer in Essen insgesamt 31 Menschen verletzte, weil er über die Trennung von seiner Frau nicht hinwegkam. Wäre man Spötter, würde man sagen, dass es eher selten vorkommt, dass Yannick und Finn zur Machete greifen. Aber schon so eine Anmerkung ist geeignet, einen in Teufelsküche zu bringen.

Das seien Stereotype, heißt es. Klar, was sonst? Aber es ist das Wesen eines Stereotyps, dass es eben nicht ganz falsch ist. Wäre es ganz falsch, hätte es sich nicht etablieren können. Selbstverständlich träumen nicht alle afghanischen Männer von einer Frau als Haussklavin. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie davon träumen, ist erkennbar höher als bei Jungs, die einem normalen deutschen Mittelschichtshaushalt entstammen.

Wer nicht genau hinsehen mag, dem fällt auch nichts ein, was man besser machen kann. Entsprechend unbeholfen fallen die Empfehlungen aus. Die Männer sollten in sich gehen und an sich arbeiten, stand neulich allen Ernstes in einem viel beachteten Text im „Spiegel“. Ich dachte erst, das sei Satire – bis ich feststellte, dass die Autorin das wirklich so meinte.

In sich gehen und an sich arbeiten? Ich sehe den jungen Talahon vor mir, wie er sich sagt: „Ich habe diesen aufrüttelnden Text im ‚Spiegel‘ gelesen. Ich weiß jetzt, welches Unglück ich und meine Geschlechtsgenossen über den weiblichen Teil der Welt bringen. Ich muss wirklich mal an mir und meiner toxischen Männlichkeit arbeiten.“ So wird es kommen, da bin ich ganz sicher.

Besonders unnachsichtig reagiert das Milieu auf Abweichler aus den eigenen Reihen. In einem verrückten Twist geht es jetzt auch gegen migrantische Frauen, die sich die Nachstellungen durch muslimische Männer nicht länger gefallen lassen wollen. Die Studentin Ninve Ermagan hat beschrieben, auf welche Ablehnung sie stößt, wenn sie von unangenehmen Erfahrungen berichtet. Das ist umso verblüffender, wenn man bedenkt, wie ungnädig gerade im linken Milieu normalerweise auf jede Grenzüberschreitung im Geschlechterverhältnis reagiert wird. Aber in diesem Fall: grenzenlose Toleranz.

Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, weiß, vor wem er sich vorsehen muss und vor wem nicht. Schwulen Männern zum Beispiel muss man nicht lange erklären, wo es angeraten ist, sich in der Öffentlichkeit besser unauffällig zu verhalten.

Der Illustrator dieser Kolumne lebt in Köln-Kalk, einem stark migrantisch geprägten Viertel. Er hat sich vorgenommen, die Sehgewohnheiten zu ändern, wie er sagt, das sei sein Beitrag zur Vielfalt. Also zieht er sich hin und wieder Strumpfhose an und stöckelt durch sein Quartier, vorbei an den Döner-Läden und Shisha-Bars. Bislang ist nichts passiert. Ein paar spöttische Bemerkungen, das war’s. Aber wir waren uns einig, dass es Mut braucht, so aufgetakelt durch die Gegend zu staksen.

Mal sehen, wie lange der Schweige-Damm hält. Wenige Tage nach Cem Özdemir meldete sich der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu Wort. Dabei kam die Sprache auch auf die Anfeindungen, denen er als schwuler Mann von muslimischen Männergruppen ausgesetzt ist. „Natürlich ist der Großteil der Muslime in meinem Wahlkreis nicht homophob. Aber die, die es sind, schränken meine Freiheit ein und haben kein Recht darauf. Und darüber werde ich nicht aus taktischen Gründen schweigen.“

Mag sein, dass Kühnert offen sprach, weil er wusste, dass er ein paar Tage später von allen Ämtern zurücktreten würde. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, dass er einfach die Nase voll hatte, weiter aus Rücksicht auf die Krakeeler am linken Rand den Mund zu halten.

Wenn man sich zweimal überlegen muss, ob man mit seinem Partner Hand in Hand durch die Stadt geht, ist das nicht mehr das Land, für das man als Politiker angetreten war. Wie Cem Özdemir in der „FAZ“ schrieb: Etwas hat sich verändert.

© Michael Szyszka

Das wird man ja wohl wieder sagen dürfen

Warum fühlen sich so viele Menschen zur AfD hingezogen? Weil sie Probleme anspricht, die andere nicht anzusprechen wagen? Auch das. Aber der wahre Reiz ist die Enthemmung: Sich keinen Zwang mehr antun müssen, das ist der Kick

Der wahre Charakter zeigt sich in der Niederlage, heißt es. Manchmal zeigt er sich auch in der Stunde des Triumphs.

Erinnern Sie sich noch, als Angela Merkel dem damaligen CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe nach der Bundestagswahl 2013 die Deutschlandfahne aus der Hand nahm? Der arme Tropf hatte sich auf der Siegesfeier das Fähnchen geschnappt und lief damit fröhlich singend über die Bühne im Adenauerhaus. Erst fing er sich einen missbilligenden Blick seiner Chefin ein, dann nahm sie ihm das Fähnchen aus der Hand und gab es einem Mitarbeiter zur Entsorgung.

Das war Merkel in a Nutshell, wie man so schön sagt: Immer darauf bedacht, bloß kein Aufsehen zu erregen. Wann immer in den nächsten Jahren ihr Verhältnis zu Volk und Nation zur Sprache kam, war dieser Clip nicht weit.

Die AfD in Brandenburg konnte vor zwei Wochen ebenfalls einen großen Sieg feiern. Fast 30 Prozent der Stimmen, so viel wie noch nie. Freudetrunken lagen sich die Anhänger in den Armen und sangen zu dem Partysong „Wir feiern die ganze Nacht”: „Hey das geht ab, wir schieben sie alle ab, sie alle ab.“ Ein Partygast hielt ein Schild mit der Aufschrift „Millionenfach abschieben“ hoch. Was einem bei der AfD halt so als Erstes in den Sinn kommt, wenn alle Anspannung des Wahlkampfs von einem abgefallen ist.

Millionenfach? Hat sich die Partei nicht gerade vehement gegen die Vermutung gewehrt, bei ihren Remigrationsplänen seien mehr als die Ausreisepflichtigen gemeint? Nach Stand der Lage wären das 44000 Menschen. In Brandenburg sieht man das offenbar nicht so eng. Da wäre man gerne alle los, die anders heißen und anders aussehen als Franz und Anna von der Jungen Alternativen.

So ist es immer bei der AfD. Jemand krakeelt eine wüste Parole oder macht eine anzügliche Geste: klar nicht schön, heißt es anschließend, aber man dürfe doch vom Einzelfall nicht aufs Ganze schließen. Nie schreitet jemand ein und unterbindet den Spuk. Schuld durch Unterlassung würde man das im Strafrecht nennen.

Es ist eigenartig, die meisten Rechtsparteien in Europa gehen den Weg der Verbürgerlichung. Nur die AfD treibt es immer weiter an den Rand. Ihr Spitzenpersonal möchte ums Verrecken gerne bürgerlich wirken, nur, so ist es nicht. In keiner Partei ist die Anzahl der Perlenketten und Einstecktücher höher. Gäbe es in der Politik einen Krawatten-Index, die AfD würde mühelos gewinnen.

Aber niemand scheint den Leuten an der Spitze gesagt zu haben, dass zum bürgerlichen Habitus auch gehört, dass man nicht einfach herausplärrt, was einem so durch den Kopf schießt. Nicht wildes Gehabe und Getobe, sondern Contenance und Selbstbeherrschung gehören traditionell zu den bürgerlichen Werten.

Warum fühlen sich so viele Menschen zur AfD hingezogen: Weil sie Probleme anspricht, die andere sich nicht anzusprechen trauen? Auch das. Aber ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass der eigentliche Grund für eine große Zahl von Anhängern die Enthemmung ist. Sich keinen Zwang mehr antun müssen, darin liegt der große Reiz.

„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, stand auf den Plakaten, mit denen der PEN Berlin für eine Veranstaltungsreihe im Osten warb. Es wurde dann auch gesagt, was man noch alles sagen darf, das war das Gute. Ich konnte mich im Staatstheater Cottbus davon überzeugen, wo ich zwei Wochen vor der Brandenburg-Wahl mit der Bestseller-Autorin Jana Hensel über die Grenzen der Meinungsfreiheit debattierte.

Bei der AfD lautet der Satz hingegen: „Das wird man ja wohl wieder sagen dürfen.“ Das hat sie allen anderen voraus. Man darf zum Beispiel sagen, dass Reinhard Heydrich, der Mann, der als „Schlächter von Prag“ in die Geschichte einging, eine kluge Politik in der damaligen Tschechoslowakei gemacht habe. Man darf Gesetze loben, die es Schwulen untersagen, ihre Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man darf SA-Parolen verkünden, beim Besuch von Konzentrationslagern demonstrativ Kleidung mit Nazi-Symbolen tragen und dem Juden Michel Friedman eine baldige Abreise aus Deutschland empfehlen. Man darf sich sogar einen weiteren Holocaust wünschen, dieses Mal für die Ausländer, die ins Land kommen.

All das und vieles mehr ist in der AfD möglich. Es existieren inzwischen lange Listen mit besonders auffälligen Zitaten. Nicht alle Sätze lassen sich eindeutig zuordnen, manches ist verkürzt oder fehlerhaft wiedergeben. Aber das meiste stimmt. Wenn selbst Marine Le Pen auf Distanz geht, dann weiß man, dass man wirklich ganz weit außen angekommen ist.

Von dem amerikanischen Psychologen Arthur Janov stammt das Konzept der sogenannten Urschrei-Therapie. In der Therapiesitzung lernen die Patienten, sich von frühkindlichen Verletzungen und Traumata zu befreien, indem sie sich die Frustration von der Seele brüllen. AfD ist wie politischer Urschrei. Einfach mal die Sau rauslassen, vielleicht fühlt man sich anschließend ja besser.

Wo wollen sie bei der AfD damit hin? Alle rätseln jetzt, welchen Plan Björn Höcke hat. Aber hat er überhaupt einen? Am Wochenende konnte man in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ lesen, dass er hin und hergerissen ist zwischen dem Verbleib in Thüringen und dem Wechsel nach Berlin. Er sei müde und ausgelaugt, hieß es in dem Text, Weggefährten sprechen von Schwermutsanfällen, die ihn lähmen würden. Das klingt nicht nach einem Plan.

Man kann sich auch zu Tode siegen. Wer sich so aufführt wie die AfD, fällt als Koalitionspartner aus. Da braucht es gar keine Brandmauer, das sagt einem der politische Verstand. Der einzige Weg an die Macht führt für die AfD über eine eigene Mehrheit. Aber bis es so weit ist, vergeht selbst im Osten noch einige Zeit. Vier von fünf Wahlberechtigten haben in Brandenburg nicht für die AfD gestimmt, wie der unnachahmlich nüchterne Forsa-Chef Manfred Güllner vorgerechnet hat. Das sollte man bei aller Aufregung nicht vergessen.

Die Deutschen sehnen sich nach Stabilität. Umsturz ist nicht ihre Sache, da könnte ja der Vorgarten Schaden nehmen. Bevor er einen Bahnhof stürme, löse der Deutsche erst einmal eine Bahnsteigkarte, spottete Lenin. Einmal haben sie das anders gesehen, und einen zum Führer gemacht, der dann dafür sorgte, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Das möchte man nicht noch mal erleben.

Der Witz ist, dass nicht einmal die AfD-Anhänger wollen, dass die Leute, die sie wählen, dann auch regieren. Es geht darum, Rabatz zu machen. Das muss man sich allerdings leisten können. Solange das Land einigermaßen stabil ist, kann man auch für Politiker stimmen, die mit allem abrechnen wollen. Es kostet ja nix. Mal sehen, ob das noch funktioniert, wenn sich die ökonomische Lage eintrübt.

Zwei Dinge haben mich überrascht. Ich dachte immer, das Landleben habe eine beruhigende Wirkung. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Im sogenannten ländlichen Raum ist die AfD im Osten inzwischen so dominant, dass man kilometerweise kein anderes Plakat sieht.

Eine andere Auffälligkeit: Wer einmal den Schritt zur AfD gemacht hat, kommt nicht mehr zurück. Alle Parteien haben an die Konkurrenz Stimmen abgegeben, wie die Schaubilder zur Wählerwanderung zeigen. Die einzige Partei, an die die AfD Stimmen verloren hat, ist das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ansonsten: keine Verluste, nichts.

Das lässt den Schluss zu, dass der Wechsel zur AfD wie ein Schritt auf die andere Seite ist. Was die Aussicht angeht, Wähler zurückzugewinnen, bin ich deshalb eher skeptisch. Was den etablierten Parteien gelingen kann: Dass sie nicht noch mehr verlieren. Vielleicht sinken Leute, die von der AfD enttäuscht sind, auch irgendwann ins Lager der Nichtwähler zurück. Aber dass sich eine nennenswerte Zahl wieder von CDU, SPD oder Grünen begeistern lässt, halte ich für nahezu ausgeschlossen.

Das ist wie bei Alkoholikern: Wer einmal drauf ist, der ist drauf. Dem hilft auch kein Zureden. Er kann es schaffen, trocken zur werden, aber Alkoholiker bleibt er. Deshalb lautet ja auch mein Rat: Halte Dich von den Drogen fern.

© Sören Kunz

Täter-Opfer-Umkehr

Was sagt man, wenn ein Terrorist umfällt, weil in seiner Hosentasche ein Pager explodiert: „Wie gut, jetzt kann er niemandem mehr schaden“? Nein, man sagt: „Wie furchtbar, das ist ein gefährlicher, heimtückischer Anschlag“

Darf man sich über den Tod von Menschen freuen? Knifflige Frage. Die Ausschaltung einer ganzen Reihe von Hisbollah-Mitgliedern mittels Pager hat links der Mitte Bestürzung ausgelöst. Der Angriff sei völkerrechtswidrig und gefährlich, erklärte die Politikwissenschaftlerin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung im Interview bei Phoenix.

„In Deutschland leben knapp 200000 Menschen mit libanesischer Staatsangehörigkeit oder libanesischem Migrationshintergrund“, schrieb der Berliner Grünen-Abgeordnete Daniel Eliasson. „Findet die deutsche Politik einen Umgang mit den aktuellen Ereignissen, die den Ängsten und evtl. auch Traumata dieser Menschen empathievoll begegnet?“

Meine erste Reaktion war Bewunderung. Als ich die Bilder aus einem Supermarkt sah, in denen ein Pager in der Tasche eines Hisbollah-Kämpfers explodierte, dachte ich: Respekt, was für eine irre Aktion. Da ich meine Bewunderung nicht für mich behielt, kamen auch Zurechtweisungen.

Das sei zynisch und menschenverachtend, hieß es. Es folgte eine lange Standpauke auf dem Mediendienst „Übermedien“, der in meiner Branche so etwas wie das Wort zum Sonntag ist: Gerade Menschen, die in der Öffentlichkeit stünden und über eine große Reichweite verfügten, sollten wissen, dass es jeder Anstand verbiete, sich über den Tod von Menschen lustig zu machen.

Ich habe dann noch mal in mein Herz gesehen. Ich habe geschaut, ob ich nicht doch so etwas wie Mitgefühl für die Hisbollah habe. Das Ergebnis ist: leider nein. Wenn es einen Terroristen erwischt, egal wo auf der Welt, finde ich, dass die Welt ein Stück besser geworden ist. Wenn es 3000 Terroristen auf einmal den Boden unter den Füßen wegzieht, ist sie ein großes Stück besser geworden.

Es sind wahrscheinlich auch ein paar Leute zu Schaden gekommen, die nichts direkt mit der Hisbollah zu tun haben. Ein Mädchen wurde angeblich getötet, als sie ihrem Vater den Pager brachte, der plötzlich klingelte. Aber alles in allem war der Angriff erstaunlich präzise.

Ich habe mir das Video aus dem Supermarkt noch einmal angesehen. Direkt neben dem Terroristen, der sich plötzlich schreiend auf dem Boden wälzt, steht jemand, der einen Moment braucht, bis er begreift, was geschehen ist. Keine einzige Tomate am Gemüsestand bekommt auch nur eine Delle. Vermutlich handelt es sich bei der Pager-Attacke um die präziseste Anti-Terror-Maßnahme in der Geschichte der modernen Kriegsführung.

Woher kommt dieses Mitleid mit Terroristen? Die Hisbollah ist eine wirklich finstere Truppe. Die Blutspur dieser Schattenarmee der iranischen Mullahs zieht sich rund um den Globus. Bei Selbstmordanschlägen gegen amerikanisches Botschaftspersonal kamen über 60 Menschen ums Leben. 1985 und 1986 bombte die Hisbollah in Paris. 1994 traf es ein jüdisches Zentrum in Buenos Aires, mit 85 Toten und Hunderten Verletzen der tödlichste Terroranschlag in der Geschichte Argentiniens.

Was ihre ideologischen Ziele angeht, sind die Anhänger der Hisbollah von den Taliban nicht weit entfernt. Sie hängen nicht nur der Überzeugungen an, dass nur ein toter Jude ein guter Jude ist, auch Frauen- und Minderheitenrechte sind für sie ein gefährlicher Irrglaube, der entschieden bekämpft werden muss.

Ich habe neulich ein Interview mit einem theologischen Führer gesehen, in dem dieser gefragt wurde, ob er es noch für zeitgemäß halte, dass ein neunjähriges Mädchen mit einem 30 Jahre älteren Mann verheiratet werde. Natürlich, antwortete der heilige Mann: Der Prophet, gepriesen sei sein Name, habe schließlich mit Aischa auch eine Neunjährige zur Braut genommen. Das ist der Mindset der Leute, die in die Luft geblasen wurden: Zurück ins 6. Jahrhundert – und dann ist alles wieder gut. Dennoch herrscht großes Wehklagen über das Vorgehen des israelischen Militärs.

Wie lässt sich das erklären? Nach dem zu urteilen, was die Leute so posten, sieht ein beachtlicher Teil der arabischen Community in Deutschland die libanesische Terrormiliz als Kämpfer für die richtige Sache. Wäre ich Verfassungsschützer, würde ich da mal ein Auge draufhaben. Interessanterweise geht die Sympathie über den Kreis der üblichen Verdächtigen aber hinaus. Darauf deutet die Beharrlichkeit, mit der bei den Pager-Opfern von „Zivilisten“ gesprochen wird, so als handele es sich bei den Milizionären um unschuldige Taxifahrer und Gemüsehändler, die plötzlich aus dem Leben gerissen wurden.

Dass gerade die linke Öffentlichkeit terroristische Gewalttäter ins Herz schließt, ist kein ganz neues Phänomen. Anders als der Gewohnheitskriminelle, für den man sich links der Mitte nie groß interessierte, steht der Überzeugungstäter dort hoch im Kurs.

Als die erste Generation der RAF auf der Anklagebank Platz nahm, sah die linksliberale Öffentlichkeit in Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof nicht Mörder und Brandstifter, sondern empfindsame junge Menschen, die erst die überzogene Reaktion des Staates in den Untergrund getrieben hatte. Die Anteilnahme mündete in dem Vorwurf, dass der „hochgepuschte Apparat“ der Fahndungsmacht die Revolutionäre nicht so gelassen habe, wie sie es gewollt hätten. Oder wie es Jan Philipp Reemtsma spöttisch formulierte: Wenn der Staat die RAF in Ruhe gelassen hätte, könnte sie heute noch stadtteilbezogen Bomben legen und Geiseln nehmen.

Das Motiv des Terroristen wider Willens findet sich auch in der Befassung mit den libanesischen Glaubenskriegern wieder. Würde der israelische Staat seine Gegner nicht so rabiat verfolgen, müssten sie sich nicht bis an die Zähne bewaffnen, so die Lesart. Dass die Hisbollah allein seit Januar 15000 Raketen auf israelisches Staatsgebiet gefeuert hat, davon ist selbstverständlich nie die Rede. Ebenso wenig wie von der Tatsache, dass hunderttausend Israelis ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten, um dem Raketenterror zu entkommen.

Ich empfehle, sich Fotos anzuschauen, wie der Libanon aussah, bevor die Islamisten das Ruder übernahmen. Bis in die sechziger Jahre galt Beirut als das Paris des Nahen Ostens. Dann verlor die christliche Mehrheit die Kontrolle und das Land kippte ins Chaos. Heute ist der Libanon ein besonders eindrückliches Beispiel, was passiert, wenn der Islam regiert. Der ulkigste Vorwurf lautet deshalb, die Bewunderung für die technische Raffinesse der Pager- Attacke sei im Kern rassistisch, weil sie die angebliche Zurückgebliebenheit der arabischen Welt betone.

Die progressive Linke hat keine Vorstellung mehr vom Bösen, das ist ihre große Schwachstelle. Sie hält es für eine antiquierte Kategorie, überwunden im Prozess der Zivilisation. Der einzige Bereich, wo das Böse überlebt hat, sind die Vorstandsetagen. Spitzenmanager können tausendmal erklären, dass sie eine schwere Kindheit hatten: Es wird ihnen nichts nützen. Ansonsten ist Vorsicht geboten, denn das vorschnelle Urteil fällt schnell auf den Urteilenden zurück.

Max Goldt hat das Prinzip in einer seiner Kolumnen wie folgt beschrieben: „Darf man etwas gegen Drogenabhängige sagen? Ich glaube nicht. Man muss sagen: ‚Das kann doch jedem passieren, die armen Hascherl, sie sind ja nur Opfer, gebt ihnen Methadon, man darf sie nicht kriminalisieren etc.‘, auch wenn man im gleichen Augenblick denkt: ‚Mir würde das nie passieren, sie sind selbst schuld, sie sind nicht Opfer, sondern Täter, wegen ihrer ständigen Wohnungseinbrüche habe ich mir eine sündhaft teure Stahltür mit Stangenschloss anschaffen müssen etc.‘ Sagen darf man das aber auf keinen Fall! Rohes Reden darf niemals geduldet werden!“

Also wenn das nächste Mal ein Terrorist umfällt, weil in seiner Hosentasche ein elektronisches Gerät explodiert, mit dem er Kontakt zu seiner Terrorzentrale hält, sage ich nicht: „Gott sei Dank, so kann er nicht länger unschuldige Menschen in die Luft jagen.“ Ich sage: „Wie furchtbar, das ist ein ganz heimtückischer Anschlag. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sich der Mann in einem Flugzeug befunden hätte. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und absolut zu verurteilen.“

© Silke Werzinger

„Ich bin wütend“

Weil er die Messermänner nicht loswird, schnappt sich der Staat Menschen, die niemandem etwas Böses getan haben: Das ist die deutsche Abschiebepraxis. Es ist zum Haareraufen. Und es wird noch schlimmer werden

Drei Geschichten aus der vergangenen Woche.

Der 24-jährige Tunesier Adem Saadoui hat es in nur acht Monaten vom Schweißer-Lehrling zum Gesellen gebracht. „Ohne Adem kann ich bei der Schweißwerkstatt Insolvenz anmelden“, sagt sein Chef. Den Deutsch-Test bestand Saadoui mit 146 von 165 Punkten. Neben seiner Arbeit engagiert er sich ehrenamtlich als Fußballcoach und im Seniorenheim. Seit Ende August gilt ein Beschäftigungsverbot, so hat es die Ausländerbehörde Magdeburg verfügt. Weil er illegal nach Deutschland einreiste, droht jetzt die Abschiebung.

Vor neun Jahren kam die Japanerin Mitzuki Ikeya zum Orgelstudium nach Stuttgart. Sie spricht perfekt Deutsch und bestreitet ihren Lebensunterhalt als Kirchenmusikerin und Klavierlehrerin. Dem deutschen Staat ist sie noch nicht einen Tag zur Last gefallen. Jetzt erhielt die Musikerin Post von der Stadt Stuttgart: Die Aufenthaltsgenehmigung sei hiermit erloschen und damit das Recht, in Deutschland zu bleiben.

Vor dem Amtsgericht Hannover begann das Verfahren gegen Mustafa H. Der Mann aus Somalia war angeklagt, Mitarbeiter des Ordnungsamtes bedroht zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass Mustafa H. vor Gericht stand. Sein Strafregister umfasst 15 Einträge – Exhibitionismus, Körperverletzung, Diebstahl. Seit drei Jahren ist der Flüchtling ausreisepflichtig, aber weil die nötigen Papiere fehlen, verfügt er über eine Duldung. Daran wird auch das neue Verfahren nichts ändern. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Monaten Haft. Bis zum Haftantritt ist Mustafa H. auf freiem Fuß.

Fester Wohnsitz, fester Arbeitsplatz, gut integriert: Du musst leider gehen. Arbeitslos, mal hier, mal dort wohnhaft und für Deutschland nur Verachtung: Du kannst bleiben. Das ist die deutsche Abschiebepraxis.

Es ist zum Haare raufen. Wird sich daran etwas ändern? Nein, im Gegenteil – es wird schlimmer werden.

Die Politik hat die Erwartung geweckt, sie könne das Mi- grationsproblem durch Abschiebung lösen. Also wird jetzt abgeschoben. Was macht der brave Polizeibeamte, dem sein Innenminister im Nacken sitzt, er müsse die Quote verbessern? Er sucht sich diejenigen, deren er habhaft werden kann. Und das ist in der Regel eben nicht der mehrfach Vorbestrafte, der sich nicht mehr erinnern kann, wo er geboren wurde und wie er heißt. Es ist die brave Musikerin, die nie auf die Idee käme, sich der Ordnungsmacht zu widersetzen.

Man soll sich nicht täuschen: Die himmelschreiende Ungerechtigkeit macht etwas mit den Menschen in Deutschland. Wo offenkundig Unrecht geschieht, versiegt der Glaube an den Staat. Was übrig bleibt, ist Wut. Genau das ist die Reaktion vieler. „Wer Vergewaltiger, Mörder und Messermänner nicht abschieben kann, schnappt sich eben Menschen, die niemandem etwas Schlechtes getan haben. Ich bin wütend“, schrieb der Blogger Ali Utlu.

Warum gelingt es uns nicht, zu unterscheiden? Weil wir nicht unterscheiden wollen. Vor dem Asylgesetz sind alle gleich, das ist der Grundsatz, der eisern verteidigt wird. Aber wie alle Gleichheitsversprechen ist auch dieses eine Fiktion.

Wo es keine Rolle spielt, ob jemand dazugehören will, weil ja niemand illegal ist, wie der schöne Satz heißt, entscheiden am Ende die besseren Anwälte und die besseren Nerven über den Verbleib im Land. Das Asylsystem ist darauf ausgelegt, die Cleveren und Trickreichen zu bevorzugen, die mit den gewiefteren Ausreden und Schutzbehauptungen, nicht die Fleißigen und Braven, die es zu etwas bringen wollen und sich deshalb an die Regeln halten.

Wie sieht die Praxis aus? Ich habe vergangene Woche länger mit einem Polizeibeamten gesprochen, der für die Sicherung unserer Grenze zuständig ist. Wir waren beide an der neuen Schule meiner Tochter zum Elterndienst eingeteilt, da kommt man ins Gespräch.

Bislang läuft es so: Greift die Polizei einen Flüchtling beim Grenzübertritt auf, fragt sie nach den Papieren. Jetzt kommt es darauf an. Äußert der Aufgegriffene das Wort Asyl, bringen ihn die Beamten zur nächsten Aufnahmeeinrichtung. Wer sich nicht ausweisen kann, weil er angeblich seine Ausweispapiere verloren hat, ist ebenfalls erst einmal sicher. Bei den armen Kerlen, die sich aus irgendeinem Grund weder auf Asyl noch den Verlust ihres Ausweises berufen, werden die Kollegen in Österreich angefunkt, mit der Bitte den Flüchtling zurückzunehmen. Das war der Stand bis Anfang der Woche.

Viel ist im Augenblick vom europäischen Geist die Rede, den wir Deutsche nicht verletzen dürften. Nun ja, wie es schon im Johannes-Evangelium heißt: Der Geist weht, wo er will. Unsere Nachbarn sind da erkennbar weniger besorgt als wir. Sie setzen jeden gerne in den Zug Richtung Deutschland, der meint, da müsse er hin. Das steht zwar im Widerspruch zu den Regeln von Dublin, nach dem jedes europäische Land verpflichtet ist, sich um die Asylbewerber zu kümmern, die dort zuerst auflaufen. Aber europäisches Papier ist bekanntlich geduldig.

Manchmal hilft der Blick von außen. Der Chefkorrespondent des „Wall Street Journal“ für europäische Politik Bojan Pancevski saß vergangene Woche bei „Markus Lanz“ und rechnete kühl vor, weshalb auch ein reiches Land wie Deutschland mit 500000 Zuwanderern pro Jahr überfordert ist. „Es ist die Menge“, sagte er, „dafür fehlt einfach die Infrastruktur.“

Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, über die Anreize nachzudenken, die wir setzen. Auf Twitter kursierte dieser Tage ein Bescheid des Landkreises Marburg-Biedenkopf, der einer aus Pakistan zugewanderten Familie 3964 Euro in Aussicht stellte. Hat jemand eine Vorstellung, was es für Menschen aus Peschawar bedeutet, wenn sie monatlich knapp 4000 Euro erhalten, und zwar, ohne dass jemand die Hand rühren muss? Man muss schon über eine enorm solide Arbeitsethik verfügen, um sich davon nicht korrumpieren zu lassen.

Ich weiß, ich weiß, angeblich spielt das Geld keine Rolle, so wird es uns wieder und wieder vorgebetet. Die sogenannten Pull-Faktoren gehören nach Klimawandel und Corona-Impfschäden zu den am meisten bestrittenen Dingen im Talkshowleben. Weshalb es dann allerdings die meisten Flüchtlinge nach Deutschland zieht – sechs Millionen seit 2013, also 40 Prozent aller Migranten, die bis 2022 in die EU kamen? Ein Rätsel. Am schönen Wetter wird es eher nicht liegen.

Welches Signal senden wir in die Welt? Dass es sich lohnt, nach Deutschland zu kommen, um hier mit anzupacken? Auf voraussichtlich 47 Milliarden Euro belaufen sich die Kosten für das sogenannte Bürgergeld in diesem Jahr. Die Hälfte der Bezieher hat gar keinen deutschen Pass, weshalb man eher von einem Weltbürgergeld sprechen könnte. Dazu kommen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie die Ausgaben für Kita- und Schulplätze sowie ärztliche Versorgung.

Man kann das immer weiterlaufen lassen. Es widerspricht nur eklatant dem, was Politiker in Aussicht stellen, wenn sie davon sprechen, dass die Flüchtlinge die Renten bezahlen werden. Meine Erfahrung nach 30 Jahren Politikbeobachtung: Wenn die Realität und die Ankündigungen zu weit auseinanderfallen, passen die Leute ihr Wahlverhalten nicht den Ankündigungen an, sondern der Realität.

Vielleicht sollten wir es umdrehen. Kein Geld mehr vom Staat, dafür Arbeitserlaubnis vom ersten Tag an. Und Abschiebung für diejenigen, die gezeigt haben, dass sie von Deutschland und den Deutschen nicht viel halten.

Deutschland verfügt über eines der ausgeklügeltsten Rechtssysteme der Welt. Jede Entscheidung lässt sich über diverse Instanzen hinweg anfechten. Wer sich keinen Anwalt leisten kann, bekommt einen kostenlos gestellt. Auch das gehört zu den Dingen, die funktionieren, wenn jedes Jahr 50000 Menschen neu ins Land kommen. Aber nicht bei 500000.

© Michael Szyszka

Schwul, behindert und schwarz

Der Kampf ums Gendern scheint entschieden: Eine Reihe führender Presseorgane bläst aus Angst vor der Rache der Abonnenten zum Rückzug. Geht dem linken Wokismus etwa die Luft aus?

Vor ein paar Wochen tauchten im Netz Szenenfotos der neuen Amazon-Serie „My Lady Jane“ auf. Die Serie spielt in der Tudorzeit. Im Mittelpunkt steht die Kurzzeitregentin Lady Jane Grey, die im Alter von 15 Jahren für neun Tage auf dem englischen Königsthron landete, bis sie dann, des Hochverrats angeklagt, den Kopf durch das Schwert des Henkers verlor.

Auf einem der Bilder sah man König Edward VI. in einem Gefährt, das man als Prototyp eines Rollstuhls bezeichnen kann. Wie sich dem Begleittext entnehmen ließ, leidet Edward in der Serie an einer Lungenkrankheit, die ihm das Gehen zur Qual macht. Dargestellt wird der König von dem schwarzen Schauspieler Jordan Peters. Die Macher der Serie haben sich zudem entschieden, ihn als homosexuellen Charakter anzulegen.

Schwul, behindert und schwarz: Mehr geht eigentlich nicht. Okay, wenn der König auch noch Flüchtling wäre und heimlich muslimischen Glaubens, das wäre der ultimative Kick. Anderseits: Irgendwas muss man sich ja für die zweite Staffel aufheben.

Den Trend, auch historische Rollen mit schwarzen Schauspielern zu besetzen, gibt es schon länger. Eine der ersten Serien, die das Ensemble kräftig durcheinanderwirbelten, war die Erfolgsserie „Bridgerton“, in der die halbe Londoner Oberschicht der aristokratischen Blässe abgeschworen hatte.

Aufmerksame Leser werden jetzt einwenden: Ist das nicht kulturelle Aneignung? Die Besetzung von Rollen mit Schauspielern, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder sexuellen Orientierung dafür nicht in Frage kommen, gilt in der Branche als No-Go.

Nach den neuen Regeln der Kunst darf Kleopatra nur mit einer ägyptischen Aktrice besetzt werden, ein Behinderter nur mit einem Behinderten und ein Transsexueller nur mit einem Transsexuellen. Aber ich kann Sie beruhigen: Mit der kulturellen Aneignung verhält es sich wie mit dem Rassismus. Den gibt es auch nur in eine Richtung.

Dass sich Serienschöpfer die Wirklichkeit so zurechtbiegen, wie es ihren dramatischen Bedürfnissen entspricht, gehört zum Handwerk. Aber der Änderungswille der kreativen Köpfe hinter Serien wie „Bridgerton“ oder „My Lady Jane“ ist politisch motiviert, entsprechend groß fiel das Lob aus: Endlich Vielfalt auch retrograd im 16. Jahrhundert!

Die nachträgliche Überwindung der Klassen- und Rassengrenzen bleibt allerdings nicht ohne Tücken. Eine Bekannte brachte mich darauf: Wenn die Kinder mit Serien aufwachsen, in denen auch Lord und Lady Danbury wie selbstverständlich schwarz sind, muss man ihnen mit Rassismus nicht mehr kommen, sagte sie. „Was, die Schwarzen wurden systematisch unterdrückt? Nein, Mama, sie hatten selber Dienstboten und konnten in England sogar König werden!“ Das ist der unbeabsichtigte Erziehungseffekt der neuen Vielfalt: Er macht den Rassismus auf elegante Weise unsichtbar, bis niemand mehr weiß, dass es ihn überhaupt gab.

Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, wir befinden uns an einem Kipppunkt. Geht es nach den Anwälten des Fortschritts, dann stehen wir erst am Anfang einer neuen, aufregenden Entwicklung, die uns in eine noch inklusivere, gerechtere und sozialere Gesellschaft führen wird.

Schon das Wort „woke“ ist ja inzwischen verpönt, weil es aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung stammt und seine Verwendung ebenfalls eine Form der kulturellen Aneignung bedeutet.

Glaubt man den Advokaten der neuen Achtsamkeit, ist der Tag nicht mehr fern, an dem alle Yoga-Studios ihre Pforten schließen müssen, weil Yoga bekanntermaßen nicht aus Bottrop, sondern aus Poona stammt. Dafür können wir dann zum Speerwerfen zurückkehren. Das soll auch sehr gesund sein. Und: alter germanischer Brauch. Da kann der Inder nix sagen.

Wobei: Der sagt ja ohnehin nix. Ich habe noch nie einen Indianer sich darüber beklagen hören, dass sie in Bad Segeberg jedes Jahr die Karl-May-Spiele abhalten. Oder einen Mexikaner, dass die Tanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt bei der Bundesgartenschau auf ihrer musikalischen Weltreise Sombreros trägt.

Sie erinnern sich vielleicht an das Sommertheater: 17 Rentnerinnen, bei denen man froh ist, wenn sie nach ihrer Darbietung unbeschadet den Weg von der Bühne finden. Trotzdem: Der Sombrero muss weg. Der Hut würde die Maßstäbe der Bundesgartenschau hinsichtlich „interkultureller Sensibilität“ untergraben, hieß es in einer Erklärung der Messeleitung.

Man kann jede Schraube immer fester anziehen. Irgendwann dreht sie durch. Oder der Kopf bricht ab. Rechts der Mitte lebt man in der Angst, dass eines nicht zu fernen Tages kein Witz mehr erzählt und kein loses Wort mehr geäußert werden kann, weil alles Lose und Schlüpfrige unter Strafe gestellt ist. Aber vieles spricht dafür, dass die Bewegung ihren Scheitelpunkt überschritten hat.

Man kann das beim Gendern sehen. Kaum ein Projekt haben Medien- und Kulturleute mit solcher Inbrunst verfolgt wie die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit durch eine Sprache, die alle und jeden einschließt, auch diejenigen, die gar nicht eingeschlossen werden wollen. Und nun? Nun streichen selbst führende linke Presseorgane die Segel.

Der „Tagesspiegel“, der zwar nicht über die größte Auflage, dafür aber eine der fortschrittlichsten Redaktionen des Landes verfügt, hat Ende letzten Jahres eine neue Direktive herausgegeben, nach der die Redakteure gehalten sind, auf Pünktchen, Sternchen und andere Attribute der neuen Geschlechtersprache zu verzichten.

Auch die „Süddeutsche“ und der „Spiegel“ haben ihre Versuche, mit Genderzeichen die Welt zu verbessern, weitgehend eingestellt. Weshalb der Rückzug? Die neuen Sprachregeln sind unfassbar unpopulär. Normalerweise ist Journalisten die Meinung ihrer Leser herzlich egal. Aber in dem Fall sind die erwarteten Auswirkungen auf die Abonnentenzahl so desaströs, dass die Verlagsleitungen nicht umhinkonnten, die Sache abzublasen. Es heißt ja nicht von ungefähr: Go woke, go broke.

Wie viele linke Ideen hat auch das Gendern nie wirklich über den Kreis der Überzeugten hinausgefunden. An diese Art der Sprachmagie können nur Menschen glauben, die ihren Lebensunterhalt mit dem Hin- und Herschieben von Wörtern verdienen. Wer jeden Tag Kisten schleppt oder Kissen aufschüttelt, weiß ziemlich genau, dass seine Wirklichkeit sich nicht ändert, nur weil man jetzt anders über sie spricht.

Man kann den geordneten Rückzug auch beim sogenannten Selbstbestimmungsgesetz beobachten. Was als „Glutkern“ der Fortschrittskoalition angekündigt war, gilt inzwischen als Altlast, über die man besser nicht allzu viele Worte verliert. Das Projekt ganz aufzuhalten, das hat sich bei den Grünen niemand getraut. Dazu sind die Lobbygruppen zu stark. Aber niemand im Führungskreis ist wirklich stolz auf das Erreichte. Selbst treuen Grünen-Anhängern ist nur schwer zu vermitteln, weshalb es ein Zugewinn an Liberalität bedeutet, wenn künftig jeder, der sagt, dass Erika früher mal Erich hieß, mit einer Ordnungsstrafe bedroht ist.

Wird der Wokismus ganz verschwinden? So weit wird es nun auch nicht kommen. Als Erkennungszeichen werden seine Insignien in einem bestimmten Milieu immer ihre Berechtigung haben. So wie sich in rechten Kreisen bestimmte Zahlen- und Buchstabenkombinationen großer Beliebtheit erfreuen, sind unter Grünen-Anhängern eben der Knacklaut und der Genderstern en vogue.

Es wird auch immer Leute geben, die das Erreichte noch für viel zu feige halten. In einer Besprechung von „My Lady Jane“ auf der Online-Plattform „Freilich“ heißt es: „Lady Jane ist seit Juni auf Amazon Prime verfügbar. Obwohl die Serie viele woke Elemente enthält, geht sie manchen nicht weit genug. Sie kritisieren zum Beispiel, dass, obwohl König Edward ein schwarzer, homosexueller König im England der Tudor-Zeit ist, Intersektionalität, also die Überschneidung und Wechselwirkung verschiedener Diskriminierungsformen, in der Serie nicht wirklich zum Tragen kommt.“ Das ist das Schicksal vieler Glaubensbewegungen: Es findet sich immer jemand, der noch frömmer ist als man selbst.

Amazon hat jetzt bekannt gegeben, dass es die Serie trotz sehr positiver Besprechungen nach nur einer Staffel einstellen wird. Der Kreis der Fans war einfach zu klein.

© Sören Kunz

Nimmt Björn Höcke heimlich Botox?

Demokratie heißt, den Wählerwillen zu respektieren. Also: Björn Höcke als Ministerpräsident in Thüringen, unterstützt von Sahra Wagenknecht. Und ein Ende des Länderfinanzausgleichs. Welcher stolze Ostler will schon Geld aus dem Westen?

Ich war neulich für einen Auftritt in Duisburg. Der dortige Unternehmerverband hatte mich eingeladen, anlässlich seines Unternehmertages ein paar Worte zur aktuellen politischen Lage zu sagen. Meine Spezialität: dem Schrecken etwas Heiteres abgewinnen.

Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in Duisburg waren. Ich hatte mir einen Mietwagen vom Flughafen genommen und dachte, als ich die Hauptstraße herunterfuhr: „Wow, wie fertig sieht das denn hier aus.“ Es tut mir leid für alle Duisburger, das so sagen zu müssen: Aber wenn es einen Preis für unmittelbar überwältigende Hässlichkeit gäbe, Duisburg wäre ein heißer Anwärter auf einen der ersten Plätze.

Drumherum sieht es nicht viel besser aus. Später am Abend gesellte sich der Oberbürgermeister von Mülheim da- zu, der sich mir als Bürgermeister der meist verschuldeten Kommune Deutschlands vorstellte. Zum Abschied gab er mir einen 0-Euro-Schein, den man im Rathaus hatte drucken lassen – als Gruß der Not.

Man sollte erwarten, dass die Leute in Duisburg und Umgebung alle wie sieben Tage Regenwetter dreinschauen. Aber nein, sie erscheinen erstaunlich gefestigt. Wenn ich die Stimmung beschreiben sollte, würde ich sagen: heiterer Stoizismus. Man ist sich einig, dass die Lage beschissen ist. Aber was soll man machen? Klagen ändert ja auch nichts. Also trifft man sich in geselliger Runde und macht einfach das Beste aus der Situation.

Wenn ich gefragt würde, was das schönste Bundesland ist, würde ich sagen: Thüringen. Ich weiß, ich muss aufpassen, damit mir die Bayern nicht böse werden. Jeder, der in Bayern lebt, geht selbstverständlich davon aus, dass der Herrgott persönlich über die Herstellung des schönen Bayernlandes gewacht habe. Also formuliere ich es vielleicht vorsichtiger: Durch Thüringen zu reisen, ist wie die Reise durch ein Märchenland. Sanft geschwungene Hügel und Täler, darin hineingetupft Wälder, die so aussehen, als hätten schon die Brüder Grimm sie durchschritten, und Städte, deren geschlossene Ensembles nahezu unerreicht sind.

Doch eigenartig, die Menschen wirken bedrückt, so als laste ein furchtbarer Alp auf ihnen. Wenn man sich mit ihnen unterhält, schaut man in ernste, beinah verzweifelte Gesichter. Die Ampel richte das Land zugrunde. Auf nichts könne man sich mehr verlassen, nicht einmal auf die Bahn. Dazu die vielen Migranten. Kurz: Deutschland ein einziges Jammertal, aus dem einen nur die AfD retten könne. Oder Sahra Wagenknecht, die Rosa Luxemburg der letzten Tage.

Das ist ja die Erklärung, die einem geboten wird, weshalb der halbe Osten Parteien wählt, die den Westen und seine Repräsentanten ablehnen: Frust über die aktuelle Lage.

Ich gebe zu, ich kann Menschen nicht ganz ernst nehmen, die Parteien wählen, deren Spitzenleute so aussehen, als ob sie irgendwas mit ihrem Gesicht haben machen lassen. Ich kann’s nicht beweisen, aber wenn Björn Höcke nicht gebotoxt ist, fresse ich einen Besen. Ist es schlimm, wenn sich jemand sein Gesicht mit Fillern aufplustern lässt? Nein, ist es nicht. Bei einem Politiker würde ich allerdings zur Vorsicht raten. Wer es bei der Beschäftigung mit sich selbst übertreibt, nimmt es in der Regel auch mit Wahlversprechen nicht so genau.

Woher kommt die schlechte Laune? Ich würde es wirklich gerne verstehen. Wobei schlechte Laune noch untertrieben ist. Es ist eher eine Melange aus Depression und Wut, bei der die Wut jederzeit die Depression ersetzen kann.

Wenn mir jemand sagen würde, ich müsste einen Abend mit Alice Weidel oder Sahra Wagenknecht verbringen, ich wüsste nicht, wie ich mich entscheiden würde. Vielleicht am Ende doch für Alice Weidel. Da kann man immerhin noch die vage Hoffnung haben, dass der fünfte Riesling für Entspannung sorgt. Das ist bei Wagenknecht ausgeschlossen.

Ich habe einmal einen Anflug eines Lächelns bei ihr gesehen. Es gibt auf YouTube den Ausschnitt einer alten Harald-Schmidt-Sendung, wo sie fragt, was denn für den Kapitalismus spräche, und Schmidt antwortet: „Na, mein Lebensstandard.“ Das ist so entwaffnend, dass sich sogar bei Wagenknecht für einen kurzen Moment die Mundwinkel heben. Aber der Auftritt liegt auch schon elf Jahre zurück. Das würde ihr heute nicht mehr passieren.

Ich habe nie verstanden, warum die Talkshows die eine Politikerin wie eine Inkarnation des Beelzebub behandeln und die andere wie eine seriöse Regierungskritikerin. Selbst der nette Herr Klamroth, dessen Herz so grün schlägt, dass die Haare in Komplementärfarbe leuchten, wird bei Wagenknecht schwach. Dabei ist es wirklich schwer, den Unterschied zu finden. Wenn man Reden von beiden zu Russland und Putin kopieren und dann die Namen schwärzen würde, kein Mensch könnte sagen, welche von wem stammt.

Auch ansonsten sind die Programme nahezu deckungsgleich. Der einzige Unterschied: Wenn Wagenknecht sagen könnte, wo es lang geht, würden nicht nur alle Flüchtlinge des Landes verwiesen, sondern die Reichen gleich mit. Beziehungsweise: Ihnen würden so hohe Steuern aufgebrummt, dass sie fluchtartig das Land verließen. Das gibt es bei der AfD nicht. Da halten sich die sozialpolitischen Vorstellungen im üblichen rechtssozialistischen Rahmen.

Und nun? Ich wäre dafür, Höcke machen zu lassen. Der erste Ministerpräsident der AfD, getragen durch die Unterstützung des BSW: Auch das ist Demokratie. Anstatt sich die Wagenknecht-Partei schönzureden, um die AfD von der Macht fernzuhalten, einfach den Wählerwillen akzeptieren – das ist nicht die schlechteste der möglichen Alternativen.

Außerdem würde man doch gerne mal sehen, wie die große diplomatische Initiative aussieht, die von Erfurt beginnend die Ukraine befriedet. Die Stationierung neuer US- Raketen auf dem Hunsrück wäre nach Lage der Dinge ebenfalls erledigt. In Thüringen leben zwar nur zwei Millionen Menschen, aber wenn es um den Frieden geht, zählt jede Stimme doppelt. Ach, was sage ich, doppelt? Fünffach!

Ich finde allerdings, keine Entscheidung ohne Konsequenz. Wer wie der thüringische AfD-Vorsitzende dem demokratischen Kartellsystem den Kampf erklärt und von der Schönheit des Widerstands spricht, sollte sich dann auch von der Korruption durch das Geld der Kartellmächte frei machen.

Ich habe mir die Transferzahlungen des Länderfinanzausgleichs angesehen. Die Länder, die am meisten von Überweisungen aus dem Westen profitieren, sind Berlin, Sachsen und Thüringen. 1,9 Milliarden Euro waren es im vergangenen Jahr für Thüringen, knapp 1000 Euro pro Kopf.

„Die endgültige Teilung Deutschland, das ist unser Auftrag“, lautet ein altes „Titanic“-Motto. Soweit würde ich nicht gehen. Aber warum nicht den Länderfinanzausgleich einstellen? Einige werden jetzt aufschreien und sagen, das sei undemokratisch, so etwas zu fordern. Denen kann ich nur antworten: Wer die Backen aufbläst, sollte auch pfeifen können.

Das hat mich schon bei den Ungarn immer gewurmt: Bei jeder Gelegenheit Europa den Stinkefinger zeigen, aber dann gerne die Milliarden aus dem Kohäsionsfonds annehmen. Ich finde, das hat etwas Würdeloses. Das ist wie bei den Bürgerkindern, die Revolution mit dem Geld von Papa spielen. Wenn schon System-Feindschaft und BRD-Bashing, dann richtig.

Vielleicht gibt es ja auch einen Zusammenhang zwischen schlechter Laune und Transfers. Das Gefühl, von anderen abhängig zu sein, führt jedenfalls in der Regel nicht zu Dankbarkeit, sondern zu Ressentiment.

Was das Botox im Gesicht von Björn Höcke angeht: Ich bin jederzeit bereit, eine Gegendarstellung zu akzeptieren. Ich erinnere mich noch, wie Gerhard Schröder verlangte, dass man nicht länger schriebe, er würde sich die Haare färben. Es gab dann einen länglichen Rechtsstreit, ob Tönen und Färben hinreichend verwandte Formen der Friseurkunst seien.

Der „Spiegel“ schrieb fortan vom Bundeskanzler mit dem dunkelsten Haaransatz seiner Generation. So können wir es gern auch bei Björn Höcke halten. Wir schreiben einfach: Der AfD-Führer mit dem glattesten Gesicht aller politischen Heiratsschwindler.

© Silke Werzinger

Lieber einen Freund verlieren als eine Pointe

Wenn Politiker gegen Journalisten juristisch vorgehen, ist das seltsam genug. Aber Journalisten, die Politiker wegen Beleidigung verklagen? Die beste Gegenwehr ist immer noch der Text, der weh tut. Aber das scheint démodé

Ich habe noch nie jemanden verklagt. Ich hätte Grund gehabt, so ist es nicht. Als was bin ich nicht schon alles beschimpft worden.

„Fleischhauer, friss Atommüll, Arschloch“, so beginnt mein Tag. Manchmal finde ich mich im Kofferraum eines Autos wieder. Für die Jüngeren, die mit den Memes der Siebzigerjahre nicht so vertraut sind: Der Kofferraum war der Fundort, indem die RAF die Leichen der Leute überstellte, die sie der Gerechtigkeit ihres Volksgerichtshofs zugeführt hatte.

Ich lese das und denke mir: „Gott, wenn’s der Triebabfuhr dient.“ Besser jemand macht sich in Wort und Bild Luft, als dass er auf noch dümmere Gedanken kommt.

Außerdem bin ich für Rechtsstreitigkeiten ein viel zu fauler Mensch. Was das an Energie kostet! Erst muss man eine Strafanzeige stellen. Dann muss man eine Dienststelle finden, die die Anzeige ernst nimmt. Und dann steht auch noch ein Gerichtsverfahren an.

Ich stecke meine Kraft lieber in meine Texte. Im Zweifel zahle ich es den Hatern doppelt heim, indem ich nächste Woche erst recht aushole. Das ärgert sie tausend Mal mehr als eine Strafanzeige.

Die „Spiegel“-Redakteurin Ann- Katrin Müller hat auf X verkündet, dass sie den AfD-Abgeordneten Stephan Brandner erfolgreich wegen Beleidigung dranbekommen habe. Brandner hatte sie mehrfach als „Fa-schistin“ bezeichnet, beziehungsweise in Variationen als „Oberfaschistin“ und „Spiegel-Faschistin“.

Müllers Anwalt machte geltend, dass die Bezeichnung als Faschistin geeignet sei, der Ehre seiner Mandantin schweren Schaden zufügen und ihren Ruf als Journalistin herabzusetzen. Weil Brandner es unterließ, die Beleidigung umgehend zu löschen, und sogar noch einen draufsetzte, verdonnerte ihn das Landgericht Berlin zu einer Strafzahlung von insgesamt 50000 Euro.

Die Kollegin feiert das als großen Sieg. Ihr X-Account ist voll mit den Retweets von Stimmen, die ihr gratulieren, darunter der unweigerlich trötenhafte „Volksverpetzer“, der den Mut der „Spiegel“-Redakteurin lobte, sich zu wehren und der AfD die Grenzen aufzuzeigen.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich finde es schon zweifelhaft, wenn Politiker gegen Journalisten juristisch vorgehen. Aber Journalisten, die Politiker verklagen? Zumal „Faschist“ oder „Oberfaschist“ eher gängige Ware ist. Tatsächlich ist der Vorwurf, ein Nazi zu sein, inzwischen so üblich, dass man sich fragen muss, was man falsch ge-macht hat, wenn man noch nie als Nazi bezeichnet wurde.

Ich bin ein Freund der üblen Nachrede. Die meisten Leute erschrecken, wenn man das sagt. Das könne man doch nicht sagen, meinen sie dann. Dem würde ich erstens mit dem Kabarettisten Werner Finck entgegenhalten: Da, wo’s zu weit geht, fängt die Freiheit erst an. Außerdem steht die Spottlust am Anfang der Aufklärung, um mal ins hohe Fach zu greifen.

Der Journalist solle sich mit nichts gemeinmachen, auch nicht mit einer guten Sache, lautet ein Rat, der angehenden Journalisten in Seminaren gegeben wird. Der einfachste Weg, dieser Empfehlung gerecht zu werden, ist es, sich mit Leuten, auf die es ankommt, zu verscherzen. Eine nahezu todsichere Methode, Distanz zwischen sich und anderen zu schaffen, ist dabei die Beleidigung.

Auch bei der üblen Nachrede kommt es auf Finesse an. Wie jede Kunstform ist sie schnell verhunzt, wenn sich Dilettanten daran versuchen. „Idiot“ – das kann jeder, dazu muss man nicht viel im Kopf haben. Aber die treffende Ab-wertung, die wirklich schmerzt, die verlangt den Könner.

Mein Freund Henryk M. Broder stand einmal vor Gericht, weil er über eine Moderatorin der 3sat-„Kulturzeit“ gesagt hatte, sie halte beim Reden den Kopf immer leicht schräg, damit sich die Gedanken auf einer Seite sammeln könnten. Das nenne ich eine gelungene Beleidigung.

Die arme Frau wollte diese Gemeinheit nicht hinnehmen und zog vor das Landgericht in Düsseldorf, das ihr 10000 Euro an Schmerzensgeld zusprach. Zum Glück für Leute wie mich kassierte das Oberlandesgericht die Entscheidung wieder. Am Ende musste Broder 40 Prozent der Gerichtskosten tragen, was für ihn viel Geld war, für die Verteidigung der Meinungsfreiheit aber ein akzeptabler Preis, wie ich fand.

M an muss sich nicht alles bieten lassen, auch nicht als Politikerin. Dass Renate Künast bis vor das Bundesverfassungsgericht zog, weil sie es nicht hinnehmen wollte, als „Schlampe“, „Drecksau“ und „Pädophilen-Trulla“ verunglimpft zu werden, dafür habe ich Verständnis. Manche Pöbelhaftigkeit gehört wegen ihrer Vulgarität bestraft, anders lernen es die Pöbler nicht. Aber „Depp“ oder „Blödmann“? Wer als Minister die Zeit hat, dagegen vorzugehen, hat zu viel Zeit, würde ich sagen.

Manchmal trifft man auf die Opfer seiner Texte, das lässt sich nicht vermeiden. Ich versuche, Politikern aus dem Weg zu gehen. Ich hänge nicht auf Partys herum, auf denen sie verkehren. Ich bin auch nicht Mitglied in irgendwelchen Hintergrundkreisen, wo man bei Strafe der Exklusion zum Schweigen verdonnert ist. Trotzdem kommt es hin und wieder vor, dass ich auf Leute stoße, über die ich schon mal hergezogen bin.

Einmal saß ich mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas und der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel bei „Maischberger“. In dem Fall hatte ich mich über beide gerade lustig gemacht, bei Maas über seine Hemden, seine Freundin und seine politische Geschniegeltheit – bei Weidel über ihre dünnen Nerven. Die zwei zogen es vor, so zu tun, als sei nichts vorgefallen. Der gemeinsame Wein nach der Sendung fiel dann allerdings flach.

Ich glaube, hier liegt ein Grund, warum viele Journalisten Mühe haben, zu schreiben, was sie wirklich denken. Wer damit rechnen muss, demjenigen, über den er sich abfällig äußert, morgen wieder zu begegnen, neigt dazu, milder zu urteilen.

Jeder Journalist hat seine Vorbilder. Zu meinen gehören die großen Austeiler und Übereinanderherzieher Wolfgang Pohrt und Wiglaf Droste. Manchmal, wenn ich mich in Stimmung bringen will, nehme ich einen ihrer Texte zur Hand und lese ihn mir laut vor. Der Berliner Verleger Klaus Bittermann hat in hingebungsvoller Verlegerarbeit die gesammelten Werke Pohrts in einer großartigen Edition herausgebracht, die nicht von ungefähr an die blauen Bände der berühmten Marx-Engels-Ausgabe erinnert. Auch von Droste ist das meiste in der Edition Tiamat zugänglich.

Was man von den beiden Meistern der Boshaftigkeit lernen kann? Wie man beim Schreiben keine Gefangenen macht. Als Pohrt im Alter von 73 Jahren den Folgen eines Schlaganfalls erlag, schrieb Bittermann: „Am Freitag ist der Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt gestorben. Er hinterlässt mehr Feinde als Freunde. Das hätte ihm gefallen.“

Der Journalist als Gegensichaufbringer ist eine weitgehend von den Zeitläufen erledigte Figur. Es sich mit allen zu verscherzen, weil man nach der Methode verfährt: lieber einen Freund verlieren als eine Pointe, gilt heute als ungehörig. Das ist ja der Fluch der Ideologiekritik, wenn man sie ohne Rücksichtnahme betreibt: Irgendwann ist man für jede Indienstnahme verloren, auch die für die gute Sache.

Was hätte jemand wie Pohrt aus der AfD gemacht? Interessanterweise ist die Befassung mit den Leuten, von denen es allenthalben heißt, dass mit ihnen der Faschismus zurückkehre, ebenfalls seltsam blutleer. Sicher, Höcke, Weidel oder der aufgeblasene Polterer Brandner kommen in den Medien durchweg schlecht weg. Aber das absurde, lächerliche oder auch diabolische Potenzial diese Figuren wird nicht ansatzweise ausgeschöpft.

Den meisten, die heute über die Rechten schreiben, fehlt der Blick für das Abgründige und Abseitige. Sie sehen nur die Parolen, die aus den Mündern quellen, aber nicht das parodistische Material.

Auch das ist ein Vorteil der Beleidigung: Sie schärft den Blick fürs Detail, das mehr sagt als tausend Worte. Deshalb ist sie ja so gefürchtet.

© Sören Kunz

Wann ist eine Frau eine Frau?

Ist das, was man sieht, auch das, was man sagen sollte? Oder sollte man das, was man sieht, lieber für sich behalten? Der Fall der beiden Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-ting wirft in mehrerer Hinsicht grundsätzliche Fragen auf

Zum Olympia-Auftakt sah sich die ARD-Moderatorin Anja Reschke genötigt, in die Genderdiskussion einzugreifen. 58 Prozent der Leistungssportlerinnen seien dafür, dass Trans-Athletinnen aus Frauen-Disziplinen ausgeschlossen würden, erklärte sie mit ernstem Blick in die Kamera. „Ob die schon die neuesten Forschungsergebnisse kennen?“

Dann der Anflug eines Lächelns. In Wahrheit sei es nämlich so, dass Trans-Sportlerinnen ein geringeres Sprungvermögen, eine geringere Lungenkapazität und dadurch auch weniger Ausdauer hätten als biologische Frauen.

Na, dann ist ja alles in Butter, nicht wahr? Wenn Trans-Sportlerinnen, also Personen, die bis eben noch Männer waren, biologischen Frauen unterlegen sind, dann gilt das erst recht für Frauen, die als Frauen geboren wurden. Lasst die Spiele beginnen, wie es so schön heißt.

Die Sache könnte so einfach sein: Männer, Frauen und alles dazwischen – vereint im olympischen Wettstreit. Wenn da nur nicht diese Bilder aus Paris wären. Zwei Boxerinnen, die so gar nicht wie Frauen aussehen, und jede Frau, auf die sie treffen, auf die Bretter schicken.

Ganz so einfach ist es offenbar doch nicht. Was Anja Reschke zu erwähnen vergaß: Bei der Studie, auf die sie sich bezog, wurden eher unsportliche, leicht übergewichtige Transfrauen mit athletischen Frauen verglichen. Und auch bei den beiden Boxerinnen, die umgehend zu ganz normalen Frauen erklärt wurden, verdichten sich die Hinweise, dass sie so ganz normal nicht sind.

Ich kann mich an keine Sport-Debatte erinnern, die so leidenschaftlich geführt wurde wie die über die Olympia-Teilnahme von Imane Khelif (Weltergewicht) und Lin Yu-ting (Federgewicht). Wer Zweifel an der geschlechtlichen Identität äußerte, wurde umgehend der Hassrede und Transphobie bezichtigt.

Das Olympische Komitee bewegt sich auf der Höhe der Zeit, in der Hinsicht kann man ihm nichts vorwerfen. Es hat festgelegt, dass als Frau jede Person zu gelten hat, in deren Pass steht, dass sie eine Frau sei. In den Antidiskriminierungsrichtlinien steht außerdem, dass niemand aufgrund seiner „geschlechtlichen Identität, seines physischen Erscheinungsbilds oder einer sexuellen Variation“ von der Teilnahme an Wettkämpfen ausgeschlossen werden dürfe.

IOC-Präsident Thomas Bach kommt aus Deutschland, man darf vermuten, dass ihm die Genderdebatte bekannt ist. Zum 1. November tritt nach langer Beratung ein Gesetz in Kraft, wonach der Geschlechtseintrag zur Willenserklärung wird. Ein Antrag beim Standesamt und im Pass steht das, was man sich wünscht. Das ist die neue Wirklichkeit, die damit auch die Wirklichkeit des IOC ist.

Wie verhält es sich im Fall der beiden Boxerinnen? Die Faktenlage ist nicht ganz klar, aber vieles weist darauf hin, dass Khelif und Yu-ting sowohl über das X- als auch über Y-Chromosomen verfügen, sie also biologisch gesehen Männer sind. Beide Sportlerinnen wurden aufgrund von DNA-Tests von der Weltmeisterschaft in Neu-Delhi ausgeschlossen. Der Boxverband, der die Weltmeisterschaft ausrichtet, gilt als korrupt und zudem von Russland dominiert. Aber der anerkannte Sportjournalist Alan Abrahamson hat die Tests gesehen, die zum Ausschluss führten. Danach blieb dem Verband kaum eine andere Wahl.

In seltenen Fällen kommt es vor, dass die Geschlechtsentwicklung variiert. Das scheint auch bei den beiden Sportlerinnen, über die nun alle reden, der Fall zu sein. Ein Enzym- defekt – die Experten sprechen von 5-Alpha-Reduktase-Mangel – kann dafür sorgen, dass die männlichen Genitalien beim Fötus nicht entsprechend ausgebildet sind. Bei der Geburt werden solche Kinder deshalb oft für Mädchen gehalten und dann auch entsprechend aufgezogen.

Unterstützer von Khelif haben ein Foto gepostet, das sie als Siebenjährige im Kleid zeigt. Abgesehen davon, dass in diesem Fall kurioserweise der Fotobeweis, der bei der erwachsenen Sportlerin als beleidigend empfunden wird, als ausreichend gilt: Die entscheidende Veränderung setzt in der Pubertät ein. Bis zum Alter von etwa 12 Jahren liegt bei Mädchen und Jungen der Testosteron-Spiegel gleich niedrig. Danach entwickelt er sich rasant auseinander – mit der Folge, dass Männer deutlich mehr Muskelmasse aufbauen.

Das IOC weist darauf hin, dass es auch Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Level gebe. Das ist zutreffend. Aber wie die Juristin Doriane Lambelet Coleman in einem exzellenten Artikel im Online-Magazin „Quillette“ schreibt, kommen selbst Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Spiegel nicht einmal ansatzweise auf das Niveau von Männern.

Genau das ist es, was die Auftritte der beiden Boxerinnen so zweifelhaft macht – und für die Konkurrentinnen so gefährlich. Bei Läufern geht es nur um Schnelligkeit, bei Boxern auch um die Wucht der Schläge. Die durchschnittliche Schlagkraft von Männern, die die Pubertät durchlaufen haben, ist um 162 Prozent höher als bei Frauen.

Gesellschaftspolitisch gesehen ist Sport in dem Zusammenhang ein großes Ärgernis. Überall ist die binäre Ordnung aufgebrochen. Selbst Umkleidekabinen und Frauensaunen sind nicht mehr automatisch Räume, zu denen nur Frauen, die über alle Attribute einer Frau verfügen, Zugang haben. Lediglich bei Wettkämpfen gilt noch die alte Ordnung.

Nach ersten Versuchen, auch Transfrauen zuzulassen, haben die Sportverbände die Regeln sogar verschärft. Teilnehmen darf nur, wer biologisch eine Frau ist – da kann im Pass stehen, was will. Wo, wie bei der Schwimmerin Lia Thomas oder der Läuferin Caster Semenya Zweifel aufkommen, entscheidet der Test. Wer im Blut zu hohe Testosteronwerte aufweist, ist raus oder muss diese künstlich senken.

Kein Wunder, dass Aktivisten diese Behandlung als Beleidigung empfinden. Daher auch die Hartnäckigkeit, mit der behauptet wird, in Paris habe alles seine Richtigkeit. „Imane Khelif ist eine Cis Frau“, schrieb der „Volksverpetzer“, eine eher randständige linke Krawallpostille, die allerdings sofort dankbar als Referenz genommen wird, wenn es der gerechten Sache dient.

Wie bei jeder Debatte gibt es interessantere und weniger interessante Stimmen. Zu den interessanteren zählt Caitlyn Jenner, eines der Idole der Transbewegung. Im ersten Leben, als Bruce Jenner, war Caitlyn ein berühmter Zehnkämpfer. Dann folgte die Transition und anschließend das Coming Out, das die Öffentlichkeit mindestens so beschäftigte wie die Titeljagd des Übersportlers.

Was sagt Caitlyn Jenner zu der Debatte? „XX – du bist bei den Frauen. XY – du bist bei den Männern. Darauf läuft es hinaus.“ Interessanterweise finden sich gerade unter Transpersonen eine Reihe von Leuten, die wenig von dem Versuch halten, Mann und Frau als Kategorien auszumustern.

„Wer meint, dass Imane Kehlif eine Frau ist, weil ihre Geburtsurkunde das sagt, dem kann ich nur antworten: Das ist ein Beweis für gar nichts“, schrieb der Transaktivist Buck Angel auf X. „Ich bin eine biologische Frau. Ich verfüge über viel Testosteron, weil ich es mir injiziere.“ Wer die Bilder ansieht, die Buck Angel von sich postet, würde nie im Leben auf die Idee kommen, dass er mal ein zartgliedriges Mädchen war. Auf den Fotos schaut einen ein bärtiger Typ an, dessen Muskelberge jeden Durchschnittsmann vor Neid erblassen lassen können.

Vielleicht ist das die Lehre aus dem Spektakel in Paris: Natur ist kein unabwendbares Schicksal. Wer bereit ist, den Preis zu zahlen, kann seinem Körper fast jede Form geben. Darin liegt ein ungeheures Freiheitsversprechen. Aber das heißt nicht, dass wir die Natur überwinden könnten.

Ich glaube, viele können sich in das Leid eines Menschen einfühlen, der weiß, dass er ganz anders ist als die anderen und dann das Boxen als Rettung entdeckt. Die Verzweiflung im Gesicht von Imane Khelif ist nicht gespielt. Aber was die meisten nicht akzeptieren ist, wenn man ihnen weismachen will, dass es keine Rolle spielt, ob jemand wie ein Mann auftritt und im Zweifel auch wie ein Mann zuschlägt.

Wenn man den Leuten einzureden versucht, dass das, was sie sehen, nicht zählt – ja, dass es sogar unanständig ist, zu äußern, was man sieht – dann provoziert man nicht Einsicht, sondern Gegenwehr.

© Michael Szyszka

Der Journalist als Fan

Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert am Ende selten der Wunsch. Das war bei der medialen Befassung mit Trump so, das war bei Biden so. Wird es sich bei Kamala Harris wiederholen?

Haben Sie gesehen, wie die Obamas Kamala Harris gratuliert haben? Tagelang hatte sie auf die Unterstützung des demokratischen Powercouples gewartet. Warum wartet Obama mit dem Endorsement, das war die Frage, die ganz Washington beschäftigte. Hat er Vorbehalte? Wartet er nur auf den richtigen Augenblick?

Und dann klingelt das Telefon. Barack und Michelle sind sogar beide dran, um zu sagen, wie stolz sie auf ihr „Mädchen“ sind und wie toll sie es finden, dass sie nun die Demokraten in den Kampf ums Weiße Haus führen werde. Schnitt auf das Gesicht der Kandidatin, die gefasst, aber glücklich die frohe Kunde vernimmt.

Gänsehautmoment!

Woher wir so genau im Bilde sind? Weil es ein Video gibt, in dem der Anruf festgehalten ist. Zufälligerweise war gerade ein Berater zur Stelle, der ans Handy ging, als Obama durchklingelte. Doppelglück dann, dass jemand eine Kamera in der Hand hielt, um die Szene einzufangen. Und natürlich war auch gleich der Ton perfekt, sodass wir die tiefe Stimme Barack Obamas von der ersten Sekunde an in voller Lautstärke hören können, gefolgt vom warmen Timbre Michelles.

„Kamala!!“ „Hello? Hi!!“ „Hey there!“ „Aw… Hi, you’re both together!“ So schön, so menschlich kann Politik sein.

Ach so, alles nur inszeniert? Kein Wort wahr? Nein, nein, genauso habe sich der Anruf zugetragen, hat die Sprecherin von Kamala Harris der „New York Times“ gegenüber beteuert. Nichts sei gestellt, jedes Wort sei dem Augenblick abgelauscht.

Es gibt im Englischen ein Wort für diesen Moment, wenn man sich am liebsten vor Schmerz krümmen würde, weil das, was man zu sehen bekommt, so schrecklich ist. Die Engländer nennen das „cringe“. Das Wort hat sich auch im Deutschen eingebürgert, weil es viel anschaulicher ist als das deutsche „Fremdscham“.

Das Obama-Harris-Telefonat ist Cringe im Quadrat. Ich kenne Leute, die konnten den Clip nicht zu Ende schauen, weil sie die Mischung aus gespielter Aufgeregtheit und falscher mädchenhafter Bescheidenheit nicht ertrugen.

Ein Vorwurf gegen Trump lautete immer, er würde Fake News verbreiten. Aber kann man sich mehr Fakehaftigkeit vorstellen, als den Leuten vorzumachen, sie wären mit am Telefon dabei, wenn Obama anruft? Doch eigenartig: In den Medien, die ich konsumiere, keine Zeile dazu.

Alles an Kamala Harris löst Begeisterung aus: wie sie lacht, wie sie kocht, wie sie spricht. Dazu natürlich der Hintergrund. Keine Geschichte kommt ohne den Hinweis aus, dass mit ihr nicht nur die erste Frau ins Oval Office einziehen würde, sondern die erste schwarze Frau. Ja mehr noch: die erste schwarze Frau, die auch noch über asiatische Wurzeln verfügt. Das wird so lange durchdekliniert, bis auch der letzte weiß, welche historische Wahl bevorsteht.

Ich habe mir Mühe gegeben, Kamala Harris toll zu finden, wirklich. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was ich vorher über sie gelesen hatte: die Abgehobenheit und Aufgesetztheit, die viele ihre Auftritte durchzieht; die Unfähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen, die andere Sorgen haben als die Frage, ob es einer Millionärin gelingt, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen; der rüde Umgangston, mit dem sie mehrere ihrer Büroteams in die Flucht getrieben hat. All das konnte man lesen – bevor sie zur Frau aufstieg, die Amerika rettet.

Ich bin mit „Thelma & Louise“ aufgewachsen, dem ersten feministischen Rachefilm. Ich bewundere es, wenn eine Frau die Pumpgun rausholt und den Kerl wegpustet, statt sich lange über schlechte Behandlung auszulassen. Wie Kamala Harris gleich in ihrer ersten Rede Trump einen verpasste, indem sie ihn als Trickbetrüger und Frauengrapscher bezeichnete: à la bonne heure. Aber dann bekam ich dieses vermaledeite Video in die Timeline gespült und die Zweifel waren wieder da.

Woher kommt das Bedürfnis vieler Journalisten, sich selbst zum Fan zu machen? In dem Fall ist das doppelt kurios, da niemand in Deutschland bei der US-Wahl eine Stimme hat. Dennoch wird Kamala Harris angefeuert, als könnte sie der Wind der Zustimmung ins Weiße Haus tragen. Gut, wenn man an die Kraft des Gebets glaubt, dann mag es funktionieren. Dass auch in Presseorganen, in denen man sich ansonsten bei jeder Gelegenheit über den Glauben lustig macht, nun lauter Kerzlein ins Fenster stellt, entbehrt so gesehen nicht einer gewissen Komik.

Eine Nebenwirkung des Fantums ist, dass man regelmäßig auf dem falschen Fuß erwischt wird. Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert selten der Wunsch. Das war schon bei Trump so, das hat sich bei Biden wiederholt. Man sollte meinen, dass dem einen oder anderen Korrespondenten aufgefallen sein sollte, wie altersschwach der Präsident ist, dafür sind sie ja als Korrespondenten vor Ort. Aber am Ende waren sie von seiner Hinfälligkeit genauso überrascht wie ihre Leser.

Der „Politico“-Redakteur Jack Shafer ist neulich in einem Essay der Frage nachgegangen, wann der Journalismus seine Coolness verloren habe. When Journalism lost his swagger, lautete die These im Original. Ich würde sagen, der Zeitpunkt fällt ziemlich genau mit dem Auftauchen einer neuen Form des Journalismus zusammen, der Einfühlsamkeit an die Stelle des Runterschreibens setzt und Rücksichtnahme an die Stelle der Boshaftigkeit.

Die goldenen Jahre des Journalismus sind nicht von ungefähr auch die Wirkungszeit großer Spötter: Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Alfred Kerr. Es waren übrigens alles auch große Beleidiger und Niedermacher, weshalb man sie bis heute liest. Eines meiner Vorbilder ist der Autor Anton Kuh, von dem das Motto stammt: „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht“. Leider hat sich die Auffassung durchgesetzt, man dürfe nicht zu persönlich werden.

Vor einiger Zeit stand im „Spiegel“ ein Porträt des ehemaligen Wirtschaftsministers Peter Altmaier. Es war ein außergewöhnlicher Text, auch außergewöhnlich boshaft. Der Autor, zum Zeitpunkt der Niederschrift noch Journalistenschüler, hatte den Ex-Politiker wochenlang begleitet und alles aufgeschrieben, was der ihm anvertraut hatte, darunter auch manches, von dem sich Altmaier im Nachhinein sicher gewünscht hat, er hätte es nicht gesagt.

War die Redaktion stolz auf den Text? Nein! Es setzte im Gegenteil eine längliche Diskussion ein, ob man den Artikel in dieser Form überhaupt hätte drucken dürfen. Jemanden so vorzuführen, der doch eigentlich immer ein netter Kerl gewesen sei, das sei in hohem Maße unfair. Es fiel das Wort „menschenverachtend“.

War der Text unfair? Er war streckenweise sogar hundsgemein. Aber eben deshalb auch sehr unterhaltsam. Außerdem erfuhr man ziemlich viel darüber, wie einsam Politik diejenigen macht, die ihr verfallen sind.

Es gibt auch den umgekehrten Fall, also das freundliche Porträt über eine Person, die in Ungnade gefallen ist. Alexander Osang ist ein Meister dieser Spielart. Seine Arbeit hat ihm mehrere Kisch-Preise eingetragen, die dann Nannen-Preise hießen, bis man fand, dass auch Nannen nicht mehr ginge, weil politisch zu belastet. Der Preis heißt jetzt Stern-Preis, was über den Niedergang der Branche einiges verrät.

Die meisten Journalisten wählen heute leider die ungünstigste Variante: brav über Leute schreiben, die alle gut finden. Der einzige, über den man noch in herabsetzender Form schreiben kann, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt, ist vermutlich Björn Höcke. Wobei, selbst da bin ich mir nicht sicher.

Jedes Porträt stellt ja Nähe zu dem Porträtierten her, in dem es ihm auf den Leib rückt. Die bevorzugte Methode ist die Nahaufnahme, nicht die Fernbeobachtung. Also würde es heißen: Muss es wirklich sein, dass wir Höcke auch von seiner privaten Seite sehen? Verlieren wir damit nicht die Distanz, verharmlosen wir so nicht die AfD?

Auch von Donald Trump gab es dieser Tage neue Videos. In einem Clip sitzt er neben dem Profigolfer Bryson DeChambeau und zeigt seine Playlist vor, während die beiden von Loch zu Loch gurken. Trump ist so, wie er immer ist: einfach er selbst. Das reicht völlig aus, um die Anhänger zu begeistern und die Gegner in den Wahnsinn zu treiben. Ganz ohne cringe.

© Sören Kunz

Jetzt wird’s gefährlich

Wie will man verhindern, dass die AfD Zeit- schriften verbietet, sobald sie den ersten Innenminister stellt? Ausgerechnet die SPD hat vorgemacht, wie es geht, und damit für alle Nachahmer einen Präzedenzfall geschaffen

Manchmal ist es eine empfehlenswerte Übung, sich die Tragweite einer Entscheidung vor Augen zu führen, indem man sie mit verkehrten Rollen noch einmal durchspielt. Wir neigen dazu, unsere Maßstäbe davon abhängig zu machen, ob uns das Ergebnis gefällt. Dann sagen wir: Es hat ja die Richtigen getroffen.

Nehmen wir an, die neue Innenministerin von der AfD hätte sich vor die Kameras gestellt und mit triumphierendem Lächeln erklärt: „Ich habe heute die linksradikale Berliner Tageszeitung ‚taz‘ verboten.“ Die „taz“ sei eine Brutstätte gefährlichen Gedankentums. Auf ihren Seiten würden Polizisten zu Müll erklärt. Die Redakteure zeigten Verständnis für linksautonome, anarchistische und andere staatszersetzende Positionen. Deutschland würde regelmäßig von Autoren als Ort beschrieben, den man abschaffen müsse.

Wie wohl in dem Fall die Reaktionen ausfallen würden? Ich bin sicher, Mediendeutschland stünde kopf. Es wäre von einem Anschlag auf die Pressefreiheit die Rede, der an fins-terste Zeiten erinnere. Überall fänden sich flammende Leitartikel, die Soli-darität mit den bedrängten Kollegen forderten – auch in Medien, die keinerlei Sympathie für das politische Programm der „taz“ hegen.

Vor anderthalb Wochen hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum Schlag gegen die rechtsextreme Zeitschrift „Compact“ ausgeholt. Sie hat die Redaktionsräume von einer Hundertschaft Polizei durchsuchen lassen. Der Chefredakteur wurde in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt und im Bademantel den Kamerateams vorgeführt, die am Gartenzaun warteten. Anschließend ließ die Ministerin die Konten beschlagnahmen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, abtransportieren – Computer, Schreibtische, sogar Bürostühle.

Genau genommen hatte die Innenministerin gar nicht das Recht dazu. Presserecht ist Ländersache. Presseerzeugnisse unterliegen außerdem einem besonderen Schutz, das gilt auch für Zeitschriften, die wie „Compact“ anti-semitische Verschwörungstheorien verbreiten. Die Obrig- keit kann gegen einzelne Ausgaben vorgehen, indem sie die Auslieferung stoppt oder die Schwärzung bestimmter Passagen verlangt. Das Verbot eines Presseorgans ist im Presserecht nicht vorgesehen.

Aber weil sie nun einmal beweisen wollte, wie knallhart sie sein kann, bediente sich Nancy Faeser eines Tricks: Sie stülpte das Vereinsrecht dem Presserecht über, indem sie offiziell gegen die Gesellschaft hinter der Zeitschrift vor-ging. Wobei, selbst hier musste sie sich die Dinge zurechtbiegen. Hinter „Compact“ steht gar kein Verein, sondern eine GmbH. Wie heißt es so schön: legal, illegal, scheißegal. Der alte Sponti-Spruch zieht noch immer, wie man sieht.

Die „taz“ ist nicht „Compact“. Darauf können wir uns sofort einigen. Die „taz“ ruft weder zum Sturz des Systems auf, noch verbreitet sie politische Wahnvorstellungen. Aber ob eine Innenministerin der AfD das auch so sehen würde? Das ist ja das Tückische, wenn man es als Demokrat mit Recht und Gesetz nicht so genau nimmt: Die von der Gegenseite merken sich das. Präzedenzfälle schaffen ein Vorbild, dem dann auch Leute nacheifern können, die noch viel weiter zu gehen bereit sind als man selbst. Das ist die Nebenwirkung des Präzedenzfalls.

Was reitet Frau Faeser, weshalb dieses Verbot? Niemand kann annehmen, dass eine Zeitschrift, deren Auflage bei 40000 Exemplaren liegt, so staatsgefährdend ist, dass man sie aus dem Verkehr ziehen muss. In Wahrheit ist der Adressat der Aktion auch nicht so sehr die rechte Szene, es ist vielmehr die eigene Anhängerschaft. Wenn es noch so etwas wie einen Kitt gibt, der die Sozialdemokraten zusammenhält, dann der Kampf gegen Rechts. Dem wird alles untergeordnet, auch die Verfassung. Woran man sieht: Eine große Partei, die den Abgrund vor Augen hat, kann mindestens so gefährlich sein wie eine Splitterpartei, die plötzlich zu viel Macht bekommt.

Es heißt jetzt, der Chefredakteur könne ja gegen die Entscheidung der Ministerin klagen. Nach Lage der Dinge stehen seine Chancen, vor Gericht recht zu behalten, nicht schlecht. Aber was nützt ihm das? Auch so kann man ein Presseorgan erledigen: Man macht den Laden einfach dicht und verweist auf den Rechtsweg. Wenn die Gerichte dann Monate später zu einer Entscheidung kommen, ist nichts mehr übrig, was zu retten sich lohnen würde.

Als Franz Josef Strauß den „Spiegel“ zu erledigen versuchte, indem er die Chefredaktion wegsperren ließ, war genau das die Frage: Kann man weiter ausliefern oder nicht? Dass nicht eine Ausgabe in der Druckerei hängen blieb, sicherte dem Blatt das Überleben. Schon eine verpasste Nummer hätte einen existenzgefährdenden Zahlungsausfall bedeutet, ein zeitweiliger Stillstand der Druckpressen das Aus. Auch das lässt sich auf das „taz“-Beispiel übertragen: Egal wie die Beleglage ist, durch ein Verbot schafft man Tatsachen, die anschließend kein Gericht mehr rückgängig machen kann.

Der Nachteil der Meinungsfreiheit ist, dass sie auch Leute für sich in Anspruch nehmen, deren Meinung man abscheulich findet. Ist „Compact“ ein Drecksblatt? Das ist es. Muss man an der Zurechnungsfähigkeit seiner Redakteure zweifeln? Man muss, unbedingt. Aber auch falsche, hetzerische und sogar offen feindselige Aussagen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das Bundesverfassungsgericht ging in einer Grundsatzentscheidung sogar so weit, selbst für die Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ein allgemeines Verbot auszuschließen.

Welchen Stellenwert der Pressefreiheit zukommt, kann man auch daran sehen, dass Journalisten mit dem Zeugnisverweigerungsrecht ein Privileg eingeräumt wird, dass ansonsten nur Ärzten, Anwälten und Geistlichen zusteht. Wer sich Journalisten anvertraut, soll sicher sein können, dass sein Name nicht bekannt wird. Das Redaktionsgeheimnis ist so etwas wie der Heilige Gral des Journalismus. Jeder Versuch, daran zu rühren, stieß bislang auf erbitterten Widerstand.

Und nun? Nun wurde bei der Durchsuchung der Räume der „Compact“-Redaktion auch dieses Geheimnis ausgehebelt. Das Vereinsrecht ist ein wunderbares Instrument, um alles zu schleifen, was eben noch als sakrosankt galt. Wäre ich Anwalt oder Arzt würde ich mir darüber Gedanken machen, ob ich wichtige Akten nicht beizeiten in Sicherheit bringen sollte.

Dass die Ministerin ein gesichert autoritäres Staatsverständnis hat, wie es im Verfassungsschutzdeutsch heißen würde, zeigt auch ein anderes Detail. Immer, wenn sich Frau Faeser als Verfassungsschützerin in Szene setzt, ist ein Pulk vor Fotografen und Kameraleuten vor Ort, um Livebilder vom Geschehen zu liefern. Das war so bei der angeblich streng geheimen Razzia gegen den Reichsbürger-Prinzen und seine Mitstreiter, so war es jetzt auch beim morgendlichen Besuch beim „Compact“-Chef.

„Perp Walk“ nennt man in den USA die öffentliche Vorführung des Verdächtigen. Es ist eine Prozedur, die allein dem Zweck der Demütigung des Beschuldigten dient. Auf dem Weg vom Gerichtssaal zum Auto wird der Presse Gelegenheit gegeben, den Verdächtigen abzulichten. Da die wenigstens Menschen vorteilhaft aussehen, wenn sie Handschellen tragen oder anderweitig in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, entstehen in der Regel Bilder zu ihrem Nachteil. Genau das ist intendiert.

Was immer am Ende von ihren Entscheidungen übrig bleiben wird: Frau Faeser kann sich rühmen, den Perp Walk in Deutschland verankert zu haben. Dieses Verdienst bleibt. Selbstverständlich kann sich auch die Ministerin nicht erklären, weshalb die Fotografen jedes Mal rechtzeitig ihre Stative in Position gebracht haben, wenn die Polizei auftaucht. Entsprechende Anfragen an das Ministerium wurden dahin gehend beantwortet, man stehe ebenfalls vor einem Rätsel.

Woran man sieht: Es sind nicht nur die besonders Schlauen und Gewieften, vor denen man sich in Acht nehmen muss, sondern mitunter auch die Biederen und Einfältigen. Oh Gott, habe ich etwa gerade über die Innenministerin gesagt, dass ich sie nicht für die hellste Kerze auf der Torte halte? Ich nehme das sofort zurück! Nicht dass morgens um sechs Uhr in der Früh meine beiden Chefredakteure aus dem Bett geklingelt werden, um sie wegen Herabwürdigung des Staates und ihrer Repräsentanten zu belangen.

© Silke Werzinger

Ich sehe Dich

Im Grunde halten viele Politiker den Wähler für käuflich: Man muss nur genug Sozialversprechen ins Schaufenster legen und schon fliegen einem die Herzen zu. Denkste! Wäre es so, hätten die Rechten keine Chance

Warum wählen Wähler das, was sie wählen? Die Frage scheint so selbstverständlich, dabei wird sie in Wahrheit selten gestellt, am wenigsten von Politikern. Man sollte meinen, dass sich Menschen, deren Karriere vom Wohlwollen der Bürger abhängt, mit nichts anderem beschäftigen. Aber weit gefehlt.

Das ist wie in vielen Redaktionen, wo die Frage, was die Leser interessiert, auch so gut wie nie vorkommt. Stattdessen kreisen die Gespräche meist um die Frage, was die Redakteure wichtig und richtig finden und wie man das dem Leser nahebringen könnte.

Wenn man Politiker fragt, was ihrer Meinung nach zählt, verweisen sie auf das Parteiprogramm. Oder sie sagen, es seien die Leute an der Spitze, auf die es ankommt.

Dass dies so einfach nicht sein kann, zeigt schon der Wahl-O-Mat, der regelmäßig vor Wahlen angeboten wird und eine Übersicht der wichtigsten Programmpunkte bietet. Der Reiz besteht dabei aus der Kluft zwischen der eigenen Parteipräferenz und der Empfehlung des Programms, nachdem man angekreuzt hat, was einem wichtig ist. Tatsächlich ist die Überraschung immer wieder groß, wie weit beides auseinanderliegen kann.

Viele verfolgen den Wahlkampf in den USA mit einer Intensität, als wären auch wir Deutsche im November zur Wahl aufgerufen. Den meisten gilt Donald Trump als elender Rassist und Sexist, der Amerika in eine faschistische Diktatur umbauen will – daran hat auch das Attentat auf ihn nichts geändert.

Mag sein, dass Trump ein unverbesserlicher Rassist ist. Dann wäre er im Erfolgsfall allerdings der erste Rassist, der seinen Wahlsieg unter anderem der Zustimmung unter Schwarzen und Latinos verdankt. Dass Trump gerade bei diesen Gruppen ungemein populär ist, findet wenig Beachtung, dabei liegt hier ein Schlüssel für seinen Erfolg.

Schon bei der letzten Wahl hat er unter Minoritäten so viele Anhänger hinzugewonnen wie seit langem kein republikanischer Kandidat mehr. Und der Trend hält an: Zum ersten Mal liegen die Republikaner in der Gunst nicht-weißer Wähler fast gleichauf mit den Demokraten.

Hat Trump mexikanische Einwanderer nicht als „Tiere“ bezeichnet? Ja, hat er. Hat er nicht immer wieder die Aufregung über rechtsradikale Aufmärsche für überzogen erklärt? Auch das. Aber erstens beziehen das seine Anhänger erkennbar nicht auf sich. Und zweitens scheinen ihnen andere Dinge wichtiger zu sein. Viele schwarze Wähler schauen auf Trump und sehen nicht den weißen Rassisten, sondern einen Politiker, der ihnen deutlich näher steht als der freundliche Großvater im Weißen Haus oder die Westküsten-Juristin Kamala Harris in ihren cremefarbenen Hosenanzügen.

Alles, was die linke Oberschicht verachtet – das Fake-Gold, die Liebe zu osteuropäischen Schönheitsköniginnen, der ganze Talmi-Bombast, der Trumps öffentliche Auftritte wie Swarovski-Kristall durchzieht – ruft bei ihnen nicht Spott, sondern Bewunderung bevor. Die Insignien von Macht und Reichtum sind Codes, die sie mühelos entziffern können. Auch die Sprache, die eher an einen Rapsong als an eine politische Rede erinnert, ist ihnen vertraut. Trump mag gnadenlos ichbezogen sein, autoritär, rachsüchtig, kindisch. Aber er schaut nicht auf die Leute herab, die ihn wählen, das ist sein großer Trumpf.

Dass die Wähler weniger kalkulierbar sind als in der politischen Theorie vorgesehen, ist ein altes Bekümmernis der Linken. Seit ich denken kann, herrscht ungläubiges Kopfschütteln, weshalb die sogenannten kleinen Leute für konservative Parteien stimmen, obwohl die doch ihre Interessen verraten würden. Wie Arbeiter einen Mann wie Helmut Kohl wählen konnten, vermochten schon meine Eltern nicht zu verstehen.

Im Grunde halten viele Politiker den Wähler für käuflich. So wie sie es sehen, muss man nur genug Sozialversprechen ins Schaufenster legen und schon fliegen einem die Herzen zu. Also versprechen sie mehr Rente, mehr Kindergeld, mehr BAföG, mehr Bürgergeld. Dass die ganze Sache ein bisschen wie ein Enkeltrick funktioniert, weil die Beschenkten die Geschenke über höhere Steuern am Ende selbst zahlen müssen, lässt man gnädigerweise unter den Tisch fallen.

Wie es aussieht, sind die Bürger sehr viel weniger bestechlich, als man in den Parteien annimmt. Wenn es aber nicht so sehr materielle Interessen sind, die den Wähler an die Wahlurne bringen, was dann? Ich würde sagen, es geht in erster Linie um Anerkennung. Wenn es einen Satz gibt, der im Wahlkampf geradezu magische Wirkung entfaltet, dann ist es der Satz: „Ich sehe Dich“. Das ist das größte Versprechen, das ein Politiker machen kann: Wertschätzung für die Lebenswelt derer, die er vertritt.

Die Leute sind nicht einfältig. Sie wissen, dass Politik nicht von heute auf morgen ihre Lebensumstände verbessern kann. Wenn sie an den Wahlplakaten vorbei fahren, in denen Kitaplätze oder bezahlbare Mieten für alle versprochen werden, denken sie sich ihren Teil. Vielen reicht es schon, wenn die Politik ihnen das Leben nicht noch schwerer macht, als es ohnehin ist. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt. Nicht von ungefähr haben viele Menschen den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg geredet und gehandelt wird.

Die Achillesferse der Linken war immer ihre Volksverachtung. Abstrakt gesehen sind gerade Linke Riesenfans des einfachen Volkes. Aber wenn es konkret wird, bekommen sie Beklemmungen. Unvergessen ist bis heute die Bemerkung des heiligen Barack Obama, wonach sich die Leute in der Provinz in ihrer Verbitterung an Waffen und Glauben klammern würden. Auf hiesige Verhältnisse übertragen wären das Gasgrill, Pappbecher und Verbrenner.

Warum sind bei der Europawahl ein Drittel der Arbeiter zur AfD übergelaufen? Weil ihnen die AfD höheren Mindestlohn und mehr Bürgergeld verspricht? Sicher nicht. Im Zweifel gibt es bei der AfD von allem weniger. Was den ökonomischen Teil angeht, ist die AfD in weiten Teilen eine neoliberale Partei. Dennoch hat sie gerade in der Arbeiterschicht so stark zugelegt wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe.

In der SPD kann man sich den Wählerschwund nur damit erklären, dass die Leute nicht wissen, was sie tun. In einer gefeierten Kampagne ließ sie fiktive AfD-Wähler darüber klagen, wie sie nach einem AfD-Wahlsieg feststellen, was ihnen alles weggenommen wurde. In Werberkreisen galt das als geniale Aktion. Ich dachte nur: Wenn man den Leuten vor Augen führen will, dass man sie für blöd hält, macht man solche Plakate.

Die „Zeit“ hat neulich eine Reporterin losgeschickt, um sich bei Migranten umzuhören, weshalb sie AfD wählen. Eine noch größere Provokation als AfD-freundliche Arbeiter sind Deutsch-Türken, die rechts wählen. Ausgerechnet Menschen, von denen es heißt, sie seien so marginalisiert, dass sich ein Dutzend Antidiskriminierungsstellen um sie kümmern müssen, wählen eine Frau wie Alice Weidel? Antwort in der „Zeit”: Aber sicher. Wir haben die Faxen dicke, dass immer mehr Leute nach Deutschland kommen. Und dass Einwanderer mit Bürgergeld zugeschüttet werden, wo wir uns den Buckel krumm arbeiten mussten, stinkt uns auch.

In den Medien dominiert die junge, weibliche und unendlich woke Migrantin, die sich nicht nur als post-binär, sondern auch als post-familiär definiert. Aber das ist eine überschaubare Minderheit. Die meisten Migranten sind erstaunlich konservativ. Man kann ihnen tausendmal erklären, dass sie bei den Grünen viel besser aufgehoben seien – sie sehen das grüne Pfarrhaus und sagen sich: Das ist nichts für uns.

In Wirklichkeit ist die migrantische Kultur von allen Versuchen, sie zu domestizieren, weitgehend unberührt geblieben. Wer hier gendert, leidet an einem Sprachfehler. Bei toxischer Männlichkeit denken die meisten im Viertel an den letzten Hangover nach einem wilden Abend mit den Kumpeln. Man muss nur einen Nachmittag am Ku’damm verbracht haben, wo junge, akkurat frisierte Männer in weißen Trainingsanzügen lässig an ihren tiefergelegten Mercedes-AMG lehnen und man ahnt: Hier wird Ricarda Lang nie eine Stimme einsammeln.

Ich weiß, der junge migrantische Mann gilt unter Konservativen nicht als Hoffnungsträger. Aber vielleicht sollte man hier, auch mit Blick auf die USA, umdenken.

© Michael Szyszka

Die Einsamkeit der linken Frau

Viele progressiv eingestellte Frauen klagen darüber, dass sie keinen adäquaten Partner finden. Unfreiwilliges Zölibat aus politischer Frustration: ein wachsendes Problem. Dabei läge die Lösung so nahe

Dunkle Wolken am Datinghimmel. „Haben heterosexuelle Beziehungen noch eine Zukunft“, fragt der „Spiegel“, Deutschlands führendes Nachrichtenmagazin für die existenziellen Nöte und Fragen unserer Zeit.

Die Redakteurin Tessniem Kadiri hat sechs junge Frauen befragt, wie es ihnen bei der Liebesanbahnung ergeht. Unnötig zu sagen, dass alle Gesprächspartnerinnen sehr weit links stehen und das auch sofort und gerne bekennen. Die Männer, denen sie begegneten, erwiesen sich hingegen als weniger aufgeklärt, als der Erstkontakt hatte erwarten lassen.

Alle Datingpartner sagten zwar, dass sie ebenfalls links eingestellt seien, aber dann taten sich erschreckende Lücken auf. Ein Mann zeigte sich ahnungslos, was eine Schwangerschaft für eine Frau bedeute und wie sich ihr Leben dadurch ändere. Ein anderer hatte sich keine Gedanken über die Privilegien gemacht, die er als weißer Mann genieße. Ein dritter fand, dass der Hauptfeind der Kapitalismus sei und nicht der Rassismus oder Sexismus.

„Den treffe ich jetzt noch, und dann gebe ich auf“, erklärte eine der Frauen enttäuscht – so lautete auch die Überschrift des Textes. Unfreiwilliges Zölibat aus politischer Frustration: Kein Wunder, dass man beim „Spiegel“ ins Grübeln kommt, ob Datingdeutschland noch zu retten ist.

Wie unterschiedlich darf man sein? Das ist eine Frage, über die es sich nachzudenken lohnt. Die landläufige Auffassung geht dahin, dass ein harmonisches Liebesleben auch einen Gleichklang in weltanschaulichen Fragen voraussetzt.

Die „Financial Times“ hat neulich eine viel beachtete Studie veröffentlicht, wonach Männer und Frauen politisch auseinanderdriften. Die Frauen werden immer linker, die Männer immer rechter. Wenn sich die Entwicklung fortsetzt, muss man sich um die Höhe der Reproduktionsrate keine Gedanken mehr machen, so die unausgesprochene Schlussfolgerung. Dann ist es mit der Familienplanung ein für alle Mal vorbei.

Das Thema Dating beschäftigt mich, seit ich mich vor Jahren bei Parship anmeldete. Meine Frau hatte mich nach 14 Jahren Ehe verlassen – für einen deutlich jüngeren Mann, wie sich herausstellte. Auch dies übrigens ein interessanter Gender-Gap: Wenn ein Mann seine Frau für eine jüngere Frau verlässt, heißt es: „Das Schwein, der hat wohl Probleme mit dem Älterwerden.“ Tritt der umgekehrte Fall ein, lautet die Reaktion: „Ach, wie schön, sie ist ihrem Herzen gefolgt.“

Ich habe kurzzeitig überlegt, eine Kolumne über meine Erfahrungen an der Datingfront zu schreiben. Einen Titel hatte ich schon: „52 Dates“– jede Woche eine neue Begegnung. Ich glaube, das Ganze wäre rasend erfolgreich gewesen, bei den Onlinern waren sie jedenfalls total begeistert. Aber ich habe dann doch zurückgezuckt. Um nicht aufzufliegen, hätte ich ein Profil komplett neu erfinden müssen, und das erschien mir etwas fragwürdig.

Parship wirbt damit, dass es einen Algorithmus entwickelt hat, der für dauerhaftes Liebesglück sorgt. Menschen zusammenzubringen, ist nicht schwer. Jeder Esel kann sich verlieben. Den Rest besorgen die Hormone. Aber dabei zu helfen, dass Menschen zusammenbleiben, wenn sich der Liebessturm gelegt hat, das ist die Kunst. Deshalb denken Partnerbörsen die Liebe vom Ende her. Sie fragen nicht, warum sich Menschen verlieben. Sie fragen sich, was sie zusammenhält.

Weil ich mehr über die Mathematik hinter dem Matchingprozess wissen wollte, habe ich eine Expertin befragt, die für Datingportale wie Parship die Anbahnung steuert. Um Konfliktpotenziale zu identifizieren, müssen die Mitglieder bei Anmeldung einen Psychotest mit 80 Fragen ausfüllen, der Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeitsstruktur zulässt. Anders als man vermuten sollte, achten die Partnerbörsen darauf, dass sich An- und Abstoßung in etwa die Waage halten. Die Partner dürfen sich auch nicht zu ähnlich sein, sonst entsteht Langeweile. Wer in allem übereinstimme, verliere schnell die Lust am Leben zu zweit.

Zwei Drittel Übereinstimmung, ein Drittel Abweichung, das ist die Zauberformel für eine glückliche Beziehung, wenn man den Matchingexperten glauben darf. Jedenfalls im Prinzip. Was den Wunsch nach Nähe angeht, sollten Paare ähnliche Ansprüche haben, da seien zu unterschiedliche Vorstellungen Gift. Beim Konfliktverhalten wiederum sei unbedingt auf Unterschiedlichkeit zu achten. Wenn beide Partner zu Starrköpfigkeit neigen, wird der Beziehung kein langes Leben beschieden sein.

Wie viel Fremdheit halten wir aus? Ich saß neulich neben einem Ehepaar, das gerade eine Art politische Beziehungskrise durchlebte. Sie bekannte an dem Abend mehr oder weniger freimütig, ab jetzt nur noch AfD wählen zu wollen. Er, ein bekannter Fernsehmoderator, saß daneben und sagte kein Wort. Offenbar war das seine Lösung für den Konflikt: über das Bekenntnis seiner Frau einfach hinwegschweigen.

Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde, wenn meine Frau mir eröffnen würde, dass sie ihr Herz für die AfD entdeckt hat. Dass jemand aus einem Impuls heraus sagt: Jetzt wähle ich die Weidel, das verstehe ich. Ich habe mich selbst schon dabei erwischt, wie ich dachte, wenn es so weitergeht, brauchen die in Berlin wirklich mal eine Abreibung. Aber nachdem der Zorn verraucht war, habe ich mich wieder beruhigt.

Kurioserweise wird uns ja laufend gepredigt, Fremdheit zu akzeptieren. Ein wiederkehrendes Motiv moderner Komödien ist der Zusammenprall von Kulturen. Ein Flüchtling zieht bei einer Münchner Mittelschichtsfamilie ein und konfrontiert sie mit ihren uneingestandenen Vorurteilen. Ein Behinderter und ein Schwarzer freunden sich an und werden allerbeste Freunde. Am Ende steht die Erkenntnis, wie ungemein bereichernd Andersartigkeit sein kann. Nur im Politischen wollen wir das nicht gelten lassen. Wenn es da wirklich fremd wird, nehmen auch viele gebildete Menschen Reißaus.

Ein großes Thema in den Medien ist das Unglück erfolgreicher Frauen. Gut aussehend, kultiviert, im Rücken eine makellose Karriere – aber Single: Das ist inzwischen ein eigenes Subgenre des Kulturreports. Auch die sechs Frauen, die ihre Liebesprobleme im „Spiegel“ schilderten, sind alle attraktiv und verfügen über einen prima Job.

Es ist nur eine Vermutung, aber möglicherweise tun sich Männer in Beziehungsfragen leichter, weil sie pragmatischer sind. Frauen sind, was das Alter angeht, erstaunlich realistisch. Eine Vierzigjährige käme nie auf die Idee, nach einem Zwanzigjährigen zu suchen. Nicht, weil sie es nicht könnte, sondern weil sie es in der Regel nicht wollte. Dafür sind Frauen extrem wählerisch bei der Ausbildung. Frauen wollen einen Partner, der mindestens so gebildet ist wie sie. Und gleich viel verdient. Und natürlich ihre kulturellen Interessen teilt.

Dummerweise verknappen sie damit auf dramatische Weise das zur Verfügung stehende Angebot. Schon heute überwiegt die Zahl der weiblichen Hochschulstudenten. Wenn alle Frauen mit Hochschulabschluss einen Partner suchen, der mindestens über den gleichen Bildungsabschluss verfügt, müssen viele leer ausgehen. Das ist mathematisch unausweichlich.

Ich will nicht ohne einen positiven Ausblick enden. Zu den überraschendsten Erkenntnissen der Paarforschung gehört der Befund, dass arrangierte Ehen nicht unglücklicher sind als sogenannte Liebesheiraten. Gibt es etwas, was aus westlicher Sicht empörender ist als die Vorstellung, dass es Eltern oder Verwandte in die Hand nehmen, für ihr Kind den richtigen Partner auszusuchen? Alles, was uns wichtig ist – Selbstbestimmung, Emanzipation, persönliche Freiheit – wird mit Füßen getreten.

Dennoch scheint es zu funktionieren, das ist das Verrückte daran. Die Vernunftehe erweist sich nicht nur als stabiler – sie ist, wenn man den Selbstauskünften trauen kann, auch nicht weniger erfüllend. Wenn man Menschen befragt, die in eine arrangierte Ehe eingewilligt haben, lautet die Antwort, dass die Liebe mit der Zeit gekommen sei.

Vielleicht gibt es also doch noch Hoffnung, auch für progressive Frauen. Sie legen die Partnerauswahl einfach in die Hände der Eltern. Dann klappt’s auch mit dem Liebesglück.

© Sören Kunz

Unser Joe

Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche wie Joe Biden. Aber die Entrücktheit und Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm

Also Harald Staun, der Medienkritiker der „FAS“, glaubt bestimmt noch an Joe Biden. Die Diffamierung als seniler Mann sei eine beliebte Waffe seiner politischen Gegner, schrieb er vor drei Wochen, als im Netz Bilder auftauchten, auf denen der Präsident nach einem imaginären Stuhl griff. Fast immer erwiesen sich die Videos, in denen Biden scheinbar desorientiert wirke, im Nachhinein als Fälschungen oder aus dem Kontext gerissene Szenen.

Auch Olaf Scholz steht weiter zum amerikanischen Präsidenten, wie ich doch annehmen möchte. Biden sei im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erklärte der Kanzler am Rande des G7-Gipfels in Bari: „Das ist ein Mann, der genau weiß, was er tut.“ Ich habe die „Zeit“ noch nicht konsultiert, auch dies eine wichtige Stimme, wenn es darum ging, Zweifel am Gesundheitszustand des Anführers der freien Welt zu zerstreuen. Aber ich bin sicher, sie wird mir sagen können, weshalb Joe Biden trotz allem der richtige Mann am richtigen Platz ist.

Gut, dass es die Unterstützung aus Deutschland gibt. Darüber hinaus sieht es für den US-Präsidenten leider schlecht aus. Selbst langjährige Anhänger sind nach der TV-Debatte abgefallen. Zu alt, zu tattrig, zu verwirrt lautete das Urteil nach 90 Minuten. In gleich fünf Beiträgen legte die „New York Times“, bislang stets eine verlässliche Bank, dem 81-Jährigen nahe, für einen jüngeren Kandidaten Platz zu machen.

Ich habe mir die vollen 90 Minuten angesehen. Noch beunruhigender als die Aussetzer fand ich den leeren Gesichtsausdruck, mit dem Biden ins Studio starrte, wenn sein Gegenspieler an der Reihe war. Jeder, der sich gezwungen sah, seine Eltern im Altenheim unterzubringen, kennt diesen Ausdruck. Es war das Gesicht eines Menschen, der sich verzweifelt fragt, wo er eigentlich ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihn jemand abholt und nach Hause bringt.

Was haben sich die Berater gedacht, als sie dem Fernsehduell zustimmten? Und wer wusste alles Bescheid, wie es um Joe Biden wirklich steht? Das sind die Fragen, die sich jetzt stellen.

Bislang galt die Zwei-Biden-Theorie. Neben dem öffentlichen Biden, also dem Mann, der mit den Toten redet, imaginäre Stühle sucht und zu früh aus dem Bild läuft, wenn man ihn nicht aufhält, existiere ein zweiter, geheimer Biden im Weißen Haus, verbreiteten die Demokraten. Dieser Arbeits-Biden sei wahnsinnig präsent und detailfixiert, treibe die Mitarbeiter zu Höchstleistungen und überrasche selbst Experten mit seinem Scharfsinn. Diese Scharade ist nun krachend ans Ende gekommen.

Wir sollten nicht zu spöttisch reden, auch wir haben unseren Joe. Unser Joe heißt Olaf. Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche, aber die Entrücktheit und die Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm. Wo Biden in die Luft starrt, lächelt Scholz alles weg. Wo der amerikanische Präsident einfach so weitermacht, als sei nichts geschehen, verteilt Scholz Selfies.

Die SPD fährt bei einer bundesweiten Wahl das schlechteste Ergebnis seit 1887 ein? Pah, es kommen auch wieder andere Zeiten. Ob er einen Kommentar habe? Nö. Es gab dann mit zwei Tagen Verspätung doch noch einen Kommentar. Quintessenz: Es ist schlecht, aber es wird gut.

Auch die Sozialdemokraten haben inzwischen eine Zwei-Körper-Theorie, an der sie sich festhalten. Hinter verschlossenen Türen sei der Kanzler mitreißend, führungsstark und zugewandt, ein Politiker, der in klaren Sätzen sage, wo es hingehen solle – so konnte man dieser Tage über den „Drinnenolaf“ lesen. Die Öffentlichkeit hingegen bekomme statt des „Drinnenolaf“ leider nur den „Draußenscholz“ zu sehen, der mit seiner spröden Art selbst treue Gefolgsleute zur Verzweiflung treibe.

Mag sein, dass es zwei Olafs gibt, so wie es ja bis zum Wochenende auch zwei Bidens gab. Für sehr viel naheliegender halte ich allerdings die Vermutung, dass der Mann, den man sieht, weitgehend identisch ist mit dem Mann, der das Land führt.

Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit gehört zum Geschäft. Wenn Sie sich als Kanzler von jeder schlechten Nachricht aus dem Konzept bringen lassen, können Sie das Regieren einstellen. Aber diese Regierung hat die Wirklichkeitsabgewandtheit noch einmal auf eine ganz neue Ebene gebracht.

Das Unglück will es, dass die Führung eines Landes die Isolation verstärkt. Wer einmal das Kanzleramt erreicht hat, lebt in einer anderen Welt. Der Apparat ist darauf ausgerichtet, seinen Bewohner von der Außenwelt abzuschirmen.

Das Zimmer des Kanzlers ist mit 142 Quadratmetern so groß wie ein Einfamilienhaus, Besucher müssen durch mehrere Sicherheitsschleusen. Aktenvorgänge werden ihm so präsentiert, dass er mit wenigen Blicken erfasst, was er wissen muss, inklusive der Antworten. Selbstverständlich bewegt sich der Regierungschef auch mit Lichtgeschwindigkeit durchs Land. Dass man stundenlang am Gleis stehen kann, weil der Zug umgeleitet wurde oder irgendwo mit Triebwerksschaden hängen geblieben ist, davon weiß er theoretisch. Schließlich war davon ja mal in der Presselage die Rede. Am eigenen Leib erfährt er davon nichts.

Hin und wieder geht es raus ins Land. Aber auch dort trifft man als Regierungschef in der Regel nur auf Menschen, die um Selfies bitten und ansonsten wahnsinnig stolz sind, dass der Kanzler da ist. Wenn er Krakeeler sieht, dann lediglich als Kulisse bei Wahlkampfauftritten. Näher als zwei Meter kommen ihm solche Schreihälse nicht, dafür sorgt die Sicherheit. Und falls doch mal jemand durchrutschen sollte, wird er mit schmerzhaftem Griff weggeführt.

Auch im Kontakt mit Wirtschaftsführern zieht sich Scholz immer mehr in seine eigene Wahrnehmungswelt zurück. Neulich traf er auf die Vertreter einiger großer Personalvermittlungsfirmen. Sie trugen ihm die Lage vor, auch die Sorge, dass sich die Arbeitslosigkeit sprunghaft verstärken könnte, wenn die Regierung nicht gegensteuert. Scholz hörte sich alles ruhig an, dann sagte er, man solle den Standort Deutschland nicht so schlecht reden. Das war seine Antwort auf die Zustandsbeschreibung der Fachleute. Der Mann, der mir von der Begegnung berichtete, war ernsthaft erschüttert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir die Geschichte erzählte, um sich wichtigzumachen.

Wenn man mit den Leuten des Kanzlers spricht, wie es weitergehen soll, dann klammern sie sich an zwei Hoffnungen. Die eine heißt Friedrich Merz. Wenn die Leute im September kommenden Jahres gezwungen seien, sich zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, werde sich die Waage zu Gunsten von Scholz senken. Die andere Hoffnung läuft unter dem Codewort „Populismus der Mitte“. So heißt die V2, die den Gegner und sein Programm pulverisieren soll. Wer weiß, vielleicht klappt es ja dieses Mal mit der Wunderwaffe, aber ich habe da Zweifel.

In den USA überlegen sie jetzt fieberhaft, wie sie Biden doch noch ersetzen können. Die neuesten Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner sich sagt: Lieber einen Mafiaboss im Weißen Haus als einen Greis, der den Lichtschalter nicht findet. So oder so sind die Aussichten für die Demokraten düster. Im August ist der Nominierungsparteitag, drei Monate später wird schon gewählt. Selbst wenn es gelingen sollte, Biden gegen einen jüngeren Kandidaten auszutauschen, hätte der kaum noch Gelegenheit, sich beim Wahlvolk bekannt zu machen.

Die SPD hätte genug Zeit für einen Wechsel an der Spitze, das ist die gute Nachricht. Die Sozialdemokraten verfügen außerdem über einen Alternativkandidaten, der nicht nur bekannt ist, sondern auch noch beliebt. Ja, man glaubt es kaum, aber mit Boris Pistorius stellt die SPD den beliebtesten Politiker Deutschlands. Der Verteidigungsminister verkörpert alles, was Scholz fehlt: Er ist führungsstark, zupackend, dazu mit einer klaren Sprache gesegnet. Und das Beste ist: Er ist das sowohl drinnen wie draußen.

© Silke Werzinger

„Ihr könnt Rainer zu mir sagen“

Wenn es eine Bastion gibt, in der die Linken noch unangefochten das Sagen haben, dann die Hochschule. Deshalb reagiert der Uni-Betrieb auch so allergisch, wenn jemand die Privilegien in Frage stellt

Was die beiden großen, politischen Lager unterscheidet? Zum Beispiel, dass Konservative denken, sie könnten ihre Kritiker besänftigen, indem sie ihnen entgegenkommen. Linke kämen nie auf diese Idee. Sie wissen, wenn sie einknicken, wird ihnen das als Schwäche ausgelegt. Deshalb kämpfen sie bis zum Schluss.

Die Bundesbildungsministerin hat ihre Staatssekretärin entlassen, um sich Luft zu verschaffen. Sie dachte, man würde es ihr positiv anrechnen, wenn sie ihre Mitarbeiterin unter den Bus schubst. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Jetzt wird erst recht ihr Rücktritt verlangt. Wer hätte das gedacht?

Ich habe als Journalist eine Reihe von Affären verfolgt. Meist geht es um persönliche Verfehlungen. Ein Politiker hat etwas angenommen, was er besser abgelehnt hätte. Er hat eine Reise gemacht, für die er nicht den vollen Preis entrichtet hat, oder eine andere Vergünstigung erhalten. Nachdem die Sache ans Tageslicht gekommen ist, versucht man ihm aus der Vorteilsannahme einen Strick zu drehen. Das ist der Klassiker.

Seltener ist das Amtsvergehen, also eine Entscheidung, die als so problematisch empfunden wird, dass sie den Politiker ins Straucheln bringt. Die voreilige Entlassung des Viersternegenerals Günter Kießling durch den damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner war so ein Fall.

Jemand hatte über Kießling in Umlauf gebracht, er sei schwul – damit galt er als Sicherheitsrisiko, weil angeblich erpressbar. Wie sich herausstellte, stimmte nichts. Wörner konnte sich dennoch halten, weil der Kanzler an ihm festhielt. Ob Frau Stark-Watzinger, die Bildungsministerin mit der geschassten Staatssekretärin, sich wird halten können, wird noch zu sehen sein.

Die Ministerin hatte angeregt, Professoren, die ihre Solidarität mit schwer antisemitisch tätigen Studenten bekundeten, auf die Verfassungstreue überprüfen zu lassen. Ihre Staatssekretärin hatte außerdem um eine Liste der Fördergelder gebeten, die diesen Professoren gewährt wurden. Ich würde sagen, wer Straffreiheit für Studenten fordert, die die Zimmertür von Dozenten mit dem Terror-Zeichen der Hamas markieren, muss sich ein paar Fragen gefallen lassen. Aber darüber gab es nicht einmal eine Diskussion. Stattdessen wurde sofort eine Unterschriftenliste aufgesetzt – gegen die Ministerin.

Wenn es eine Bastion gibt, in der die Linken noch unangefochten das Sagen haben, dann die Hochschule. Es mag Professoren geben, die nicht links sind und das auch bekennen. Aber in der Öffentlichkeit hört und sieht man von ihnen so gut wie nichts. Eigentlich müsste man sie unter Artenschutz stellen. Aber so denken Unileitungen nicht. Das Bekenntnis zur Vielfalt gilt selbstverständlich nur, solange es zur eigenen Agenda passt.

Viel war in den vergangenen Tagen von der Wissenschaftsfreiheit die Rede, die es zu verteidigen gelte. Die Misstrauenserklärung der Ministerin sei der Versuch, diese Freiheit auszuhebeln, lautet der Vorwurf. So steht es auch in den Zeitungen, so erklären es ihre Kritiker.

Wissenschaftsfreiheit? Kommt drauf an, wen man fragt. Der akademische Mittelbau kann damit schon mal nicht gemeint sein. Niemand ist der Willkür so ausgeliefert wie Postdoktoranden, die sich von Projekt zu Projekt hangeln. Arbeitsschutz, Kündigungsschutz? Da kann man in diesem Milieu, das immerhin annähernd 200000 Menschen umfasst, nur lachen.

Als ordentlicher Professor ist man von beneidenswerter Unabhängigkeit, ähnlich dem Richter. Dem kann auch niemand mehr etwas sagen, nicht einmal, wie lange er zu arbeiten hat. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Davor liegen Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter, in denen man komplett vom Wohlwollen und der Protektion des Professors abhängt, an dessen Lehrstuhl man forscht.

Ein Fingerzeig, weil man sich zum Beispiel als politisch unzuverlässig erwiesen hat, und man steht auf der Straße. Deshalb hat sich an den Universitäten ein grauenhaftes Duckmäusertum breitgemacht. Wer den Kopf rausstreckt, riskiert seine Karriere, bevor sie richtig begonnen hat.

Ein zentrales Ziel der Linken war immer die Eroberung der Zitadellen der Erziehung. Die Ausbildung der Jugend in die Hände zu bekommen, davon träumten bereits die Achtundsechziger, jene sagenumwobene Aufbaugeneration, die ihren Aufstieg nicht von ungefähr aus dem Hörsaal begann. Außerdem galt die Wirtschaft als ein zu rauer Ort, wo einem Kapitalismuskritik nicht wirklich weiterhalf.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie die ersten Achtundsechziger als Referendare im Klassenzimmer auftauchten, und dann als Lehrer. „Ihr könnt Rainer zu mir sagen“, war der Satz, mit dem sich der neue Deutschlehrer vorstellte. Dass es mit dem lockeren Umgangston oft nicht weniger autoritär zuging, nur jetzt eben weniger offen, auch das bekamen wir bald spitz.

Noch attraktiver als die Schule war selbstverständlich die Hochschule. Was lag näher als die Universitäten des Landes zu Selbstversorgungsinstitutionen umzubauen, schließlich hatte man hier schon den Fuß in der Tür. Jetzt musste man nur dafür sorgen, dass einen niemand mehr vertrieb.

Mit der akademischen Prüfungsordnung, die vor der Berufung ins Professorenamt das Verfertigen einer Habilitationsschrift verlangte, wurde man auf pragmatischem Weg fertig. Neben die Habilitation trat die Möglichkeit „kumulativ“ zu habilitieren. Von nun an reichte auch ein Bündel verstreut publizierter Aufsätze, um als ordentlicher Professor an eine deutsche Universität berufen zu werden.

Der Effekt war unmittelbar spürbar. Die Zahl der Professoren stieg in nur sieben Jahren, zwischen 1972 und 1979, um 35 Prozent – eine Stellenexplosion, die es so nicht ein zweites Mal gab und ganze Studienzweige für die nächsten 30 Jahre gegen den Nachwuchs versiegelte.

Aus einem unerfindlichen Grund haben sich die Konservativen nie im gleichen Maße für die Bildung interessiert. Der letzte Kanzler, der das Thema ernst nahm, war Helmut Kohl. Der Mann war promovierter Historiker, im Gegensatz zu seinen Nachfolgern hatte er noch ein Gefühl für die Bedeutung der Geisteswissenschaft. Angela Merkel konnte mit Konservativen ohnehin nie etwas anfangen, mit Sprache schon gar nicht.

Wie wenig Bildung im konservativen Kanon in Wirklichkeit zählt, sieht man regelmäßig in Koalitionsverhandlungen. Bei der Verteilung der Kabinettsposten greifen Union und FDP zunächst nach dem Finanz- oder Wirtschaftsressort, das Wissenschaftsressort landet meist in den Händen eines Sozialdemokraten oder Grünen.

Ich halte das für einen kapitalen Fehler. Man sieht in den USA, wohin es führt, wenn man die Hochschulen sich selbst überlässt. Dann endet man bei einer Generation von Verirrten und Verwirrten, die die Muslimbrüderschaft für eine Wohltätigkeitsorganisation hält und Israel für einen Nazi-Staat.

Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit? Wenn es jemanden gibt, der völlig gefahrlos noch den größten Unsinn verzapfen darf, dann der deutsche Professor. Das Einzige, was einen als W2-Prof heute aus der Bahn werfen kann, ist ein Me-Too-Verfahren. Aber ansonsten? Daher hat auch nicht die Überprüfung der Verfassungstreue den Betrieb aufgescheucht, das sitzt man locker aus. Es war die Androhung, die Fördermittel zu kürzen, die die linken Akademiker auf die Zinne trieb. Bei den Subventionen hört der Spaß auf.

Manchmal sind Dinge, die wahnsinnig kompliziert erscheinen, in Wahrheit ganz einfach. Eine Unipräsidentin, der antisemitische Tweets gefallen, ist weiter im Amt. Eine Staatssekretärin, die damit aufräumen wollte, ist raus. Das ist die Lage. Dass es ausgerechnet die FDP war, die dazu die Hand reichte, ist eine traurige Erkenntnis, die weit über den Tag hinaus Wirkung entfalten wird.

Wie gesagt: Wenn es darum geht, mal einen Strauß auszufechten, sind viele Liberale zu ängstlich und zu weich. Das bekommen nur Linke hin. Deshalb sind sie ja auch da, wo sie sind.

© Michael Szyszka

Punk!

Die Grünen sind arg gebeutelt, überall Ärger und Rückschläge. Und nun noch das: Ausgerechnet in der Generation Z, auf der alle Hoffnungen ruhten, legt die AfD am stärksten zu. Was ist bloß mit der deutschen Jugend los?

Neulich saß ich neben Joschka Fischer. Ich war mit meinem Freund Jakob Augstein im Baba Angora in Berlin-Charlottenburg zum Mittagessen verabredet. Am Nebentisch: unser ehemaliger Außenminister. Er gab die folgenden 90 Minuten nicht zu erkennen, ob er uns wahrgenommen hatte, aber beim Herausgehen nickte er uns kurz zu. Schwer zu sagen, was sein Nicken bedeuten sollte: „Ach, Ihr Arschgeigen auch hier.“ Oder: „Die Zeit tilgt alle Sünden.“

Wir haben uns nichts geschenkt, so viel kann man sagen. Ich kann mich an keinen Minister erinnern, der Journalisten so unflätig behandelt hat wie Fischer. Dafür haben wir es ihm mit der Visa-Affäre heimgezahlt. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen: Ein „Spiegel“-Titel plus Untersuchungsausschuss, weil an der Deutschen Botschaft in Kiew ein paar Tausend Visa zu leichthändig vergeben worden waren.

Aber auch das nahm Fischer sportlich. Er stellte sich vors Außenministerium und sagte mit der typischen Fischer- Arroganz: „Schreiben Sie einfach: Fischer ist schuld.” Was soll man da noch sagen? Manche Affären erledigen sich, indem man die Nerven behält – eine Lehre, die heute insbesondere bei Liberalen komplett in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Es tut mir weh, das konzedieren zu müssen: Aber Fischer hatte eine Coolness, die nach ihm kaum ein Politiker mehr erreicht hat. Er war ein Kotzbrocken und Egomane, der seine Herkunft als Frankfurter Straßenschläger nie ganz verheimlichen konnte (und auch nicht wollte). Wer einmal mit ihm zu Abend gegessen hat, wird diesen Abend schon wegen der verheerenden Manieren nie vergessen.

Aber besser Straßenschläger als Gouvernante, muss man im Nachhinein sagen. Den Unsinn, den seine Nachfolgerin vom Stapel lässt, wäre ihm nie über die Lippen gekommen.

Außerdem war auf ihn Verlass, wenn es ernst wurde. Fischer war schon gegen den Antisemitismus bei den Linken, als alle noch dachten, den gäbe es nur rechts. Als ein deutsches Terrorkommando im Juli 1976 bei dem Versuch, die palästinensischen Kameraden mit der Geiselnahme von Juden zu beeindrucken, erschossen wurde, lautete sein Kommentar: „Das geschieht denen recht”. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was er als Außenminister dazu gesagt hätte, dass mit deutschem Steuergeld Terrorunterstützerorganisationen wie die UN querfinanziert werden.

Heute stehen an der Spitze der Grünen lauter wahnsinnig bemühte, unendlich brave Menschen, die selbstverständlich nie auf die Idee kämen, Journalisten als Fünf-Mark-Nutten zu beschimpfen oder einen Bundestagsvizepräsidenten als Arschloch. Aber vielleicht ist das ja genau das Problem.

Die Grünen sind der alte weiße Mann der Politik. Keine Partei hat bei den Europawahlen unter jungen Menschen einen solchen Absturz hingelegt. Minus 23 Prozent, das hat nicht mal die SPD hinbekommen. Und die hat sich nun wirklich alle Mühe gegeben, jeden Minusrekord zu brechen.

Ich glaube, der Absturz ist in seiner Bedeutung noch nicht richtig verstanden. Man kann kaum überschätzen, was es für eine Bewegung, die sich auf ihre Jugendlichkeit so enorm viel einbildet, heißt, wenn ihr die Jugend die kalte Schulter zeigt. Wenn es etwas gab, dass die Grünen allen anderen voraushatten, dann den Schulterschluss mit den Jungwählern. Wie oft saß ich in Talkshows neben Grünen-Vertretern, die unwidersprochen ihre Agenda herunterbeten durften, weil sie ja angeblich Stimme und Gewissen der Generation 16 plus waren.

Jeder soziologisch bewanderte Mensch wusste schon vor dem Wahlsonntag, dass das nicht stimmen konnte. Ein Besuch bei Lidl reicht aus, um zu erkennen, dass Fridays for Future nicht die deutsche Jugend repräsentiert. Franziska Zimmerer schreibt sich in der „Welt“ die Finger wund, weshalb die Generation Z nicht so einheitlich und schon gar nicht so politisch ist, wie sie es in den Redaktionen gerne hätten. Aber es passte halt so schön ins Narrativ, wie man dazu sagt. Da lässt man sich auch von einer 31-jährigen Journalistin, die schon altersmäßig besser Bescheid weiß als jeder klimabewegte „Zeit”-Großessayist, nichts sagen.

Deshalb jetzt: Entsetzen. Was ist bloß mit der Generation Z los? 16 Prozent für die AfD, fast gleichauf mit der Union. Das hat auch Yaël Meier, die „Erklärerin der Generation Z”, nicht vorausgesehen.

Eben noch galten die Gen-Zler als Vorbildgeneration, die die herkömmlichen Machtstrukturen in Frage stellt und für eine neue Work-Life-Balance streitet. Und nun wählen sie zu einem nicht unerheblichen Teil eine Partei, deren Spitzenkandidat an seine Wähler appelliert, den „echten Mann” in sich zu entdecken, statt „lieb, soft, schwach und links” zu sein.

Zu viel Internet und TikTok – so lautet die Erklärung. Weil sie die ganze Zeit am Handy hängen würden und ständig Videos schauten, seien sie halt leicht manipulierbar. Merke: Genau das, was eben noch Bewunderung hervorrief (Digital Natives), kann morgen schon ein Manko sein. Ach, was sage ich: Manko! Eine Charakterschwäche, die die Frage nahelegt, ob man das Wahlalter nicht sofort auf 21 Jahre hochsetzen sollte.

War es nicht immer das Privileg der Jugend, aufmüpfig zu sein, sich gegen die Autoritäten und das Autoritäre aufzulehnen? Auch so bricht man Jugendprotest das Genick: Indem man die Kinder zur Demo fährt und dann an der Straße steht und applaudiert, wenn Finn und Annika für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels demonstrieren.

Das Protestangebot von Leuten wie Katrin Göring-Eckardt und Ricarda Lang lautet: Seid einfach noch grüner als wir selbst. Also noch nachhaltiger, noch ökologischer und noch umsichtiger. Sicher, auch das grüne Engagement lässt sich so weit auf die Spitze treiben, dass es zur Provokation taugt. Das ist der Weg der Klimakleber, die so radikal auftreten, dass selbst Luisa Neubauer findet, sie sollten einen Gang runterschalten, um die gesellschaftliche Zustimmung nicht zu gefährden. Aber als Protestform für die breite Masse ist der Sekundenkleber doch eher ungeeignet. Dann lieber sein Kreuz an der Stelle machen, an der es die Eltern besonders schmerzt.

Für die AfD stimmen ist der Punk von heute. Früher hat man sich den Kopf kahl geschoren und Sicherheitsnadeln in die Backe gerammt, heute steckt man der Gesellschaft den Zeigefinger entgegen, in dem man rechts wählt. Ich weiß, ich weiß, die AfD steht für lauter schlimme Sachen. Aber Hand aufs Herz: Mit Sid Vicious als Kanzler wären wir nicht viel besser gefahren als mit Alice Weidel.

Dazu kommt: Wenn man jung ist, ist man näher dran, auch an den gesellschaftlichen Verwerfungen. Wer im Villenviertel wohnt, ist weit weg von der Härte der Straße. Wer hingegen jeden Tag mit der S-Bahn oder dem Bus zur Schule fährt, weiß, was es bedeutet, auf Gleichaltrige zu stoßen, die zu Hause ganz andere Konfliktlösungsstrategien gelernt haben als man selbst.

Niemand hat es gern, wenn ihm das Alter vor Augen geführt wird. Anderseits kann einem jeder Familientherapeut sagen, dass die Abnabelung vom Elternhaus Teil des Erwachsenwerdens ist. Wenn Eltern davon sprechen, dass sie die Freunde ihrer Kinder sein wollen, liegt etwas im Argen. Eltern sind alles Mögliche – Aufsichtspersonen, Kummerkasten, Gegenspieler – aber Freunde sind sie mit Sicherheit nicht. Und wenn sie es sind (oder zu sein glauben), haben sie etwas falsch gemacht.

Insofern ist es möglicherweise ganz heilsam, dass die Grünen endlich die Rolle im deutschen Parteiensystem annehmen, die sie ohnehin längst innehaben: die der Super-Nanny, die dafür sorgt, dass niemand zu sehr über die Stränge schlägt. Das ist zugegebenermaßen nicht besonders cool und nicht besonders hip. Aber wie jeder weiß: Einer muss den Job machen. Wenn alle anderen Party feiern, braucht es jemand Nüchternen, der anschließend wieder das Licht anstellt und zum Aufbruch mahnt.

Außerdem: Buntgefärbte Haare und flippige Kleidung, um jünger zu wirken – das war schon immer ein wenig lächerlich. In Würde altern, auch das kann für eine Partei ein erstrebenswertes Ziel sein.

© Sören Kunz

Toleranz war gestern

Früher stritten Minderheiten für gleiche Rechte für alle. Heute geht es darum, dass einen die Gesellschaft beim Identitätswechsel unterstützt, indem alle so reden, wie Aktivisten das wollen. Das ist ein neues, radikales Konzept.

Ich habe einen Traum. Ich streife die Fesseln meiner bürgerlichen Existenz ab und gehe fortan als Königliche Hoheit durchs Leben. Seine Exzellenz J. F., das wäre ein angemessener Titel.

Ich hatte schon immer den Eindruck, zu Höherem berufen zu sein. Als Kind habe ich mir einen Thron gebaut, von dem aus ich meinen imaginären Hofstaat dirigierte. In der Schule fiel ich durch meine gewählte Ausdrucksweise auf. Das Repräsentieren liegt mir im Blut, kann man sagen.

Bis vor Kurzem wäre es unvorstellbar gewesen, per Selbsterklärung in den Hochadel vorzustoßen. Aber die neue politische Welt hält unendliche Möglichkeiten bereit. Wenn man aus den Zwängen der heterosexuellen Matrix ausbrechen kann, indem man sich jeder Geschlechtszuordnung verweigert: Warum dann nicht auch per Handstreich die bürgerlichen Klassenschranken überwinden?

Von nun an lauten meine Pronomen: Ihre oder Seine Hoheit. Auf Twitter habe ich den Wechsel schon vor ein paar Wochen vollzogen. „Pronouns: His / Her Highness“ steht da seit Anfang Mai. Andere wählen „them“ oder „they“ – dagegen ist meine Bitte vergleichsweise bieder.

Die neue Anrede wird nicht jedem sofort mühelos über die Lippen gehen. Aber ich habe mich durch den Medienkritiker Stefan Niggemeier, einen der unbestechlichsten Beobachter des Zeitgeschehens, zum Coming-out ermuntert gefühlt. „Der Eurovision-Gewinnersong handelt von einem Menschen, der seine nicht-binäre Identität gefunden hat“, schrieb er nach dem Sieg des Schweizer Kandidaten Nemo, der ausschließlich als Nemo angesprochen werden möchte. „Da wär’s doch schön, es wenigstens zu versuchen, diesen Wunsch zu respektieren.“

Das hat in mir etwas ausgelöst. Was Nemo für die Transgender-Welt ist, möchte ich für alle blaublütigen Seelen sein, die sich als transbürgerlich identifizieren. Und jetzt soll bitte keiner kommen und sagen: Das könne man nicht vergleichen. Die Bedeutung einer Minderheit bemisst sich ja hoffentlich nicht an ihrer Größe.

Sie halten das für abseitig? Wenn selbst die „FAZ“ in ihrem Beitrag zum Eurovision Song Contest peinlich genau darauf achtet, alle Personalpronomen zu vermeiden, weil Nemo die Verwendung als Respektlosigkeit gegenüber seinem neuen Selbst empfindet, dann weiß man, dass die Sache die Nische verlassen hat.

„They / them“ ist zugegebenermaßen im Deutschen etwas unpraktisch. Nicht wenige Menschen haben schon Mühe, „der“, „die“ oder „das“ korrekt zu verwenden.
Aber wenn es um den Fortschritt geht, müssen Opfer gebracht werden – im Zweifel auch von den grammatikalisch Benachteiligten.

Was darf man von der Gesellschaft an Anpassungsleistungen verlangen? Das ist die Frage der Stunde. Toleranz war gestern. Dass man wegen seiner Andersartigkeit keine Nachteile erleidet und ansonsten von der Mehrheit in Ruhe gelassen wird, hat als Forderung ausgedient. Heute geht es darum, dass einen die Umwelt auf dem Weg des Identitätswechsels aktiv unterstützt und dann in der neuen Rolle bestärkt und bestätigt.

Nichts anderes bedeutet es ja, wenn man sich im öffentlichen Sprachgebrauch an die Vorgaben derjenigen hält, über die man spricht. Und die Vorgaben ändern sich: Statt von nichtbinären Menschen spricht man jetzt von Tin*-Personen, wie ich einem Artikel in der „taz“ entnommen habe.

Die Sache ist kein Scherz. Die Szene kann schon bei kleinen Nachlässigkeiten sehr empfindlich reagieren. Dem Schweizer Moderator Sven Epiney unterlief in seiner Livemoderation zum Song Contest der Fehler, Nemo ein paar Mal zu misgendern, wie dies Vergehen in der Transcommunity heißt. Statt konsequent nur von Nemo zu sprechen, sagte Epiney hin und wieder „er“. Das reichte, um seine Qualifikation für weitere Auftritte in Frage zu stellen.

Der Soziologe Alexander Zinn, ein Veteran der Bewegung, hat kürzlich daran erinnert, dass der große Erfolg der Schwulenbewegung in ihrer Anschlussfähigkeit lag. Es ist kein Zufall, dass Gloria Gaynors „I am what I am / and what I am needs no excuses“ zum Hit wurde. Jeder konnte sich in dem Song wiederkennen, schreibt Zinn, denn jeder macht in seinem Leben derartige Erfahrungen: wegen individueller Eigenschaften geringgeschätzt und ausgegrenzt zu werden. Bei den einen ist es das Körpergewicht, bei anderen die falsche Klamotte oder eine unpassende Herkunft.

Sich zu seinem Anderssein zu bekennen, ist ein großer und nicht selten schmerzhafter Schritt. Ich erinnere mich gut daran, wie mein bester Freund Knud sein Coming-out hatte. Wir standen an der Schwelle zur Volljährigkeit, das Abitur lag in Reichweite, eine Freundin hatte zur Gartenparty in ihr Elternhaus in Hamburg-Wellingsbüttel geladen, dem Vorort, indem wir lebten.

Knud war mit seinem neuen Freund gekommen, einem angehenden Arzt und die erste große Liebe. Ich wusste, dass die beiden ein Paar waren, aber ich war an dem Abend auch der einzige. Als die Party ihrem Höhepunkt entgegenging, stellten sich die beiden eng umschlungen auf die Terrasse und küssten sich.

Was soll ich sagen? Es war ein Riesenskandal. Knuds Mutter fiel in Ohnmacht. Sein Vater schrie herum, dass er keine Schwulen dulde und der Kerl, der seinen Sohn um-arme, gefälligst seine Finger bei sich behalten solle. Und ich? Ich fand’s großartig und wahnsinnig mutig. Those were the times. Man wusste auch im anständigen Wellingsbüttel, dass es Männer gab, die Männer liebten. Aber bis dahin kannte man das nur aus dem Fernsehen.

Heute ist Knud mit Christian verheiratet, und das schon länger, als ich es in meiner ersten Ehe war. Auch seine Eltern haben sich irgendwann mit der Realität arrangiert. Aber er wäre eben nie auf die Idee gekommen, von seiner Umwelt zu verlangen, dass sie sich nach seinen Vorlieben
richtet. Im Gegenteil: Die Schwulen, mit denen ich aufgewachsen bin, waren stolz auf die Subkultur, die sie ausgebildet hatten. Auf unser braves Hetero-leben schauten sie mit einem gewissen nachsichtigen Spott.

Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Aggressivität queere Aktivisten ihre Forderungen
vortragen. Ich mag mich irren, aber ich glaube nicht, dass diese Herangehensweise von Erfolg gekrönt sein wird. Aggression führt selten zu mehr Akzeptanz und Verständnis – schon gar nicht, wenn sie mit so wenig Charme und Verführungskraft einhergeht.

Die Leute sehen Transfrauen, die sich zwischen Schwimmerinnen oder Radrennfahrerinnen drängeln, und denken sich: Was machen die da? Man kann ihnen dreimal erklären, dass Frausein keine Sache der Biologie sei: Es verstößt gegen ein grundlegendes Gefühl der Fairness, wenn Sportlerinnen,
die als Männer allenfalls im Mittelfeld zu finden waren, plötzlich alle Preise abräumen.

Es sind übrigens fast immer als Männer geborene Frauen, die auf besonders brachiale Weise ihre Rechte einfordern. Von Transmännern, die ihr Leben als Frau begannen, hört man vergleichsweise wenig. Ich kann mich jedenfalls an keine Schlagzeile erinnern, wo eine Frau, die nun als Mann lebt, Einlass in ein Männerwohnheim oder eine Männer-umkleidekabine verlangt hätte.

Kein Fortschritt ohne Preis. Zum ersten Mal sind die Zu-stimmungswerte für gleichgeschlechtliche Lebensweisen gesunken. Wann immer die Deutschen in den vergangenen Jahren gefragt wurden, wie sie zur Ehe für alle oder dem Adaptionsrecht für schwule und lesbische Paare stehen, stieg der Anteil derjenigen, die sagten, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden solle. Damit scheint es vorerst vorbei. Erstmals lässt die Unterstützung für LGBT-Rechte nach, wie eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ergab. Wäre ich schwul oder lesbisch, würde ich mir über-legen, ob es wirklich so wahnsinnig schlau ist, sich bei Leuten einzuhaken, die jeden als transphob beschimpfen, der nicht alle ihre Forderungen unterstützt.

„Tatsachenwahrheiten“ nannte Hannah Arendt Gewissheiten, die außerhalb aller Übereinkünfte liegen. Dass es zwei biologische Geschlechter gibt, gehört für die meisten Menschen zu diesen Tatsachenwahrheiten. Ich fürchte, damit hat sich mein Traum des Gottkaisertums erledigt. Die Leute sehen meinen Namen und wissen: Das wird nichts
mit dem neuen Leben als Cäsar.

© Michael Szyszka

Die Woche der Doppelmoral

Der Kanzler verurteilt in scharfen Worten die „Ausländer raus“-Partygänger von Sylt. Bei Studenten, die „Juden raus“ verlangen, bleibt er stumm. Weil er das eine schlimm findet – und das andere irgendwie nicht so schlimm?

Ich bin mit der Familie nach Mallorca gefahren. Gottlob nicht nach Sylt. Was ich von Sylt halte, habe ich in einer früheren Kolumne festgehalten: zu neureich, zu angestrengt, zu aufgespritzt. Wie eine 50-Jährige, die verzweifelt versucht, als 30-Jährige durchzugehen.

Jetzt kommt noch die problematische politische Haltung dazu. Ich will nicht naseweis klingen: Aber wer sich seinem Urlaubsziel über den Hindenburgdamm nähert, fordert das Schicksal heraus.

Auch Mallorca ist keine Antifa-Bastion. Wer will schon die Hand dafür ins Feuer legen, dass sich unter dem Volk, das sich am Ballermann versammelt, nicht Fans des neurechten Partykrachers „L’amour toujours“ finden? Aber sie tragen immerhin keine Kaschmirpullis.

Dass der Fremdenfeind aus den sogenannten besseren Vierteln stammt, ist offenbar der eigentliche Skandal. Wenn er auf dem Schützenfest „Ausländer raus“ grölt, wird das unter Alltagsfaschismus abgebucht. Aber im Pony auf Sylt, wo der Eintritt 150 Euro kostet und dann ist noch nicht mal ein Getränk dabei? Shocking!

Ich habe ein Video gesehen, in dem eine Fernsehmoderatorin in Tränen aufgelöst bekannte, dass das Partyvideo aus Sylt das schlimmste Video sei, das sie je gesehen habe. Grundgütiger, dachte ich – ich wünschte, ich könnte das gleiche von mir sagen.

Die Expertin für intersektionale Mobilität Katja Diehl filmte sich dabei, wie sie mit steinernem Gesicht erklärte, dass der Faschismus die Eliten erreicht habe. Es sei gut, dass die Bilder aus Sylt um die Welt gingen, weil sie zeigten, dass Menschen, die rechtsextrem seien, aussähen wie Menschen von nebenan. Was haben diese Leute gedacht: Dass Nazis immer Adiletten tragen?

In der Ferne gewinnt man Abstand. Wenn man mit drei kleinen Kindern zwischen Strand und Ferienhaus pendelt, erreichen einen lediglich die Nachrichten, die als „Breaking News“ durchgehen. Das ist wie auf dem Sonnendeck eines Ozeandampfers, da sieht man von oben auch nur noch die großen Schaumkronen.

Was war, von Mallorca aus betrachtet, in Deutschland wichtig und was eher nicht?

Was eher nicht so wichtig war: Die Bombardierung eines Einkaufszentrums in Charkiw, mit dem der russische Terror endgültig allgegenwärtig geworden ist. Auch nicht so wichtig: Die Fotos der Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerks in Dschabalia, in deren Keller man die Leichen von vier israelischen Geiseln fand.

„Gebaut mit Fördergeldern der Bundesrepublik Deutschland“, steht auf einem Schild vor dem Haus. Das ist eine ziemlich brutale Widerlegung der treuherzigen Versicherung unserer Entwicklungshilfeministerin, dass kein deutsches Steuergeld in die Terrorfinanzierung fließe. Aber Schwamm drüber. Wen interessiert schon, ob die Bundesregierung eine der Finanziers der Hamas ist, wenn sie in Sylt die Sau raus lassen?

Nicht mal die Ausschreitungen an der Humboldt-Uni haben es in die Abendnachrichten geschafft. Ich hätte gedacht, Studenten, die durchgestrichene Schweinsköpfe an die Wände schmieren – das wäre tagesschauwürdig. Wann war das letzte Mal, dass an deutschen Universitäten die sogenannte Judensau gezeigt wurde? Ich würde auf 1933 tippen. Aber gegen die Nazi-Sause im Pony: keine Chance. Dass ein Dutzend BWL- und Jura-Studis fröhlich „Deutschland den Deutschen“ sangen, also gewissermaßen die teutonische Variante von „From the River to the Sea“, stellt alles in den Schatten.

Zu Worte gemeldet haben sich hier, in absteigender Reihenfolge: Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, die Bundesinnenministerin, der Bundesjustizminister, der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, die stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, die Parteivorsitzende der Grünen, der Parteivorsitzende der CDU, der Generalsekretär der FDP.

Habe ich jemanden vergessen? Ach ja, auch Carsten Maschmeyer hat seiner Empörung Ausdruck verliehen („widerlich“), gefolgt von Luisa Neubauer, die die Gelegenheit nutzte, den Wählern noch einmal einzuschärfen, am 9. Juni das Kreuz ja an der richtigen Stelle zu machen. Wenn Carsten Maschmeyer, Luisa Neubauer und Olaf Scholz im Entsetzen vereint sind, dann stehen die braunen Horden kurz vor der Erstürmung des Reichstags, sollte man meinen. Es waren dann aber nur ein paar verzogene Kinder mit zu wenig Grips und zu viel Geld von Papa.

Man kann die Uhr danach stellen: Jemand vergleicht zwei Dinge, in dem Fall die Aufregung über die „Ausländer raus“-Sause auf Sylt und die „Juden Raus“-Gesänge an deutschen Hochschulen und ein anderer ruft: „Whataboutism!“. Das ist das englische Wort für den Versuch, von einer Entgleisung abzulenken, indem man auf eine andere Entgleisung verweist.

Aber nicht jeder Vergleich dient der Ablenkung. Manchmal geht es darum, Zusammenhänge zu sehen und zu benennen. Was jemand für wichtig erachtet und was eher nicht, sagt einiges über seinen moralischen Kompass aus.

Ich glaube zum Beispiel, dass Olaf Scholz mehr und mehr neben sich steht. Wäre er Herr seiner selbst, würde er davon absehen, in einer Woche, in der es an allen Ecken und Enden brennt, seinen Twitter-Account dafür zu nutzen, ein paar aperolselige Sylt-Krakeeler in den Senkel zu stellen. Sind die zwölf Sekunden aus der Sylter Außengastronomie befremdlich? Sogar mehr als das. Ist es ein Thema für einen Kanzler? Das will gut überlegt sein.

Insbesondere für einen Regierungschef gilt der Satz von Paul Watzlawick, wonach man nicht nicht kommunizieren könne. Wenn er zu einem vergleichsweise unbedeutenden Vorfall starke Worte des Abscheus findet („eklig“), im Fall antisemitischer Ausschreitungen aber schweigt, muss man annehmen, dass er letztere halt nicht so eklig findet.

Für jeden, der sich als Ausländer fühlt, ist das Sylt-Video ein Schlag in die Magengrube. Wer ohnehin das Gefühl hat, kritisch beäugt zu werden, den bestätigt es in seinen schlimmsten Befürchtungen. Insofern mag es tröstlich sein, wenn die Spitzen der Gesellschaft ihre Empörung äußern. Nur, haben jüdische Studenten nicht die gleiche Form der Solidarität verdient? Und was ist mit den Opfern von Inländerfeindlichkeit?

Für Doppelmoral haben die Bürger einen feinen Sinn. Wenn sie etwas noch weniger ausstehen können als gespielte Empörung, dann, wenn diese selektiv erfolgt. Auch so verliert man als Politiker Vertrauen: Indem man sich schrecklich aufregt, wenn sich alle aufregen, aber schweigt, sobald man den Eindruck hat, ein deutliches Wort könnte vielleicht ein paar Stimmen kosten.

Die Gesichtserkennungssoftware ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass binnen 24 Stunden nahezu jeder identifiziert ist, der sich daneben benommen hat. Dass dieselben Leute, die normalerweise schon bei einer Videoüberwachung im öffentlichen Raum einen Herzkasper kriegen, die Sofort-Identifikation der Missetäter feiern – geschenkt. Schwerer wiegt schon, wenn auch in Medien, die sich auf ihre Seriosität viel einbilden, nach den Namen und Adressen gefragt wird, gleichzeitig aber Riesenempörung über den „Fahndungsjournalismus“ der „Bild“ herrscht, wenn diese die Namen der ärgsten Hamas-Fans nennt. Die Betreiber des Oktoberfests haben vorsorglich ein Aufführungsverbot für den Partysong „L’amour tojours“ erteilt. Das Verbot gilt für alle Varianten, auch die Ursprungsversion, die vom Glück der Liebe handelt. Man wird sehen, wie weit sie damit kommen. Die Übertabuisierung hat mitunter unerwünschte Folgen. Je stärker der Bann, desto größer der Drang, dagegen zu verstoßen.

Am Montag führte „L’amour tojours (small Mix)“ die iTunes-Charts an. Gefolgt von „Wunder“ von Ayliva und Apache 207 und „L’amour toujours“ in der Originalversion von Gigi D’Agostino. Schon beim Aufführungsverbot für „Layla“ hat man sehen können, wie sich die Aufführungspraxis vom Liedtext löst. Irgendwann ist der Gesang Protestgeste gegen eine Politik, deren Verbote als hohl empfunden werden.

© Sören Kunz

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Das EU-Parlament ist das einzige Parlament der Welt, das keine eigenen Gesetze vorschlagen darf. Jeder Beamte in Brüssel hat mehr Macht als ein Abgeordneter. Dennoch hängt das Land voll mit Wahlplakaten. Was soll man tun?

Soll man zur Europawahl gehen? Ich bin unschlüssig. Vergangene Woche kamen die Wahlunterlagen an. Dieses Mal gehe es um alles, heißt es.

Auf der Fahrt zur Schule komme ich jeden Morgen an den Wahlaussagen der Parteien vorbei. Die SPD verspricht, mehr gegen Hass und Hetze zu tun. So steht es auf einem Plakat, das am Eingang des Tierparks steht. Ich bin auch gegen Hass. Aber ich fürchte, wenn die Sozialdemokraten die Sache in die Hand nehmen, landen wir bei einem weiteren „Demokratiefördergesetz“, wie die Dauersubventionierung arbeitsloser Politologen bei der SPD heißt.

Die FDP verspricht Freiheit für die Wirtschaft, die Wirtschaft liebe Freiheit nämlich wie wir selbst. Das glaube ich gerne. Allerdings ist es nicht selten böse ausgegangen, wenn man Konzernlenker schalten
und walten ließ, wie sie wollten (siehe Finanzkrise). Weniger Bürokratie wäre da sicher treffender gewesen, aber das klang wahrscheinlich nicht schmissig genug.

Die Grünen sind für Menschenrechte und Ordnung. Interessante Kombination, dachte ich, als ich
das las. Ich hätte ja bei den Grünen eher auf irgendwas mit mehr Gefühl getippt. Welche Ordnung sie wohl meinen? Die des Stuhlkreises?

Wenn ich mich entscheiden müsste, dann würde ich vermutlich bei Volt landen: „Sei kein Arschloch.“ Kommt es am Ende nicht genau darauf an: Kein Arschloch geworden zu sein? Ob einem allerdings ausgerechnet die Politiker in Brüssel dabei helfen
können, da habe ich doch Zweifel.

Ich war vor ein paar Jahren zu einem längeren Besuch im EU-Parlament. Ein Parlament, das als einzige Volksvertretung der Welt keine eigenen Gesetze vorschlagen darf, schien mir allemal eine Reise wert. Das Mittagessen mit dem EU-Abgeordneten startete mit der Frage: „Wer übernimmt, Sie oder ich?“ Selbstverständlich übernahm ich. Viele Ab-geordnete haben gar kein Portemonnaie mehr dabei, wenn sie sich mit Leuten von außerhalb zum Essen verabreden, wie ich mir hatte sagen lassen.

Das Ergebnis meiner Reise war eine Kolumne, in der ich Brüssel mit Rom verglich – minus der Palmen, der Gladiatoren und der Sonne. Alles andere ist so, wie man es aus den Filmen kennt. Da ist das satte Machtgefühl einer Elite, die mit einem Fingerzeig über das Schicksal von Millionen
von Menschen entscheidet – da ist auch die lächelnde Herablassung für die Provinzen, aus denen das Geld kommt, das man dann im Zentrum des Imperiums in Ströme von Gold verwandelt. Der Text trug mir eine Nominierung der Europa-Union für den „größten europapolitischen Fauxpas“ des Jahres ein.

Ich habe nicht den Eindruck, dass sich inzwischen viel geändert hätte. Gemessen an den Demokratiestandards rangiert die EU irgendwo zwischen Bangladesch und Obervolta.

Sie halten das für eine Übertreibung? Ich empfehle das Gespräch, das die „Süddeutsche Zeitung“ mit dem EU-Abgeordneten Nico Semsrott geführt hat. Semsrott ist dieser depressive Satiriker, der immer im schwarzen Hoodie rumrennt und 2019 zusammen mit Martin Sonneborn für die Spaßpartei „Die Partei“ ins EU-Parlament einzog. Mit seinem Mitstreiter hat er sich zwischenzeitlich im Streit über einen Witz überworfen. Wie auch immer: Semsrott hat der „SZ“ ein ziemlich spektakuläres Interview gegeben.

So berichtete er, wie er einmal auf die verwegene Idee kam, bei der Parlamentsverwaltung nach der Höhe der Reisekostenerstattungen für die Jahre 2019 bis 2023 zu fragen. Semsrott ist Mitglied im Haushaltskontrollausschuss, da ist eine solche Auskunft eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen.
Aber nicht in Brüssel. Dort weigerten sich die Beamten einfach, die Zahlen herauszugeben. Er könnte jetzt nach Luxemburg gehen und das Europäische Parlament verklagen, aber dazu fehlt ihm die Kraft.

Ich habe bei dieser Gelegenheit gelernt, dass die EU-Abgeordneten bei ihren Kostenabrechnungen zum Teil nicht mal Belege einreichen müssen. Man kann sich also Reisen einfach ausdenken, wenn man will, und bekommt sie trotzdem erstattet. Auch das gilt als völlig normal. Semsrott hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Es heißt „Brüssel sehen und sterben“. Ich habe
es mir umgehend besorgt. Lassen Sie es mich so sagen: Nach der Lektüre weiß man, dass man sich bei Obervolta entschuldigen muss.

Man soll nicht immer nur aufs Negative fokussieren, schon wahr. Die EU hat auch ihre guten Seiten. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass wir nachsichtiger mit uns selbst sein dürfen. Dass der Deutsche in der Bürokratie zu sich selbst finde, wird nicht einmal von denen bestritten,
die immer behaupten, dass so etwas wie ein Volkscharakter
pure Erfindung sei. Aber nicht nur der Deutsche liebt Bürokratie, wie sich zeigt. Auch der Italiener, Franzose und Belgier ist ganz vernarrt darin, die Welt mit immer neuen Regeln
und Vorschriften zu überziehen.

Beinahe jede Woche verlässt die Verwaltung eine Anordnung, die Europa zu einem noch sicheren, noch nachhaltigeren und überhaupt noch vorbildlicheren Kontinent machen soll.

Woher kommt diese Lust am Verordnen? Eine Erklärung wäre, dass wir es bei den Bewohnern des EU-Archipels mit einer überdurchschnittlich hohen Anzahl sadistisch veranlagter Menschen zu tun haben, die über das Erlassen immer neuer Richtlinien ihre Machtfantasien ausleben. Das hat einiges für sich. Ich glaube allerdings, der Grund ist simpler: Bei der Regelungswut handelt es sich vor allem um Selbstrechtfertigung.

Wären die Beamten in Brüssel so faul, wie ihnen gern unterstellt wird, würden sie den ganzen Tag in den Etablissements der Stadt ihre Zeit vertrödeln, in denen man fabelhaft speisen kann, wie ich mich habe überzeugen dürfen. Dummerweise gibt es aber auch in der Brüsseler Beamtenschaft eine Reihe von Leuten, die finden, dass sie für das
viele Geld, das sie verdienen, etwas leisten müssen. Also denken sie sich ständig neue Gesetze aus, die das, was gut ist, noch perfekter machen sollen.

Was sollen sie auch anderes tun? Kein Mensch braucht den riesigen Apparat. Allein bei der Kommission arbeiten 32 000 Menschen. Dazu kommen die Abgeordneten samt ihrer Mitarbeiter. Praktischerweise gibt es das meiste auch gleich doppelt, in Brüssel und in Straßburg.

Ich habe nichts gegen die EU, im Gegenteil. Als ich
neulich beim Wahl-O-Mat teilnahm, landete die AfD unter den von mir ausgewählten Parteien auf dem letzten Platz. Manchmal wird allerdings auch meine Geduld auf eine schwere Probe gestellt. Als der iranische Massenmörder Ebrahim Raisi Anfang der Woche bei einem Hubschrauber-Crash ums Leben kam, sorgte das insbesondere im Iran für spontane Freudenkundgebungen.

Waren alle froh, dass der Mann, den sie den Schlächter von Teheran nannten, sein verdientes Ende gefunden hatte?
Nein. Neben Russland und China drückten sowohl Josep Borrell, Außenbeauftragter der EU, sowie Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, im Namen Europas ihr aufrichtiges Beileid aus.

Wie wird man solche Kanaillen wieder los? Auf eine entsprechende Frage auf Twitter erhielt ich wenig ermutigende Auskünfte. „Die Lage ist aussichtslos“, schrieb mir ein Leser. Ein anderer wies darauf hin, dass Borrell Sozialdemokrat
sei und Michel Liberaler – also nicht SPD und FDP wählen, lautete die Empfehlung.

Einige Leser rieten dazu, am 9. Juni für „Die Partei“ zu stimmen. Vielleicht sollte ich das wirklich tun. An der Seite von Martin Sonneborn tritt die Schriftstellerin Sibylle Berg an. Ich bin mit ihr seit Jahren freundschaftlich verbunden. „Billige Mieten, billige Energie, billige Versprechen“: Das übertrifft außerdem in seiner Schlagkraft noch die Plakate von Volt.

Also: alle Stimmen für Martin und Sibylle. Manchmal kann einen nur noch der Humor retten.

© Silke Werzinger

Der Feminismus ist tot

Was treibt linke Studentinnen in die Anbetung eines archaischen Todeskults? Ist es die Auflehnung gegen die Eltern? Oder handelt es sich um die Epidemie einer geistigen Störung, wie der Sozialpsychologe Jonathan Haidt glaubt?

Es ist von einem neuen Virus zu berichten. Es befällt erst die moralische Urteilskraft, dann das Einfühlungsvermögen und schließlich das logische Denken. Wenn der Zerstörungsprozess beendet ist, hat sich das Hirn in Kompost verwandelt.

Seine Opfer findet der neuartige Erreger vor allem unter jungen Menschen, die politisch stark nach links tendieren. Sein bevorzugtes Verbreitungsgebiet sind Hochschulen und Kulturinstitutionen.

Man erkennt die Befallenen daran, dass sie plötzlich schwarz-weiß gemusterte Geschirrtücher um den Hals tragen. Statt Argumente auszutauschen, stellen sie sich in Gruppen auf und skandieren Texte, die an Kinderreime erinnern. Wenn sie auf jemanden treffen, der anderer Meinung ist, beginnen sie wild zu gestikulieren und zu schreien.

Im Endstadium knien selbst feministisch gesinnte Frauen im Tanktop oder Bikini auf dem Rasen und senken den Kopf in der Anbetung Allahs. Weil sie vom Islam noch weniger Ahnung haben als von der Siedlungsgeschichte Palästinas, wissen die jungen Frauen nicht, dass eine Frau beim Gebet jede Blöße zu bedecken hat, angefangen vom Kopfhaar über die Oberarme und den Oberkörper.

Minirock ist im Islam ebenfalls verpönt, ebenso wie Shorts und überhaupt jede Kleidung, die als aufreizend empfunden werden könnte. Aber das werden die jungen Novizinnen noch lernen – neben dem Umstand, dass sie künftig nur noch die zweite Geige spielen. Die Welt, die zu umarmen sie sich anschicken, duldet keine Emanzipation, erst recht keine weibliche.

Muss man sich Sorgen um die Jugend machen? Ich denke ja. Der neue Erreger wütet schließlich nicht irgendwo, sondern vorzugsweise an Ausbildungsorten, an denen die Elite des Westens herangezogen wird. Wie sieht unsere Zukunft aus, wenn die Entscheider und Entscheiderinnen von Morgen nicht mehr klar denken können?

Vieles relativiert sich mit dem Alter. Das wächst sich aus, sagte meine Mutter. Aber in dem Fall bin ich mir nicht so sicher, ob wir darauf setzen können. Gegen den Hamas-Kult ist selbst Scientology eine fröhliche Hippiesekte. Auch die Scientologen glauben an verrückte Sachen, angefangen damit, dass die Welt vor 75 Millionen Jahren von Außerirdischen bevölkert wurde, die ihren Heimatplanet wegen Überbevölkerung verlassen mussten.

Aber Scientologen schubsen keine Schwulen vom Hochhaus, sie foltern auch keine Babys oder verstümmeln zum Zeitvertreib schwangere Frauen. Lieber sein Kind an Scientology verlieren als an den Islamismus, kann man nur sagen.

Was geht da an westlichen Hochschulen vor sich? Ist es die Auflehnung gegen die Eltern, die junge, enthusiastisch gestimmte Menschen in die Arme eines archaischen Todeskults treibt? Das wäre die naheliegendste Erklärung. Aber ich fürchte, so einfach ist es nicht.

Ich kenne zufällig ziemlich genau die Welt, aus der viele Studenten stammen, die ihre Solidarität mit der palästinensischen Sache bekunden. Es ist eine Welt, in der Geld keine Rolle spielt, weil Papa an der Wall Street so viel verdient hat, dass es für drei Generationen reicht. Selbstverständlich sind Charlotte und Liam der Augenstern ihrer Eltern, weshalb diese auch ohne mit der Wimper zu zucken 70 000 Dollar auf den Tisch legen, damit der Nachwuchs an einer Elite-Universität seinen Abschluss macht.

Ich habe vergangene Woche auf Twitter gesehen, welche Kurse in Harvard Pflicht sind, wenn man englische Literatur studiert. Literatur kommt nur noch am Rande vor. Die meiste Zeit verbringt man mit dem Studium der Queertheorie, der Aufarbeitung des kolonialen Erbes und der Kritik der weißen Rasse. Wer kein Geld hat, für den ist ein solches Studium nichts. Manche Beschäftigung muss man sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten können.

Wenn es nicht Rebellion gegen das Elternhaus ist, die Studenten in die Hamas-Begeisterung treibt, was ist es dann? Den Rang als Autor der Stunde kann der Sozialpsychologe Jonathan Haidt beanspruchen. „Generation Angst“ heißt sein aktuelles Buch, das auf der Bestsellerliste ganz vorne steht. Untertitel: „Wie eine Neuverschaltung der Kindheit eine Epidemie geistiger Störungen hervorruft“. Das Buch ist vor dem Ausbruch der Studentenproteste geschrieben, aber es liest sich wie ein Kommentar zur Lage.

Haidt vertritt seit Langem die Auffassung, dass es ungemein schädlich ist, junge Menschen von allem fernzuhalten, was sie als störend oder gar gefährlich empfinden könnten. Indem man sie in Watte packt, erzeugt man narzisstisch gestörte Wesen, die schon bei einem falschen Wort einen Schreianfall bekommen.

Viele Beobachter reagieren irritiert darauf, dass die gleichen Leute, die überall Mikroaggressionen wittern, umgekehrt keine Mühe kennen, brutal gegen Gleichaltrige vorzugehen, die sie als Feinde markiert haben. Für Toleranz werben, wie der Sieger des diesjährigen European Songcontest, und gleichzeitig eine Mitstreiterin mobben, weil sie Jüdin ist, das läuft parallel.

Aber es ist ein Missverständnis, hier einen Widerspruch zu sehen. In Wahrheit gehen Empfindlichkeit und Aggressivität Hand in Hand. Das Wesen des narzisstischen Charakters ist es ja gerade, aus Wut über echte oder vermeintliche Kränkungen wild um sich zu schlagen. Das Paradebeispiel ist Donald Trump. Niemand ist im Uni-Milieu verhasster, dabei gleichen viele ihm dort aufs Haar.

Es ist die Mischung aus Anspruchshaltung, Weinerlichkeit und Pathos, die auch die Proteste durchzieht. In einer Pressekonferenz führten die Besetzer an der Columbia-Universität lautstark Klage, dass die Mensa-Versorgung während der Besetzung von der Uni-Leitung nicht eingehalten wurde. 70 000 Euro Studiengebühr im Jahr und dann kein vernünftiges Catering – wie kann das sein?

Als ein Journalist die Studentensprecherin darauf aufmerksam machte, dass es möglicherweise ein Widerspruch sei, als Revolutionärin auf pünktliche Essenslieferung zu bestehen, antwortete sie mit sich überschlagender Stimme, ob er denn wolle, dass sie und ihre Mitstreiter an Auszehrung sterben würden. Merke: Das Leid in Gaza ist schlimm. Aber noch schlimmer ist es, wenn der Essensplan durcheinandergerät.

Ich glaube, dass auf einer tiefergehenden Ebene noch nicht wirklich verstanden wurde, wie zerstörerisch die bedingungslose Palästina-Solidarität für die linke Sache ist. Wie soll man den Feminismus noch ernst nehmen, wenn der progressivste Teil der Bewegung einer Ideologie huldigt, die alles negiert, was man sich auf die Fahne geschrieben hat? Viele werden sich des Lachens nicht mehr erwehren können, wenn das nächste Mal bei einer Podiumsdiskussion ein Vortrag über toxische Männlichkeit folgt.

Die Antwort ist bislang: schweigen. Im „Spiegel“ hat vor zwei Wochen eine neue Kolumnistin angeheuert, um die Sache der Frauen noch entschiedener voranzutreiben. Ihr erster Text? Eine Abrechnung mit dem veralteten Frauenbild in TikTok-Videos. Klar, auch das ist ein Problem. Aber lieber hätte man gewusst, was eine engagierte Feministin davon hält, wenn besonders fortschrittliche Schwestern ihre Köpfe vor der Scharia beugen.

Was reibungslos funktioniert, ist der Reflex, jeden einen Frauenfeind zu nennen, der einem quer kommt. Das ist vom alten Elan übrig geblieben. Man konnte das vergangene Woche sehr schön sehen, als der PR-Experte und Polit-Influencer Axel Wallrabenstein unter Feuer geriet, weil er einer Aktivistin widersprochen hatte, die fand, man müsse über die Scharia differenzierter urteilen.

Wallrabenstein hatte als Kommentar ein Bild gepostet, dass tiefverschleierte Frauen im Iran zeigte. „Zieh dich mal ordentlich an“, schrieb er dazu. Das reichte, um ihm den Vorwurf einzutragen, er sei ein Säufer und ein Rassist obendrein.

Folgt man Haidt, ist es gänzlich falsch, Narzissten in ihrer verschobenen Weltsicht zu bestärken. Nicht ausweichen, sondern gegenhalten, lautet seine Empfehlung. Das ist wie bei Kindern, die sich auf den Boden werfen, wenn sie im Supermarkt nicht das Spielzeug bekommen, das sie verlangen. Wenn man nicht will, dass sie sich zu Terroristen entwickeln, muss man irgendwann Grenzen ziehen. Es gibt mordsmäßig Geschrei, aber das muss man dann aushalten.

© Michael Szyszka

Gott schütze uns vor Nancy Faeser

Warum wir uns nach Meinung der Innenministerin nicht so sehr vorm Islamismus fürchten müssen? Weil der Islamismus anders als der Rechtsextremismus nicht das System stürzen wolle. Mon Dieu!

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang rät beim Thema Hass von Muslimen auf Juden zur Gelassenheit. Er vermute, dass sich der offene muslimische Antisemitismus wieder beruhige, wenn auch der Konflikt in Gaza abflaue. So sagte er es auf einem Symposium zur Sicherheitslage in Deutschland. Der rechtsextreme Antisemitismus hingegen bleibe eine deutsche Konstante.

Ich lade Herrn Haldenwang gerne zu einem Besuch an der Sinai Grundschule in München ein. Weshalb tragen die Sicherheitskräfte dort neuerdings Kevlar-Westen? Weil sie Angst vor einer neuen Gewaltwelle von rechts haben? Nein. Es sind nicht die Rechten, gegen die man aufrüstet. Es sind die muslimischen Wirrköpfe, die man fürchtet, junge Leute mit Pali-Schal und Hamas-Gesinnung, die meinen, sie müssten ein Zeichen setzen, indem sie eine jüdische Schule attackieren.

Es glaubt an der Schule übrigens auch niemand, dass sich die Lage bald wieder bessert. Man muss ja nur nach Hamburg schauen, wo sich die Freunde des Kalifats so sicher fühlen, dass sie für die Ausgrenzung aller Ungläubigen, angefangen bei den Juden, den Feministinnen und den Schwulen, offen demonstrieren.
Deshalb die schusssichere Weste.
So ein Ding wiegt mehr als 12 Kilo. Das trägt man nicht zum Spaß.

Der Verfassungsschutzpräsident kann auch gerne einmal mit den Eltern sprechen, deren Kinder in München jeden Tag unter Polizeischutz zur Schule gehen. Oder den Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde, die Trägerin der Schule ist. Er wird Mühe haben, jemanden zu finden, der meint, dass die größte Bedrohung von rechts komme.

Nun gut, kann man sagen: Wer ist schon Thomas Haldenwang? Nachdem man mit Hans-Georg Maaßen zu weit in die eine Richtung abgebogen ist, geht es nun mit Karacho in die andere. Maaßen befand sich schon als Verfassungsschutzchef in Daueropposition zur Bundesregierung – sein Nachfolger macht dafür den Fiffi, der alles nachplappert, was ihm die Politik vorsagt.

Wenn sie in der Regierung davon reden, dass die wahre
Gefahr von den Reichsbürgern drohe, sagt er, die größte
Gefahr seien die Reichsbürger. Wenn sie erklären, dass man darüber nachdenken müsse, die Verhöhnung des Staates unter Strafe zu stellen, nickt er und sagt: Ja, das finde er auch, Delegitimierung des Staates sei etwas ganz Schlimmes, das gehöre geahndet.

Man hat es ahnen können: Die Bundesinnenministerin ist ebenfalls der Auffassung, dass die wahre Gefahr rechts steht. Vor ein paar Wochen wurde sie gefragt, warum sie den Rechtsextremismus für bedrohlicher halte als Islamismus oder Linksextremismus. Ihre Antwort: Der Islamismus
wolle schließlich nicht das System stürzen, das sei das Wesen des Rechtsextremismus. Was soll man dazu sagen? Vermutlich hält sie Scharia auch für ein neues Pop-Sternchen und Kalifat für einen ausgefallenen Nachtisch.

Es gibt nicht wenige, die in Nancy Faeser ein eigenes Sicherheitsrisiko sehen. So weit würde ich nicht gehen. Ich glaube, sie ist einfach nicht die Hellste. Das ist in der jetzigen Lage ebenfalls keine besonders tröstliche Auskunft, gebe ich zu. Wie es aussieht, gibt es dummerweise auch in ihrer Entourage niemanden, der sagt: „Halt, so geht’s nicht, das können wir so nicht stehen lassen.”

Warum fällt es uns so schwer, die Feinde unserer Demokratie zu erkennen? Es sind ja nicht nur der Verfassungsschutzpräsident und die Bundesinnenministerin, die glauben, dass der verrückte Reichsbürger-Prinz hundertmal gefährlicher ist als jeder Islamisten-Anführer. An den Universitäten, an denen die Elite von morgen ausgebildet wird, hält inzwischen
ein nicht unerheblicher Teil die Ausbreitung des Islam für die Lösung aller Probleme.

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” war vor kurzem ein aufschlussreiches Interview mit dem -Orientalisten Gilles Kepel zu lesen. Kepel gilt als einer der führenden Experten zum Nahen Osten, er hat zahlreiche Bücher zum politischen Islam und dem Aufstieg des Dschihadismus veröffentlicht.

Sein Blick ist düster. Während der 11. September dem Westen vor Augen geführt habe, dass er es mit einem Feind zu tun hat, der alles verachtet, wofür der Westen steht, habe der 7. Oktober den Westen gespalten. Den Vertretern des sogenannten globalen Südens sei es gelungen, an den westlichen Universitäten eine starke Anhängerschaft zu entwickeln. Das sei eine sehr beunruhigende Entwicklung.

Ich weiß nicht, ob Sie die Bilder vom Campus der Columbia-Universität in New York gesehen haben? Seit einer Woche kampieren dort Studenten, um in ekstatischen Gesängen ihre Liebe zur Sache der Hamas zu bekunden.

Das Wuhan der Hamas-Liebe sind die amerikanischen
Ivy-League-Unis. Aber wie das so ist mit Seuchen, sie bleiben nicht auf einen Ort begrenzt. Auch an der Science Po in Paris oder der Berliner Humboldt-Uni tragen sie stolz die Zeichen des islamischen Märtyrerkults, der dem Westen den Krieg erklärt hat. Der Norden steht auf der falschen, der Süden auf der gerechten Seite, das ist die Quintessenz der Proteste. Humpty-Dumpty-Huntington nennt das Kepel in Anspielung auf Samuel Huntingtons berühmtes Buch „Kampf der Kulturen“: Huntington auf den Kopf gestellt.

Margot Käßmann hat viel Spott dafür ertragen müssen, dass sie zu Gesprächskreisen mit den Taliban aufrief. Aber ein bisschen Käßmann steckt selbst in hochrangigen Regierungsmitgliedern. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Außenministerin davon spricht, alle im Nahen Osten wollten doch Frieden. Nein, die Hamas will keinen Frieden, die Hisbollah und die Huthis wollen es auch nicht, und die iranischen Revolutionsgarden schon gar nicht.

Woher kommt diese Naivität? Ein theologisch beschlagener Mensch würde antworten: Das ist eben eine Folge der durchgreifenden Säkularisierung. Wir haben keine Vorstellung mehr vom Bösen. Mit der Metaphysik haben wir nicht nur Gott, sondern auch den Teufel abgeschafft. Leider hat das Böse es noch nicht mitbekommen, dass es abgeschafft ist. Deshalb sind wir jedes Mal ganz von den Socken, wenn es uns wider Erwarten in die Quere kommt.

Auch die 68er haben viel Unsinn geredet. Sie haben Pol Pot hochleben lassen und die Verbrechen des Stalinismus relativiert. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass sie davon geträumt hätten, aus Berlin Kambodscha zu machen und aus Paris ein sibirisches Umerziehungslager.

Ich bin kein zynisch veranlagter Mensch. Aber wenn ich die Bilder junger, privilegierter Mittelschichtskinder sehe, die sich in „Free Palestine“-Gesängen die Lunge aus dem Leib brüllen, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass eine Woche beim IS den Palästina-Fans vielleicht ganz guttäte. Dann könnten sie die Probe aufs Exempel machen, wie weit sie mit ihrer Mission für mehr Trans- und Frauenrechte bei den muslimischen Glaubensbrüdern kommen.

Nazis sind eine Gefahr, keine Frage, die Reichsbürger auch. Aber es gibt sehr viel weniger Reichsbürger, als es Islamisten gibt. Wenn die Umzüge in Hamburg etwas gezeigt haben, dann wie selbstbewusst diese Leute in-
zwischen auftreten. Diese Demonstrationen sind Macht-demonstrationen. Die Antwort des Staates: Geschwafel.

Und es bleibt ja nicht bei Umzügen. Bei einer Umfrage in Niedersachsen haben 68 Prozent der 15-jährigen Schüler muslimischen Glaubens geantwortet, dass ihnen die Regeln des Koran wichtiger seien als die deutschen Gesetze. Knapp die Hälfte stimmte der Aussage zu, dass ein islamischer Gottesstaat die beste Staatsform sei. Das sind keine ermutigenden Zahlen.

Wenn wir nicht aufpassen, haben wir so lange nach rechts gestarrt, dass wir verpasst haben, dass die Feinde auch von ganz woanders herkommen können. 182 Millionen Euro gibt die Regierung im Jahr zur Stärkung der Demokratie aus. Redakteure der „Bild” haben jetzt mal nachgeschaut, wo das Geld bleibt. Das Ergebnis: Wir geben mehr für den Kampf gegen Islamophobie aus als gegen Islamismus. Vielleicht könnten wir damit anfangen, das Verhältnis umzudrehen.

© Silke Werzinger

Regierung am Rande des Nervenzusammenbruchs

Erst musste das Verfassungsgericht der Regierung den Versuch der Bilanzfälschung untersagen, jetzt wurden die Minister zur Achtung der Meinungsfreiheit ermahnt. Ist die Koalition von allen guten Geistern verlassen?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Regierung Scholz dazu verdonnert, die Einschüchterung von Journalisten zu unterlassen. „Dem Staat kommt kein grundsätzlich fundierter Ehrenschutz zu“, heißt es in einem Beschluss, den das Gericht vergangene Woche veröffentlichte.

Zwar dürften sich auch staatliche Einrichtungen gegen verbale Angriffe zur Wehr setzen, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht erfüllen könnten. Aber dieser Schutz dürfe nicht dazu führen, sie gegen öffentliche Kritik abzuschirmen. „Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten“, so das Gericht. „Die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats.“

Die Abmahnung ist ein außergewöhnlicher, ja spektakulärer Vorgang. Wann ist es in der Geschichte der Bundesrepublik schon einmal vorgekommen, dass die Regierung höchstrichterlich an die Beachtung der Meinungsfreiheit erinnert werden musste?

Was war vorgefallen? Der ehemalige „Bild“-Chefredakteur ­Julian Reichelt hatte den Umstand, dass Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze weiterhin Hilfsgelder nach Afghanistan überweist, auf Twitter polemisch kommentiert: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro Entwicklungshilfe an die Taliban. Wir leben im Irrenhaus.“

Das wollte Schulze nicht über sich lesen und zog bis vor das Kammergericht Berlin, um den frechen Kommentator in die Schranken zu weisen. Was immer die Berliner Richter geritten haben mag: Sie gaben der Ministerin recht und untersagten Reichelt seine Äußerung – eine Entscheidung, gegen die Reichelts Anwalt, der in Grundrechtsfragen äußerst versierte Joachim Stein­höfel, umgehend das Verfassungsgericht anrief.

Normalerweise brauchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Jahre, vorausgesetzt, sie werden überhaupt zur Befassung angenommen. In diesem Fall erging das Urteil binnen vier Monaten. Offenbar hatte man in Karlsruhe das Gefühl, es sei Eile geboten.

Es ist das zweite Mal, dass das oberste deutsche Gericht der Bundesregierung in den Arm fällt. Erst wurde dem Kabinett Scholz in scharfen Worten der Versuch untersagt, mittels Bilanzfälschung die Haushaltsregeln auszuhebeln. Jetzt musste es daran erinnert werden, dass Regierungskritik kein Straftatbestand ist.

Formal richtet sich das Urteil gegen die Entscheidung des Berliner Kammergerichts. Aber natürlich darf Svenja Schulze den Richterspruch persönlich nehmen, schließlich war das Berliner Gericht auf ganzer Linie ihrer Argumentation gefolgt. Auch auf dieses Spiel versteht man sich in Karlsruhe: Schlage den Sack und meine den Esel.

Wir haben es mit einer Regierung am Rande des Nervenzusammenbruchs zu tun, anders lässt sich die Lage nicht mehr deuten. Und wie alle, die kurz vor einem psychischen Zusammenbruch stehen, reagieren auch die Mitglieder der Ampel zunehmend erratisch. Ein falsches Wort kann reichen und sie fahren aus der Haut. Man kennt das vom häuslichem Disput: Wenn die Nerven blank liegen, schlägt man irgendwann nur noch wild um sich.

Wir leben in einem Irrenhaus? Vielleicht keine besonders elegante Beschreibung der Situation. Aber doch kein Satz, wegen dem man vor Gericht geht, um den Urheber zur Verantwortung zu ziehen. Wenn das im Kabinett Scholz bereits unter Hate-Speech fällt, dann liegen bitterere Monate vor der Koalition. Die Nachrichten aus dem Land werden ja nicht besser. Und die Kommentare auch nicht.

Ich bin seit über 35 Jahren im politischen Beobachtungsgeschäft. Als ich als Redakteur anfing, mit 25 Jahren beim „­Spiegel“, war noch Helmut Kohl an der Regierung. Ich habe Aufstieg und Untergang von Rot-Grün erlebt und das bleierne Biedermeier der Merkel-Jahre. Alle Kanzler hatten ihre dunklen Momente. Aber ich kann mich an keine Regierung erinnern, die so glücklos agierte und auch so hilflos wie diese.

Die Bürger sind nicht einmal mehr empört. Das ist vielleicht das Deprimierendste. Empörung beinhaltet ja am Ende so etwas wie die Hoffnung, dass sich die Dinge zum Besseren wenden ließen, wenn man nur laut genug aufbegehre. Ich war in den vergangenen Monaten oft bei Wirtschaftsverbänden zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Wenn ich die Stimmung beschreiben sollte, würde ich sagen: totale Konsternation. An die Stelle der Empörung ist stille Verzweiflung getreten.

Wie konnte es so weit kommen? Die Grünen sind wie die Grünen sind. Es gibt bei ihnen eine Reihe vernünftiger Leute, aber eben auch viele beinharte Ideologen, die Regierungsarbeit mit dem Abhaken von Parteiprogrammen verwechseln. Anderseits ist Deutschland wohlhabend und stabil genug, dass es auch ein paar Grüne an der Regierung aushält.

Das eigentliche Rätsel ist: Wie konnte die SPD so vom Weg abkommen? Wenn es eine Partei gibt, die über eine Anbindung an die normale Arbeitswelt verfügt, dann die Sozialdemokratie. Der ehrliche Malocher steht bis heute in hohem Ansehen. Schon in meiner Jugend war er eher Ideal denn erlebte Realität. Wenn meine sozialdemokratische Mutter den Fleiß des Eisenbiegers besang, dann aus der Entfernung des Hamburger Villenviertels. Aber wenigstens gab es ein Gefühl, dass man die einfachen Leute, wie sie hießen, nicht aus dem Auge verlieren sollte.

Was also ist passiert? Die Akademisierung ist passiert. Heute sucht man auch in den Reihen der SPD vergeblich Leute, die mal an der Werkbank gestanden haben. Wer einen Parteitag besucht, begegnet dort nahezu ausschließlich Menschen mit akademischem oder anakademisiertem Hintergrund.

Weil die Delegierten nicht nur über das Programm be-
stimmen, sondern auch darüber, wer auf den Listen­plätzen vorne steht, nehmen die Themen aus der akademischen Welt immer größeres Gewicht ein. Deshalb kommt es zum Bürgergeld, obwohl keine soziale Wohltat unter sozialdemokratischen Traditionswählern so verhasst ist wie das bedingungslose Grundeinkommen für Faulenzer. Oder zum Selbstbestimmungsgesetz, das Mann und Frau zu Kategorien von gestern erklärt.

E

in weiteres Problem der Akademisierung von Politik ist: Sie macht auch wahnsinnig empfindlich. Wenn einem an der Uni etwas beigebracht wird, dann bei der geringsten Grenzüberschreitung nach Hilfe zu schreien. Wo früher eine Zurechtweisung geboten schien, erfolgt heute lieber der Ruf nach der Antidiskriminierungsbeauftragten.

Das färbt ab, bis in die höchsten Ränge. Annalena Baerbock hat Strafantrag gegen einen bayerischen Unternehmer gestellt, weil der in seinem Garten satirische Plakate gegen die Grünen aufgestellt hatte. Ihre Kollegin Lisa Paus möchte am liebsten jedem, der sich übermäßiger Regierungskritik schuldig macht, den Verfassungsschutz auf den Hals hetzen.

Für die Entwicklungshilfeministerin ist die Sache übrigens noch nicht ausgestanden. Sie hat zwar umgehend erklärt, das Verfassungsgerichtsurteil vollumfänglich anzuerkennen. Aber Anwalt Steinhöfel hat dem Ministerium einen Fragenkatalog überstellt, auf dessen Beantwortung er besteht. So möchte der Anwalt geklärt wissen, wer auf die Idee kam, gegen seinen Mandanten gerichtliche Schritte einzuleiten. Und natürlich: Wie hoch der Stundensatz der Berliner Kanzlei Schertz Bergmann war, die Schulze zu Rate zog.

Mindestens 20 000 Euro haben die Promi-Anwälte in Rechnung gestellt, wie man dem „Tagesspiegel“ entnehmen konnte. Dazu kommen die Auslagen der gegnerischen Seite plus Gerichtskosten.

Es gibt eine Petition, die Frau Schulze auffordert, das Geld zu erstatten. Das einem anvertraute Geld anderer ­Leute für unsinnige Rechtshändel in eigener Sache auszugeben, kann man auch als Veruntreuung von Steuergeldern sehen. Aber den Gedanken verfolgen wir lieber nicht weiter. Sonst haben wir morgen noch ein Schreiben der Kanzlei Scherz Bergmann im Briefkasten. Und das will ja keiner, oder?

© Michael Szyszka

Mit Leuten wie Höcke reden? Viele Journalisten halten die Bürger offenbar für blöd

Man dürfe den Rechten nicht die Stichworte liefern, heißt es. Dahinter steht die Vorstellung, man müsse bestimmte Themen nur aus den Medien heraushalten und schon würde nicht mehr darüber geredet.

Die AfDdurfte nicht zum Bundespresseball. Seit die Partei im Bundestag sitzt, also seit 2017, standen auch die Abgeordneten der AfD auf der Einladungsliste. Dieses Mal nicht. „Die Partei passt nicht zu uns, mit denen kann man kaum die Demokratie verteidigen“, sagte Mathis Feldhoff, der Vorsitzende des Vereins der Bundespressekonferenz, der den Ball ausrichtet, der Nachrichtenagentur „dpa“.

.Der Ball stand unter dem Motto: „Für die Pressefreiheit. Demokratie schützen.“ Wer denkt sich so etwas aus? Klar, irgendwie sind wir alle für Demokratie. Ist ja auch eine super Sache. Aber muss man deswegen gleich im Takt dazu tanzen? Ich dachte, es gehe bei einem Ball darum, sich einen hinter die Binde zu gießen und ansonsten den lieben Gott eine gute Person sein zu lassen. Aber was verstehe ich schon von Pressebällen.

Eine Freundin fragte, ob ich sie begleiten würde, sie habe noch eine Karte übrig. Ich weiß, warum ich dankend ablehnte. Ich hätte den Demokratietest nie und nimmer bestanden. Wenn ich höre, ich solle mich zur Verteidigung höherer Dinge einfinden, bin ich weg.

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Ich habe es nicht anders gelernt. Als ich zur Journalistenschule ging, stand alles Mögliche auf dem Lehrplan: Nachricht, Recherche, Kommentar, die Feinheiten der deutschen Sprache. Demokratieverteidigung war nicht dabei.

Leider schreiben viele in meinem Gewerbe inzwischen auch so, als wollten sie einen Demokratieförderpreis gewinnen. Keine schlechten Scherze mehr, keine fiesen Witze, natürlich auch nichts Schräges oder Anarchisches, woraus man einem einen Strick drehen könnte. Dafür lange Riemen, wie man den Staat vor seinen Feinden schützt.

Ich halte die AfD für ein ergiebiges Thema. Mich würde zum Beispiel brennend interessieren, wie es bei Alice Weidel zu Hause aussieht. Wie bringt sie das zusammen: das Leben als lesbische Mutter und den Vorsitz einer Partei, die Lesben für Frauen hält, die einfach noch nicht den richtigen Mann gefunden haben?

Auch ein Hausbesuch bei Björn Höcke erschiene mir vielversprechend. Ich wüsste zu gerne, ob er im Keller wirklich eine Surround-Anlage eingerichtet hat, um Goebbels Reden in Dolby Atmos zu hören.

Schon physiognomisch ist Höcke eine fantastische Figur. Ich konnte während des „Welt“-Duells mit dem CDU-Mann Mario Voigt den Blick nicht von ihm wenden. Minutenlang verharrte er mit der Hand am Kinn, als sei er direkt einem Disney-Film über die deutsche Romantik entsprungen. Dazu diese Sprache, die immer einen Überschuss Luise Rinser enthält („mir brennt der Mund“). Tolles Material, nach dem sich jeder Journalist die Finger leckt, sollte man meinen.

Stattdessen werden uns lange Elogen geliefert, weshalb man am besten gar nicht mit diesen Leuten redet. Weil: Wer mit ihnen redet, bietet ihnen eine Bühne.

Man dürfe den Rechten keine Bühne bieten, heißt es. Ich halte diesen Satz für den Gipfel der Anmaßung. Journalisten sollten Politikern nie eine Bühne bieten, und zwar egal welcher Couleur. Außerdem ist es nicht die Aufgabe von Medien, Parteien groß oder klein zu schreiben. Dass sich die politische Konkurrenz den Kopf zerbricht, wie sie der AfD den Weg verlegen kann, das erwarte ich von ihr. Aber Journalisten sind keine Politiker. Sie sollten auch nicht versuchen es zu sein.

Man dürfe den Rechten nicht die Stichworte liefern, lautet eine andere Formulierung. Dahinter steht die Vorstellung, man müsse bestimmte Themen nur aus der Zeitung oder dem Fernsehen heraushalten und schon würde nicht mehr darüber geredet. Offenbar halten viele der im Journalismus Tätigen die Bürger für blöd.

Man kann selbstverständlich solange die Kriminalitätsstatistik kleinreden, bis nur noch Touristen übrig sind, um den hohen Anteil von Ausländern unter den Tatverdächtigen zu erklären. Aber das Einzige, was man mit diesen Verrenkungen erreicht, ist, dass die Leute den Journalisten noch mehr misstrauen, als sie es ohnehin tun. Nicht mal in der DDR hat der Versuch funktioniert, die Menschen von Informationen fernzuhalten, die man für schädlich hielt.

Dennoch ist der Reflex erst einmal: Am besten gar nicht dran rühren. Unter diesen Umständen ist es fast eine Sensation, wenn der „Presseclub“ 45 Minuten über die Frage diskutieren lässt, ob steigende Kriminalität eine Sache der Herkunft sei. Ich bin sicher, es gab beim WDR nicht wenige, die fanden, man hätte etwas ganz anderes senden sollen. Am besten wieder was zum Klimawandel. Oder zu Rassismus. Das geht immer.

Man sieht die Folge dieser Wirklichkeitsabgewandtheit auch in den sinkenden Auflagen. Anders als die Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kann man Leser ja nicht zum Abschluss eines Abonnements verpflichten.

Der Rückgang wird zum Naturgesetz erklärt, aber das ist er nicht. Der „Spiegel” zum Beispiel hat trotz Internet Jahr für Jahr zugelegt, bis die Redaktion in ihrer Weisheit auf die Idee kam, nach Stefan Aust eine Reihe von Chefredakteuren zu installieren, die vor allem darüber nachdachten, wie man die eigenen Redakteure glücklich macht.

Schon die Frage, was den Leser interessiert, gilt in manchen Redaktionen als Häresie. Entscheidend ist bei der Themensuche vielmehr, was ihn interessieren sollte. Wenn er sich uneinsichtig zeigt, wird er so lange traktiert, bis er sich in sein Schicksal fügt – oder die Segel streicht.

Dass die mediale Wirklichkeit und die Wirklichkeit, die viele Menschen als Normalität empfinden, auseinanderfallen, ist kein ganz neues Phänomen. Auch zur Zeit von Helmut Kohl waren veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung nicht immer deckungsgleich. Was die Beurteilung seiner Person angeht, fielen sie erkennbar auseinander. Aber es gab wenigstens noch den Versuch, die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, und sei es aus Eigennutz.

Inzwischen gelten sinkende Auflagen als notwendiges Übel. Wenn auf dem Weg der Erneuerung alte Abonnenten verloren gehen, dann sei’s drum. Jung, weiblich und divers – so wünscht sich die moderne Chefredaktion ihre Leserschaft. Wer nicht einsehen will, dass die neue Zeit auch neue Schwerpunkte verlangt, muss sich halt eine andere publizistische Heimat suchen.

Es hat sich eingebürgert, von Haltungsjournalismus zu sprechen. Aber das ist eigentlich das falsche Wort. Gegen Haltung ist nichts zu sagen. Auch ich habe zu vielen Dingen eine klare Haltung, wie die Leser meiner Kolumne aus leidvoller Erfahrung wissen. Vielleicht müsste man eher von Wirklichkeitsnachbesserungsjournalismus reden. Wichtiger, als zu sagen, was ist, erscheint es den Vertretern desselben zu sagen, wie es sein sollte.

Da sich die Lebensrealität oft als sperriger erweist als gedacht, tut sich zwischen den Erwartungen und den Ergebnissen der hochherzigen Bemühungen eine Lücke auf. Das ist wie in der Politik. Aber das heißt mitnichten, dass man klein beigibt. Statt die Ansprüche anzupassen, werden die Anstrengungen einfach verdoppelt.

Mein Kollege Harald Martenstein hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass das Wort „Deportation“ bei der berühmten Veranstaltung in Potsdam bekanntermaßen nicht gefallen ist. Dennoch ist bis heute in vielen Medien von einer Tagung die Rede, bei der Deportationen beredet und geplant worden seien. Das habe er in dieser Drastik noch nicht erlebt, sagte Martenstein, dass eine widerlegte Sichtweise einfach eisern durchgehalten werde.

Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich jeden Weltverbesserungsjournalisten dazu verdonnern, sich wieder mehr für das zu interessieren, was ist. Das wäre ein echter Dienst an der Demokratie. Aber vermutlich ist das viel zu simpel gedacht.

© Sören Kunz

Papa Nelson weiß Rat

Dass Deutschland zu Wohlstand kam, verdankt das Land auch den vielen fleißigen Gastarbeitern. Die Zuwanderung ist wieder hoch, aber anders als damals landen viele Neuankömmlinge heute im Bürgergeld. Was ist denn da schiefgelaufen?

Das Politmagazin „Kontraste“ schilderte vor einigen Wochen den Fall des Geflüchteten Jonathan A., im Familien- und Freundeskreis auch bekannt als Papa Nelson beziehungsweise Mr. Cash Money. Der Mann stammt aus einem Dorf in Nigeria. Im Gegensatz zu vielen afrikanischen Flüchtlingen, die es nach Deutschland zieht, hat er es geschafft, hier Fuß zu fassen.

Er hat die deutsche Sprache erlernt, jedenfalls so weit, dass er auf TikTok Tipps geben kann, wie man es in Deutschland zu Wohlstand bringt. Seit ein paar Jahren ist er sogar im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Im Grunde ist Papa Nelson das, was man ein Vorbild der Integration nennen könnte, und damit genau die Sorte von Flüchtling, denen die Regierung mit dem neuen Einbürgerungsgesetz die Deutschwerdung erleichtern will.

Es gibt nur einen kleinen Schönheitsfehler. Herr A. ist zwar groß gewachsen und von beeindruckender Statur, auf Videos zeigt er gerne seine Muskeln vor. Einer geregelten Arbeit steht also nichts im Wege. Leider hat er jedoch beschlossen, dass Arbeit nichts für ihn sei, weshalb er Bürgergeld bezieht. Und das nicht nur für sich, sondern auch für mittlerweile 24 Kinder von mehreren Frauen, die auf diesem Wege ebenfalls ein Bleiberecht erwirkt haben. 1,5 Millionen Euro kostet der Unterhalt des auf insgesamt 94 Personen angewachsenen Haushalts die Sozialkasse, pro Jahr.

Als ich davon hörte, dachte ich erst, das sei ein Witz. Aber nein, das ist deutsches Ausländerrecht. Und das Verrückteste dabei ist: Den Behörden sind offenkundig die Hände gebunden. Man sollte meinen, dass ein solch offensichtlicher Schabernack zulasten des Steuerzahlers nicht Bestand haben kann. Aber so sehr sich die Ämter auch anstrengen, gegen diese Form der Bereicherung ist kein Kraut gewachsen. Wer wie Mr. Cash Money ein Kind als sein eigenes anerkennt, erhält auch entsprechende Unterstützung, egal, ob er der leibliche Vater ist oder nicht.

Ich habe dieser Tage ein Buch in die Hände bekommen, das von den Erfahrungen und Entbehrungen der Menschen handelt, die Deutschland als sogenannte Gastarbeiter mit aufgebaut haben. Es trägt den etwas hochtrabenden Titel „Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft“, sein Autor ist der mir wohlbekannte und geschätzte Theologe Stephan Anpalagan. Das Buch beginnt mit dem Schicksal der Familie Yilmaz, deren Großvater, Hüseyin Yilmaz, in den 70er Jahre nach Deutschland kam, als der 1000001ste Gastarbeiter. Eigentlich sollten es nur ein, zwei Jahre in der Fremde werden. Aber dann kam die Frau nach, weil die Sehnsucht zu groß war. Am Ende hatten die Yilmaz vier Kinder großgezogen und dieses seltsame Deutschland zu ihrer Heimat gemacht.

Welcher Mut, welche Entschlusskraft, dachte ich, während ich mich durch Anpalagans Buch las. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Kaff in Anatolien aufgewachsen, wo schon Istanbul unvorstellbar weit entfernt ist, und dann beschließen Sie in ein Land aufzubrechen, dessen Sprache Sie nicht beherrschen, dessen Sitten und Gebräuche Ihnen gänzlich fremd sind, und das sich auch nicht als besonders einladend erweist, wenn man dann einmal da ist, weder vom Wetter noch von den Umgangsformen.

Das Lob der Arbeitsmoral durchzieht den ganzen Text, erst für die der Polen, die kamen, um in den Bergwerken zu schuften, dann für die der Italiener, die dafür sorgten, dass die Bänder der Automobilindustrie nicht stillstanden, dann die der Türken, die sich auf den vielen Baustellen krumm schufteten. Sie alle haben sich reingehängt in der Hoffnung, dass es ihren Kindern besser gehen würde. Und oft klappte es ja auch. Die zweite Generation ging hier zur Schule, die ersten schafften es an die Universität.

Starke Arbeitsethik, hoher Leistungswille, wenig Larmoyanz – das zeichnete die Angehörigen der migrantischen Aufbaugeneration aus. Das ist es auch, was ihnen die Anerkennung und den Respekt der Deutschen einbrachte, die zunächst mit Argwohn und auch Feindseligkeit auf die Zuwanderer blickten.

Irgendetwas ist zwischendurch schief gegangen. Wieder ist viel davon die Rede, dass Deutschland ohne Zuwanderung nicht auskomme, weil die Deutschen selbst zu wenig Kinder in die Welt setzten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es ist das Argument, das die Politiker schon vor 50 Jahren benutzten, als sie die ersten Anwerbeabkommen schlossen. Aber im Gegensatz zu damals landen viele Zuwanderer nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern in den Karteien der Sozialämter.

Das ist kein dummes Vorurteil, das sagen die Zahlen. 51 Prozent der Bürgergeldempfänger, wie Hartz-IV-Bezieher heute vornehm heißen, sind inzwischen ausländische Staatsbürger. Stellt man auf den sogenannten Migrationshintergrund ab, sind es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sogar 62 Prozent.

Vielleicht sind die Zuwanderer einfach nur zu gut integriert. Auch bei vielen Deutschen ist es mit der Arbeitsmoral inzwischen so eine Sache. Gerade hat die Firmenleitung des Werkzeugherstellers Stihl beschlossen, ein neues Werk nicht mehr in Deutschland, sondern stattdessen wohl in der Schweiz zu errichten. Auch die Schweiz gilt nicht gerade als Billiglohnland. Aber verglichen mit Deutschland, wo die IG-Metall jetzt die 32-Stunden-Woche einführen will, ist sogar die Schweiz günstig.

Dass auch viele Neuankömmlinge vor allem die richtige Work-Life-Balance im Blick haben, ist allerdings nicht das, was Politiker erzählen, wenn sie die Vorzüge von mehr Immigration nennen. Im Gegenteil: Wenn das Loblied der Einwanderung gesungen wird, ist immer von den tüchtigen Pflegekräften die Rede, die dafür sorgen, dass die Versorgung der Alten nicht zusammenbricht, und den vielen fleißigen Händen, die es in der Gastronomie oder der Landwirtschaft braucht.

Woran liegt es, dass überall händeringend nach Leuten gesucht wird, die anpacken, wenn gleichzeitig so viele Menschen nach Deutschland kommen wie lange nicht mehr? Ich habe dazu einen aufschlussreichen Artikel im Wirtschaftsteil des „Spiegel“ gelesen. Anders als früher wollen wir es besonders gutmachen, lautet das Fazit.

Die Neuankömmlinge werden erst einmal in Sprachkurse gesetzt, damit sie Deutsch lernen. Dann folgen diverse Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen. Denn selbstverständlich nehmen wir es auch bei den Zertifikaten und Bescheinigungen heute ganz genau.

So legen wir Hunderttausende still. Und wenn sie dann so weit wären, loszulegen, sagen sich viele: Eigentlich ist dieses Leben auf Kosten des Arbeitsamtes gar nicht so schlecht. Man braucht ja kein Harvard-Diplom, um spitz zu kriegen, wie der deutsche Sozialstaat funktioniert. Wer lange genug klagt, dass er an einer Schrumpfleber laboriert oder einem anderen Leiden, das ihm schwerere Arbeit verbietet, der kommt auch ohne Arbeit über die Runden. Im Zweifel bessert er sein Bürgergeld mit etwas Schwarzarbeit auf.

Jonathan A. alias Papa Nelson alias Mr. Cash Money heißt übrigens auch deshalb Mr. Cash Money, weil er sich einen Spaß daraus macht, den Reichtum vorzuführen, den ihm die regelmäßige Zuweisung der Familienkasse Dortmund erlaubt. Da sieht man ihn dann in seinem Dorf in Nigeria in einem schicken Audi vorfahren oder dem Cabrio, das er sich gerade geleistet hat. Auf einem anderen Video wirft er, in Landestracht gekleidet, Geldscheine wie Kamellen unters jubelnde Volk.

Arbeitsmarktforscher werden nicht müde zu betonen, dass die Sozialhilfe bei der Entscheidung für Deutschland keine Rolle spiele. Der genannte Pull-Effekt ist die vermutlich meistbestrittene Tatsache im deutschen Fernsehen. Leider sehen nicht alle Flüchtlinge den Presseclub oder Markus Lanz, wo ihnen auseinandergesetzt wird, wie entbehrungsreich und kompliziert in Wahrheit das Leben als Zuwanderer in Deutschland ist. Ich fürchte, sie verlassen sich eher auf die schönen Bilder aus dem Leben von Leuten wie Jonathan A.

© Silke Werzinger

FOCUS-Kolumne von Jan FleischhauerEr hasst Schwule und feiert Kindermörder: Warum lächelt Baerbock diesen Mann so an?

Haben sich die Alliierten eines Genozids schuldig gemacht, als sie Nazi-Deutschland bombardierten und Zehntausende unschuldiger Zivilisten töten? Nach den Kriterien, die an Israel angelegt werden, muss man sagen: Ja

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war dieser Tage die Zuschrift eines Lesers zur Israelberichterstattung abgedruckt. Der Schreiber, Frank Niggemeier aus Berlin, bezog sich dabei insbesondere auf den Vorwurf, Israel würde in Gaza einen Genozid begehen. Der Brief las sich wie folgt:

„Meine Großmutter wurde mit 30 Jahren am 7. März 1945 durch die Briten getötet. In ihrem Haus, in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn und einem Baby, das sie im Leibe trug. War das Mord? Gar Teil eines Genozids? Die Briten wollten nicht meine Großmutter und ihren Sohn töten. Sie warfen Bomben auf meine Heimatstadt, um Infrastruktur zu treffen, die für den Krieg und Hitlers Terror wichtig war. So trafen ihre Bomben nicht die Infrastruktur, sondern meine Familie. Und viele andere.

Man stelle sich vor, ein englischer oder amerikanischer Journalist hätte damals einen Filmbericht machen können. Von dem Bombenkrater, der vom Haus meiner Großeltern übrig geblieben war. Davor meine Mutter, die einen Tag später zehn Jahre alt wurde, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder (drei Jahre) und einem verzweifelten Vater. Was für Filmaufnahmen das geworden wären! Eine ans Herz gehende Opferstory. Und davon hätten die Journalisten jeden Tag neue zeigen können. Es waren ja Zehntausende unschuldiger Zivilisten, die im Kampf gegen die Nazis getötet wurden.

Hätte die Öffentlichkeit in Großbritannien und den USA nach einer humanitären Feuerpause gerufen? Hätte der Rest der Welt die Alliierten dazu ermahnt? Hätte man den Kampf um Berlin als das Zentrum von Krieg und Terror unterbrechen sollen?“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock war vor Ostern in Ramallah, um die Möglichkeiten einer humanitären Feuerpause in Gaza zu erkunden. Ich habe Bilder der Begegnung mit Palästinenser-Führer Mahmud Abbas gesehen. Es wäre zu viel, davon zu sprechen, sie habe ihn angeschmachtet. Aber so, wie sie ihn anblickte, voller Herzlichkeit und Einverständnis, schaut man normalerweise nur Menschen an, denen man sich nahe fühlt.

Was sieht Frau Baerbock, wenn sie Mahmud Abbas in die Augen schaut? Die Weisheit des Alters? Das unschuldige Lächeln seiner Kindeskinder? Das Leid des palästinensischen Volkes, das sich in seinen Augen spiegelt und ihr Herz rührt?

Ich weiß, was ich sehe, wenn ich Abbas erblicke. Ich sehe einen Mann, der zu den korruptesten Führern der Welt gehört. Der Frauen für Menschen zweiter Klasse hält, Demokratie für ein Zeichen von Schwäche und Schwule für Abschaum, den man entsorgen muss. Aber ich bin ja auch Kolumnist beim FOCUS und nicht Außenministerin.

Frauen lassen sich so leicht täuschen. Deshalb sollte man feministische Außenpolitik auch lieber Männern überlassen. Kleiner Scherz. Aber ich hätte schon gedacht, dass Feminismus die Solidarität oder zumindest das Mitgefühl mit Leuten beinhaltet, die wie Schwule oder Transmenschen zu den Schwächeren zählen.

Am Tag, an dem Baerbock dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde ihre Aufwartung machte, wurde der Bericht einer Geisel publik, die 55 Tage gefesselt an ein Kinderbett in Gaza verbracht hatte. Die Frau, eine vierzigjährige Juristin aus dem Kibbuz Kfar Asa, schilderte, wie ihr Wächter sich neben sie hockte und sie betatschte, wie er sie immer wieder fragte, wann sie ihre Periode habe, und sie schließlich zwang, ihn zu befriedigen, nachdem er ihr erlaubt hatte, sich zu waschen.

134 Menschen befinden sich nach wie vor in Geiselhaft. Es sind übrigens nicht nur die Schergen der Hamas, die über sie wachen. Vor wenigen Tagen las ich von einem israelischen Elternpaar, das mit seinen zwei kleinen Kindern von einer palästinensischen Familie im Keller deren Hauses in Gaza gefangen gehalten worden war. Hin und wieder warfen die Hausbesitzer ein paar Abfälle die Kellertreppe herunter.

Kann man sich vorstellen, dass sich die Geschichte mit vertauschten Rollen zugetragen hätte? Dass eine israelische Familie in Aschkelon oder Haifa ihre Nachbarn in Geiselhaft hält, um sich daran zu ergötzen, wie diese langsam vor Hunger um den Verstand kommen? Ich nicht.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handelt, die nichts mit dem palästinensischen Volk zu tun haben – so wie ja auch die Mehrzahl der Deutschen bekanntermaßen nicht einverstanden mit den Nazis und ihren Methoden waren.

Leider sprechen die Umfragen eine andere Sprache. 59,3 Prozent der Bewohner des Gazastreifens erklärten in einer Umfrage des PEW-Instituts, dass sie den Überfall vom 7. Oktober sehr unterstützen, 15,7 Prozent tun das zumindest zum Teil. Nur 7,3 Prozent sagten, dass sie die Massaker ablehnen, weitere 5,3 Prozent immerhin irgendwie.

Das heißt, lediglich 13 Prozent äußern Vorbehalte dagegen, Kinder zu enthaupten, Babys bei lebendigem Leib zu verbrennen und Frauen zu verstümmeln, während man sie vergewaltigt. Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal aus Kriegsgebieten. Eine kürzlich erfolgte Erhebung des Meinungsforschers Shakaki kommt allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis.

Es gibt auch Politiker, die der 7. Oktober verändert hat, das sollte man nicht unterschlagen. Der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeine“, Philipp Peyman Engel, schildert in seinem kürzlich erschienen Buch „Deutsche Lebenslügen“ eine Reise an der Seite des Bundespräsidenten nach Israel im November. Kein Politiker sei neben Claudia Roth in der jüdischen Community in Deutschland so verhasst wie Frank-Walter Steinmeier, schreibt Peyman, entsprechend gering seien seine Erwartungen gewesen.

Aber dann wurden Steinmeier die Videos vorgeführt, die das Grauen des 7. Oktober dokumentieren. Material der Überwachungskameras sowie der Bodycams und Handys der Täter, die ihre Taten aufzeichneten und streamten. 47 Minuten des reinen, ungefilterten Horrors. Wer diesen Film gesehen hat, dessen Bild vom Menschen ist für immer verändert.

Steinmeier bat nach 10 Minuten, den Film anzuhalten, weil er es nicht mehr ertrug. An der Stelle, an der er unterbrach, wurde gerade einem Familienvater mit einem stumpfen Messer der Kopf abgeschnitten. Er habe danach auf der Reise einen neuen Frank-Walter Steinmeier erlebt, schreibt Peyman. Einen Steinmeier, der Klartext redete und in den Hintergrundgesprächen zu einer deutlichen Position zu den antisemitischen Demonstrationen von Muslimen in Deutschland fand.

Kennt Annalena Baerbock die Dokumentation der Verbrechen? Ist ihr bekannt, dass Mahmud Abbas die Kindermörder und Frauenschänder als Märtyrer bezeichnet? Kennt sie die Fernsehauftritte, in denen Hamas-Führer geloben, den 7. Oktober so oft zu wiederholen, bis niemand mehr übrig ist, den man abschlachten kann? Ich will für sie annehmen, dass ihr das alles unbekannt ist. Wäre es anders, müsste man denken, dass die feministische Außenpolitik, die sie ankündigte, in Wahrheit eine Chiffre für Nihilismus ist.

Die Hamas greift nicht nach der Weltherrschaft. Sie hat auch nicht Millionen versklavt oder ermordet, das unterscheidet sie von den Nazis. Aber damals wie heute geht es darum, einen Feind niederzuringen, der bei der Durchsetzung seiner Ziele keine Grenzen kennt. Wenn sie bei der Hamas die Möglichkeit hätten, den Holocaust zu vollenden, dann würden sie es sofort tun.

Rechtfertigt das jede Form der Kriegsführung? Selbstverständlich nicht. Die Zivilbevölkerung ist zu schonen, auch wenn sie die Ziele ihrer Führung teilt. Wer einen Krieg beginnt, muss allerdings mit Konsequenzen rechnen, das gilt ebenfalls heute wie gestern.

Ein Freund sagte: „Die vergangenen Monate haben auch etwas Gutes. Man sieht klarer, alle Schleier sind weg.“ Das ist wahr. Allerdings liegt in Illusionen manchmal großer Trost. Ohne sie ist es auch nicht leichter.

© Michael Szyszka

Es lebe der Blockwart! Wie SPD und Grüne das Denunzieren als Dienst an der Demokratie verkaufen

Wer sich als Partei mit dem Staat verwechselt, der verwechselt Regierungskritik schnell mit Staatskritik. Auch die ist nach dem Grundgesetz erlaubt. Demnächst allerdings in deutlich engeren Grenzen, wenn es nach den Grünen geht

 Ende Januar lasen die Autoren Henryk M. Broder und Reinhard Mohr in Berlin aus ihrem Buch „Durchs irre Germanistan“. Das Buch, das seit Wochen auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ steht, ist ein munterer Streifzug durch die Ampel-Republik, bei dem vor allem Leute auf ihre Kosten kommen, die nicht jeden Tag ein Lichtlein für Annalena Baerbock und Robert Habeck aufstecken.

Die beiden Autoren sind geübte Vortragende, sie arbeiten nach dem Motto: Lieber einen Freund verlieren als eine gute Pointe. Die Stimmung war, trotz des traurigen Sujets, entsprechend heiter. Das Publikum, die bei solchen Gelegenheiten typische Berliner Mischung aus Alt-Achtundsechzigern, undogmatischer Linke und bürgerlicher Mitte, zeigte sich zufrieden.

Wenige Tage nach der Lesung fand sich auf dem Online-Melde-Portal „Berliner Register“ („Melde Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten an uns“) neben Berichten über Hakenkreuzschmierereien und ausländerfeindlichen Äußerungen folgender Eintrag:

„In der Bibliothek des Konservatismus fand eine Lesung statt, bei der das Buch Durchs irre Germanistan‘ durch die beiden Autoren vorgestellt wurde. Der Begriff ‚Germanistan‘ kann so verstanden werden, dass er durch die begriffliche Anlehnung an Namen arabischer Staaten die angebliche Rückschrittlichkeit Deutschlands verdeutlichen soll. Dies kann als rassistisch eingeordnet werden, weil arabischen Staaten eine Rückständigkeit zugeschrieben und auf Deutschland übertragen wird.“

In der Lesung seien zudem auf satirische Weise feministische Themen wie das Gendern und das Selbstbestimmungsgesetz ins Lächerliche gezogen worden. „Geschlechtergerechte Sprache wurde als Ausdruck von Kleingeist und Konformität dargestellt. Beispielsweise wurde einem Radiomoderator, der einem der Autoren durch seine geschlechtergerechte Ausdrucksweise aufgefallen war, unterstellt, hätte er im Nationalsozialismus gelebt, hätte er auch mit ‚Heil Hitler‘ unterschrieben. Diese Analogie kann zudem als NS-verharmlosend interpretiert werden.“

Rassistisch, frauenfeindlich und zudem noch nah an der Verharmlosung des Dritten Reichs: Viel mehr geht eigentlich nicht. Ich habe Reinhard Mohr sofort angerufen. Ihn plagte eine furchtbare Erkältung, als wir sprachen, aber ansonsten schien er unverändert guter Dinge. Für alles gäbe es eine Premiere, sagte er, auch für anonyme Anschwärzung. „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich jetzt denunziert worden, dabei stammen sämtliche inkriminierten Stellen aus einem im Handel frei erhältlichen Buch. Man sieht, wie sich der Geist des Blockwarts über alle Zeitenwenden hinweg erhalten hat.“

Broder und Mohr sind alte Hasen. Die Zwei wirft so schnell nichts aus der Bahn, schon gar nicht die Nennung bei einer Berliner Meldestelle. Jüngere Autoren sind da allerdings möglicherweise nicht so hart gesotten. Man weiß ja, wie das geht: Erst steht man prominent im Netz, dann heißt es: „Können wir den noch einladen? Der verbreitet angeblich antifeministische Texte.“ Dann ist man plötzlich ein umstrittener Autor. Und die Zeiten, als „umstritten“ ein Ehrenzeichen waren, sind definitiv vorbei. Wenn heute etwas die intellektuelle Szene in Deutschland auszeichnet, dann das Bedürfnis, nicht anzuecken.

Das „Berliner Register“ ist das jüngste Beispiel für eine neue Private-Public-Partnership, die sich unter Schirmherrschaft von SPD und Grünen entwickelt hat. Private Betreiber übernehmen das Handling (in dem Fall der sozialistische Jugendverband Die Falken), die Finanzierung kommt vom Staat. Bis zu einer Million Euro erhält das „Berliner Register“ jährlich an Fördergeldern von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales. Darüber hinaus gibt es Zuwendungen durch eine Reihe von Bezirksämtern. Das stellt die ganze Veranstaltung nicht nur auf eine solide ökonomische Basis, sondern verleiht den als „Vorfällen“ deklarierten Meldungen doch gleich mehr Gewicht.

Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Bislang galt hier Artikel 5 Grundgesetz, wonach jeder frei ist, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern. Einschränkendes regelten die Gesetze zum Persönlichkeitsschutz sowie spezielle Strafnormen (keine Volksverhetzung, kein Gewaltaufruf!). Wo beides kollidiert, die Meinungsfreiheit und das Strafrecht, legte das Verfassungsgericht fest, dass bei mehrdeutigen Aussagen immer der Deutung Vorrang zu gewähren sei, die eine Strafbarkeit ausschließe.

Das möchte die Bundesregierung so nicht mehr stehen lassen. Es soll nun das Gegenteil gelten: im Zweifel gegen den Angeklagten. „Viele Feinde der Demokratie wissen ganz genau, was gerade noch so unter Meinungsfreiheit fällt“, verkündete Bundesfamilienministerin Lisa Paus im Februar auf einer Pressekonferenz zum Thema „Hass im Netz“. Hass komme auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vor, dem Umstand wolle man Rechnung tragen.

Die Antwort heißt: „Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung“. Aus Sicht der Regierung braucht es nicht nur neue Instrumente wie Meldeportale, bei denen man als aufmerksamer Bürger dann antifeministisches, transfeindliches und überhaupt diskriminierendes Verhalten anzeigen kann. Es braucht auch neue Kategorien, wenn man Delikte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen will.

Statt von der Meinungsfreiheit ist nun von mentalen und verbalen Grenzverschiebungen die Rede, die es in den Blick zu nehmen gelte. Der Chef des Bundesverfassungsschutzes spricht von „Denk- und Sprachmustern“, die sich nicht in der Sprache einnisten dürften. Seine Behörde hat im Jahresbericht vorsorglich eine neue Rubrik eingeführt: „Delegitimierung des Staates“, lautet diese.

Wie man sich der Delegitimierung verdächtig macht? Indem man zum Beispiel die politischen Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels infrage stellt und damit Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates untergräbt. So steht es da wörtlich drin.

Wer wäre nicht gegen Hass? Ich war vergangene Woche zu Gast in der „Münchner Runde“ beim Bayerischen Rundfunk. Mir gegenüber saß Katharina Schulze von den Grünen. Schulze berichtete, welche Mails sie erreichen. Von wüsten Beschimpfungen bis zu Vergewaltigungsandrohungen ist alles dabei. Sie würde gerne sagen, dass sie das völlig kalt ließe, sagte sie, aber das wäre gelogen.

Auch mich erreichen regelmäßig Beleidigungen. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich mich schon im Kofferraum eines Autos wiederfand. Aber das, was auf Frauen einprasselt, hat noch einmal eine ganz andere Qualität. Fast immer geht es ums Aussehen, häufig wird es schlüpfrig oder freiheraus ekelhaft. Da muss man schon aus sehr hartem Holz geschnitzt sein, um davon unbeeindruckt zu bleiben.

Die Sache ist nur: Für all das gibt es bereits Gesetze. Beleidigung ist ebenso strafbar wie jede Form der Gewaltandrohung. Wenn derlei ungeahndet bleibt, dann nicht, weil es an entsprechenden Vorschriften fehlt, sondern an Personal oder Willen, diese durchzusetzen. Das kann also nicht der Grund für die neue Initiative sein.

Das Ganze hat auch einen monetären Aspekt, den sollte man nicht außer Acht lassen. Was unter dem klangvollen Namen „Demokratiefördergesetz“ läuft, ist ein großes Subventionsverstetigungsinstrument. Renate Künast hat das in schöner Deutlichkeit gesagt, als sie im Bundestag klagte, wie leid sie es sei, dass Antifa-Gruppen jedes Jahr von Neuem Projektgelder beantragen müssten. In Zukunft soll die Finanzierung dauerhaft gelten, damit auch die Antifa Planungssicherheit hat. Das ist das Versprechen an die Basis.

Im Zuge der Flick-Affäre, dem ersten großen Spendenskandal der Republik, tauchte der Begriff der „Pflege der politischen Landschaft“ auf. So bezeichneten die Vertreter des Flick-Konzerns die Zuwendungen an Politiker, die sie als Verbündete betrachteten. Das Demokratiefördergesetz ist die grüne Form der Landschaftspflege.

182 Millionen Euro hat das von Lisa Paus geführte Familienministerium unter dem Fördertitel „Demokratie leben“ 2023 ausgeschüttet, dieses Jahr sind es, trotz Haushaltssorgen, knapp 200 Millionen Euro. Das ist eine Stange Geld. Damit kann man viele Leute, die einem nicht passen, zu Demokratiefeinden erklären.

© Michael Szyszka

Klatschen, wenn die anderen auch klatschen

Der Glaube, dass Künstler besonders sensible und weitsichtige Menschen seien, hält sich bis heute. Dabei ist es möglicherweise genau andersherum: Gerade weil sie politisch eher naiv sind, stechen sie als Regisseure und Autoren besonders hervor

 In schwachen Momenten denke ich, wir brauchen mehr Kulturbanausen in der Regierung. Nicht dauerhaft, nein. Nur so lange, bis all die Subventionskünstler, die mit dem Geld der Steuerzahler ihre politischen Projektwerkstätten betreiben, gezwungen sind, sich über den Verkauf ihrer Kunst selbst zu finanzieren.

Ich weiß, das ist kindisch. Aber manchmal kann ich nicht anders. Dann erfasst mich beim Blick ins Feuilleton ein solcher Ingrimm, dass kurz der Verstand aussetzt und ich ein Stoßgebet zum Himmel sende, der liebe Herrgott möge für einen Tag nicht Claudia Roth, sondern Alice Weidel zu unserer Kulturstaatsministerin bestimmen, auf dass alle Fördertöpfe sofort versiegen.

Am Wochenende war es wieder so weit. In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich eine Aufarbeitung des Berlinale-Debakels. Dabei ging es auch um den israelischen Schauspieler David Cunio, der am 7. Oktober zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern von der Hamas nach Gaza verschleppt wurde.

Vor zehn Jahren war Cunio selbst ein kleiner Star auf der Berlinale gewesen. Sein Film „Youth“ gehörte zu den Beiträgen, die viel Lob bekamen. Es hätte also Grund genug gegeben, an sein Schicksal zu erinnern, zumal das Festival sich regelmäßig mit eindringlichen Appellen zu Wort meldet, wenn Filmleute in Gefangenschaft geraten. Aber in diesem Fall: kein Wort.

Cunio war nicht einfach vergessen worden. Man hatte seinen Namen bewusst gecancelt, wie die Recherche der „Süddeutschen“ ergab. Mehrere Kollegen hatten sich im Vorfeld mit Mails an die Festivalleitung gewandt. Auch an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und den Berliner Bürgermeister Kai Wegner waren flehentliche Bitten ergangen, die Erinnerung an den entführten Schauspieler wachzuhalten. Aber die Mails blieben sämtlich unbeantwortet. „Keine Antwort, keine Erklärung, nur Schweigen“, lautete das traurige Fazit.

Stattdessen dann der Aufritt der Filmemacher, die Israel in die Nähe von Nazi-Deutschland rückten. Wer dachte, das sei ein bedauerliches Missgeschick gewesen, eine Entgleisung, wie sie halt passieren kann, der sah sich nach Lektüre der „Süddeutschen“ eines Besseren belehrt. Die Solidarisierung mit der Hamas war gewollt.

Dass Künstler besonders sensible oder weitsichtige oder kluge Menschen seien, gehörte immer schon ins Reich der Fabel. Möglicherweise verhält es sich genau andersherum: Gerade weil sie politisch besonders naiv sind, stechen sie als Schauspieler oder Schriftsteller hervor. Schon der Schulbuchautor Heinrich Böll, der die Stelle des engagierten Künstlers in Deutschland begründete, war ein eher einfältiger Mensch.

Ihn als „steindumm“ und völlig „talentfrei“ zu bezeichnen, wie das Eckhard Henscheid tat, schießt möglicherweise über das Ziel hinaus. Aber dass heute jede Links-Amsel in „brennender Sorge“ in offenen Briefen ihre Stimme erhebt beziehungsweise Haltung und Gesicht zeigt, hängt auch mit dem von Böll pionierten Petitionswesen zusammen.

Was macht den politischen Künstler? Dass er klatscht, sobald andere auch klatschen. Kaum irgendwo ist das Anlehnungsbedürfnis kurioserweise so groß wie bei den sogenannten Kulturschaffenden, die sich auf ihre Aufsässigkeit und Widerständigkeit so viel einbilden. So war es ja auch auf der Berlinale. Wenn der ganze Saal applaudiert, möchte man nicht derjenige sein, der Buh ruft. Dann könnten alle komisch gucken!

Anfang der Woche machte ein Video die Runde, in dem eine Reihe von Schauspielern, angeführt von den „Tatort“-Kommissaren Dietmar Bär und Annette Frier, ihre Abneigung gegen rechts bekundeten, indem sie sich von dem Stuhl erhoben, auf dem sie zuvor Platz genommen hatten. „Wir stehen auf“, nannten die Beteiligten die Aktion, womit der Protest endgültig zur reinen Pose geronnen war.

Die Kulturaufseher können pingelig sein, so ist es nicht. Gerade erst haben die Grünen über ihre Kulturstaatsministerin eine neue Richtlinie zur Filmförderung verankert, in der nicht nur festgelegt ist, wie hoch am Set der Altpapieranteil beim Toilettenpapier sein muss (90 Prozent). Es gibt jetzt auch Vorgaben zu Übernachtungen (die Hälfte der Buchungen nur in Hotels „mit ausgewiesenem Umweltmaßnahmen“), zum Catering (an mindestens einem Tag pro Woche muss das Essensangebot rein vegetarisch sein) und zur Materialnutzung (Einwegbatterien? Streng verboten, „sowohl am Set als auch in den Produktionsbüros“).

Das Regelwerk ist so umfangreich geraten, dass es einen eigenen „Green Consultant“ braucht, weil bei Verstoß der sofortige Entzug der Fördermittel droht. Selbstverständlich wird auch genau darauf geachtet, dass es beim Dreh divers, geschlechtergerecht und inklusiv zugeht. Entsprechendes findet sich in den Vorgaben zur „sozialen Nachhaltigkeit“. Nur der Antisemitismus ist irgendwie unter den Tisch gefallen. Aber da will man jetzt nacharbeiten, wie die Grünen versprechen.

Hat Claudia Roth etwas für Antisemitismus übrig? Das glaube ich nicht. Ich habe sie ein paarmal getroffen, als ich noch in Berlin-Charlottenburg lebte. Wir hatten dasselbe Lieblingsrestaurant, das Adnan in der Schlüterstraße. Dass sie sich in der Politik ihre Fröhlichkeit erhalten hat, das hat mich immer für sie eingenommen. Leider hat bei ihr auch eine grenzenlose Naivität überlebt. Im Prinzip möchte sie mit allen Menschen gut Freund sein. Wenn ihr der iranische Außenminister ein High Five anbietet, schlägt sie genau so begeistert ein wie beim sudanesischen Friedensaktivisten.

Ich bin sicher, Roth hatte gedacht, das Amt als Kulturstaatsministerin sei das schönste Amt der Welt. Jedes Jahr 2,3 Milliarden Euro über den Kulturbetrieb ausschütten: ein Traumjob. Dass er sich mehr und mehr zum Albtraum entwickelt, liegt daran, dass die Szene durchsetzt ist von Antisemiten und Hardcore-Palästina-Fans. Wobei: Das Wort „Antisemitismus“ können wir streichen. Israel ist nur die Chiffre für alles, was diese Leute am Westen insgesamt hassen, von der Geschichte bis zu den Werten.

Ich habe mich neulich länger mit dem Intendanten einer großen deutschen Bühne unterhalten. Ich nenne seinen Namen lieber nicht, auch nicht das Haus, an dem er arbeitet. Der Mann hat schon so Schwierigkeiten genug. Sagen wir einfach, er steht einer bekannten Spielstätte im süddeutschen Raum vor.

Ich dachte immer, Theaterarbeit sei etwa Kreatives, manchmal auch Anarchisches. Mir war nicht klar, wie eng und verstellt diese Welt ist. Jede Probe ist ein Eiertanz, weil man ständig darauf achten muss, niemandem auf die Füße zu treten. Ein unbedachtes Wort und man ist in Teufels Küche.

Ein Problem dieser vorbildlichen Kunst ist, dass man das Publikum zum Besuch nicht zwangsverpflichten kann. Aber auch dafür hat man eine Lösung gefunden. Man verlangt einfach höhere Subventionen. Was an Einnahmen beim Ticketverkauf wegfällt, wird durch höhere Staatsgelder wettgemacht.

Die Münchner Kammerspiele, einst das prestigeträchtigste Haus am Platz, haben es in der vergangenen Spielzeit fertiggebracht, die Auslastung auf unter 60 Prozent zu drücken. Bei einigen Produktionen waren nicht einmal die ersten zehn Reihen besetzt. 1,2 Millionen Euro betrug der Fehlbetrag für 2022, mit einer weiteren Million rechnete man fürs vergangene Jahr.

Dass es nicht noch schlimmer kam, war dem Singspiel „A scheene Leich“ von Gerhard Polt zu verdanken, einem Publikumserfolg, für den man sich in der Intendanz entsprechend schämte: zu wenig feministisch, zu wenig queer und überhaupt zu eingängig. Als Polt während der Proben einen indischen Pfarrer parodierte, meldete die Dramaturgie sofort Bedenken an. Wegen Rassismus.

Bringt der Auszug der Zuschauer aus den Kammerspielen die Intendantin dazu, ihr Programm zu überdenken? Selbstverständlich nicht. München ist reich, die Taschen der Stadt sind tief. Und wenn alles nichts hilft, dann kann man immer noch die Antifa-Karte spielen. Jetzt erst recht, lautet das Motto. Jetzt erst recht aufstehen gegen Rassismus und Fremdenhass.

So ist es auch bei der Berlinale. Auf die 12 Millionen Euro aus dem Kanzleramt will man auf keinen Fall verzichten. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, heißt es schon im „Faust“.

© Sören Kunz

Raus aus der UN!

Wenn wir Weltregierung hören, geht uns das Herz auf. Außenpolitik als runder Tisch, das entspricht unserer Vorstellung von Diplomatie. Leider sind ausgerechnet die Vereinten Nationen heute die größte Organisation zur Terrorunterstützung

 Viele fürchten sich vor einem Wahlsieg von Donald Trump. Eine gute Seite allerdings hätte es, wenn Trump noch einmal gewinnen würde: Die USA wären raus aus der UN. Bereits am Tag nach der Vereidigung würde er alle Zahlungen einstellen. Oder sagen wir: am übernächsten.

Bei der UN schimpfen sie gerne über die Vereinigten Staaten. Aber das gäbe lange Gesichter, wenn das Geld ausbliebe. Wer soll künftig für die Sause aufkommen? Der globale Süden ist groß darin, Reden gegen den Westen zu schwingen. Nur, wenn die Rechnung kommt, schauen alle betreten auf den Boden und erwarten, dass einer aus dem Westen die Zeche begleicht.

12 Milliarden Dollar überweisen die USA jedes Jahr, das sind 20 Prozent des UN-Budgets. Wenn die Überweisung ausbleibt, fallen die Canapés am United Nations Plaza deutlich kleiner aus. Oder die Chinesen springen ein. Aber die sind kniepig, habe ich mir sagen lassen. Leistungslose Zahlung im Vertrauen darauf, dass sich die Dinge in ihrem Sinne bewegen – das ist nicht so ihr Ding. Wenn sie investieren, dann lieber mit Erfolgsgarantie.

Ich weiß, viele Deutsche mögen die UN. Wir schauen mit einer gewissen Sentimentalität nach New York. Wenn wir Weltregierung hören, dann geht uns das Herz auf. Außenpolitik als Fortsetzung des Stuhlkreises, das entspricht ganz unserer Vorstellung von Diplomatie.

Leider hat die UN, wie wir sie noch aus den Zeiten von Kofi Annan kennen, mit der aktuellen UN nicht mehr viel zu tun. Blauhelmeinsatz, Unicef, Welthungerhilfe – das war gestern. Heute verfolgt die UN sehr viel weitreichendere Ziele. Zum Beispiel die Ertüchtigung der Hamas zur Regionalmacht, die endlich Israel in die Schranken weist. Man geht nicht zu weit, wenn man die UN die weltweit größte Hilfsorganisation zur Terrorfinanzierung nennt.

Es bleibt mitunter nicht bei der Finanzierung. Vor zwei Wochen machte ein Video die Runde, das einen Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UNRWA zeigte, wie er am 7. Oktober die Leiche eines ermordeten Israeli in seinen Pick-up lud, um sie nach Gaza zu entführen. Gut, faule Äpfel gibt es überall, lässt sich einwenden – keine Organisation ist davor gefeit, dass sich in ihren Reihen Übeltäter tummeln. Dummerweise sympathisiert ein Gutteil der in Gaza UN-Beschäftigten mit der Hamas oder unterstützt sie ganz offen.

So gesehen ist es dann auch kein Wunder, dass direkt unter dem Hauptquartier des UN-Flüchtlingswerks in Gaza einer der größten Kommandoposten der Hamas entdeckt wurde. Selbstverständlich ist man bei der UN aus allen Wolken gefallen, als man davon erfuhr. Was, unter unserem Hauptquartier liegt eine Terrorzentrale? Wer hätte das ahnen können! Es hat sich natürlich auch nie jemand bei der UN gefragt, wo all die Kabel hinführten, mit denen die Hamas im Keller ihre Server und ihre Klimaaggregate betrieb. Wer kennt das nicht, die Stromrechnung explodiert und man denkt: „Verdammt ich sollte wirklich öfter auf Stand-by-Modus umschalten.“

UN-Generalsekretär António Guterres ist das Clownsgesicht zur Krise. Ich weiß nicht, was sie dem Mann bieten, damit er immer auf dem falschen Fuß Hurra ruft. Wenn er nicht gerade Israel auffordert, die Waffen zu strecken, oder islamischen Folterknechten die Hand schüttelt, gratuliert er zur Abwechslung den Taliban in Afghanistan: Sie hätten viel für die Sicherheit im Land getan. Dass die UN die Hamas nach Auskunft ihres Nothilfe-Koordinators nicht als Terrororganisation betrachtet, sondern als politische Bewegung, fügt sich nahtlos ins Bild.

Hätten wir eine funktionierende Regierung und nicht diese dysfunktionale Familie, die sich Regierung nennt, würde sich die Frage stellen, wie lange wir die Scharade noch mitmachen wollen. Nach den USA ist Deutschland einer der größten Finanziers.

Auch im Auswärtigen Amt liest man Zeitungen, so ist es nicht. Dass wir eine Institution unterstützen, deren Mitarbeiter direkt oder indirekt der Hamas zuarbeiten, verträgt sich schlecht mit dem Credo, wonach die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei. Also hat die Außenministerin angekündigt, vorerst alle Gelder ans palästinensische Flüchtlingshilfswerk zu stoppen – wobei sie allerdings gleich darauf hinwies, dass dieses Jahr keine Gelder mehr zur Auszahlung anstehen. Das ist wie Stadionverbot für Fußballrowdys, wenn die Saison ohnehin beendet ist.

Aufmerksamen Lesern wird möglicherweise aufgefallen sein, dass ich mich in den vergangenen Monaten mit Kritik an Annalena Baerbock zurückgehalten habe. Wenn „Tichys Einblick“ die Ministerin als „Kerosin-Barbie“ verspottet, weiß ich, dass ich mich anderen Themen zuwenden muss. Außerdem fand ich ihre Haltung gegenüber Russland und China nicht schlecht. Diktatoren Diktatoren zu nennen, stößt bei mir nicht auf Widerspruch.

Es ist allemal besser, die Natur des Gegners klar zu sehen, als sich Illusionen hinzugeben. Wohin der sogenannte Realismus in der Außenpolitik geführt hat, haben wir in der Russlandpolitik gesehen. Am Ende waren wir so abhängig von russischem Gas, dass wir nur mit viel Glück einer Zwangsabschaltung der deutschen Industrie entgangen sind, als Putin entschied, seinen Ankündigungen Taten folgen zu lassen.

Inzwischen habe ich jedoch den Eindruck, dass Baerbock sich verlaufen hat. Irgendwie soll Israel sich zur Wehr setzen dürfen, aber am besten so, dass Gaza keinen Schaden nimmt. Sie schwankt zwischen warmen Worten für die Versehrten des 7. Oktober und der treuherzigen Versicherung, dass nie deutsches Geld bei der Hamas gelandet sei.

Man darf sich nicht täuschen. Auch im Auswärtigen Amt gibt es einen Flügel überzeugter Israel-Feinde. Einer der Anführer war der langjährige UN-Botschafter Christoph Heusgen, der jetzt die Münchner Sicherheitskonferenz leitet. Selbstredend ist Heusgen auch ein großer Guterres-Fan.

Als Guterres in schwere See geriet, weil er in seiner ersten Rede nach dem Angriff vom 7. Oktober genau zwei Absätze brauchte, um von einer Verurteilung der Massaker zum Verständnis zu kommen, sprang ihm Heusgen bei. Er kenne Guterres seit vielen Jahren, er sei ein besonnener Mann, erklärte er im „heute journal“. Die Kritik an der Verstrickung des UNRWA nahm Heusgen zum Anlass, den Generalsekretär zu bitten, auf der Sicherheitskonferenz die Eröffnungsrede zu halten. Ich vermute, nächstes Jahr ist dann der brasilianische Präsident Lula dran, der Israel gerade mit Nazi-Deutschland verglichen hat.

Die Influencerin Marie von den Benken hat vor ein paar Tagen folgende Rechnung aufgemacht. Die reichsten Künstler: Jay-Z, 2 Milliarden Dollar; Paul McCartney, 1,5 Milliarden Dollar; Taylor Swift, 1 Milliarde Dollar – reich durch Talent. Die reichsten Hamas-Führer: Khaled Mashal, 5 Milliarden Dollar; Ismail Haniyeh, 4 Milliarden Dollar, Abu Marzouk: 3 Milliarden Dollar – reich durch gestohlene Hilfsleistungen.

Man liest derzeit viel über das Elend der Palästinenser. Aber es gibt auch die Luxusvillen, die Privatjets und die vergoldeten Betten. Hat sich in der Bundesregierung mal jemand Gedanken gemacht, wo die Hamas-Führer ihre Milliarden herhaben?

200 Millionen Euro überwies Deutschland vor dem Krieg jährlich in die beiden Palästinensergebiete, also den Gazastreifen und das Westjordanland. Dazu kommen die üppigen Hilfsgelder, die aus Berlin via EU oder UN flossen. Aber wie gesagt, im Auswärtigen Amt ist man sich sicher: kein Cent für den Terror.

Die Gewaltforschung kennt den Begriff des „Enabler“, des „Ermöglichers“. So nennt man dort Menschen, die es durch konsequentes Wegschauen Tätern erlauben, immer weiterzumachen.

© Silke Werzinger

Liebe Regierung, wie wär’s mal mit einer ganz irren Idee im Kampf gegen die AfD?

Was hat man im Kampf gegen die AfD nicht alles unternommen: szenische Lesungen, Talkshow-Boykotte, Demonstrationen. Warum es zur Abwechslung nicht mal mit einer anderen Politik versuchen? Klingt verrückt, könnte aber helfen

 In der „Jungen Freiheit“ war vor ein paar Tagen der Fall eines Mannes zu lesen, der sich erdreistet hatte, seiner Lieblingspartei, der AfD, Geld zu überweisen. Parteispenden sind vom Staat gern gesehen. Die Politik hat dafür gesorgt, dass 50 Prozent des gespendeten Betrags direkt von der Steuerschuld abgezogen werden können. Die Parteien erhalten für jede Spendeneinnahme zudem einen staatlichen Zuschuss.

In diesem Fall erreichte den Spender allerdings ein Schreiben seiner Bank, der Sparkasse Mittelfranken-Süd, er möge von weiteren Überweisungen absehen. Wörtlich schrieb ihm die Bank: „Der Zahlungsempfänger hat eine rechtsextremistische Ausrichtung. Stellen Sie bitte im eigenen Interesse solche Zahlungen ein.“

Das wollte der Mann nicht auf sich sitzen lassen und wandte sich an die Zeitung. Als auch andere Medien die Sache aufgriffen, ruderte die Bank zurück. Es habe sich um ein Versehen gehandelt, erklärte ein Sprecher.

Wie umgehen mit der AfD? Das ist eine Frage, die gerade viele Menschen umtreibt. Es ist nicht einfach. Was hat man nicht alles versucht: szenische Lesungen, Talkshow-Boykotte, das Ausrufen und Errichten diverser Brandmauern. Jedes Wochenende versammeln sich Tausende auf der Straße, um ihren Wunsch nach einem AfD-freien Deutschland Gehör zu verschaffen. Bei der Berlinale hielten Filmschaffende ihre Handys in die Luft und riefen: „Es lebe die Demokratie.“

Aber, Gott sei’s geklagt, alles, was man erreicht, sind ein paar Prozentpunkte weniger in den Umfragen. In den Teilen Berlins, wo die Bundestagswahl wiederholt werden musste, legte die Partei im Vergleich zu September 2021 5,6 Prozent zu. Nicht einmal der Umstand, dass eine der Kandidatinnen im Gefängnis saß, konnte die AfD-Fans von ihrer Wahl abhalten.

Was also tun? Ich hätte da eine ganz verrückte Idee. Warum es nicht mal mit einer anderen Politik versuchen? Ich weiß, das ist ein radikaler Vorschlag. Aber außergewöhnliche Zeiten erfordern manchmal außergewöhnliche Maßnahmen.

Was die Mehrheit der Bürger will, ist nicht so schwer zu erraten. Die Leute wissen, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen. Aber sie glauben eben nicht, dass dem Klima geholfen ist, wenn wir unsere Industrie abwickeln, während sie in China jedes Jahr neue Kohlekraftwerke ans Netz bringen. Es müsste eine Strategie her, die beides vereint, Sicherung des Wohlstands und Bewahrung der Umwelt.

Die meisten haben auch nichts gegen Ausländer. Dass die Demografie Zuwanderung erfordert, ist vielen klar. Aber wenn man den Leuten verspricht, dass sie etwas davon haben, wenn wir mehr Fremde ins Land lassen, dann sollten die, die kommen, zum Gemeinwohl etwas beitragen, statt den Bürgern auf der Tasche zu liegen. Und warum dann immer die Fleißigen abgeschoben werden, aber nie die Nichtsnutze, ist nur den wenigstens einsichtig.

Die große Mehrheit ist bereit, Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen. Wenn man die Politik erklärt, dass ab jetzt jeder sein Geschlecht ändern lassen kann, auf Wunsch auch mehrfach, akzeptieren sie das. Sie denken sich im Stillen: „Warum der Markus jetzt bloß unbedingt Tessa heißen will? Aber mei, wenn’s ihn glücklich macht.“ Nur wenn man ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden versucht, weil sie weiter an zwei Geschlechter glauben, werden sie bockig. Dann haben sie den Eindruck, dass es gar nicht darum geht, das Leben einer Minderheit zu erleichtern, sondern dass das eigentliche Ziel ist, ihnen eine Theorie aufzuquatschen, die allem widerspricht, was sie im Biologie-Unterricht gelernt haben.

Die „Zeit“-Redakteurin Elisabeth Raether hat neulich für eine Erkundung des AfD-Lebensgefühls einen AfD-Wähler getroffen und sich mit ihm über seine Beweggründe unterhalten. Das allein ist schon bemerkenswert, weil Journalisten zwar gerne über die AfD schreiben, allerdings vorzugsweise ohne in näheren Kontakt zu den Wählern zu treten.

Der Mann, „Zeit“-Abonnent seit vielen Jahren, hatte in einem Leserbrief an die Redaktion seine Zweifel an der Wirksamkeit eines AfD-Verbots geäußert. Raether hatte ihm geantwortet und gefragt, ob man sich nicht einmal treffen wolle. Dem Leser geht es gut, soweit sich das sagen lässt. Er unterhält eine einträgliche Steuerkanzlei in Berlin. Das Interview fand auf Mallorca statt, wo er gerne den Winter verbringt.

Immer wieder betonte Raethers Gesprächspartner bei der Begegnung, wie schön das Leben sei. Aber warum dann AfD, fragte die Redakteurin mit Blick auf den Jachthafen von Portals Nous. Damit sich etwas tue, lautete die Antwort. Sein Kalkül gehe so: Wenn die AfD noch größer werde, würden die etablierten Politiker anfangen, nachzudenken. Sie würden mal wieder rausgehen und den Leuten zuhören.

Glaubt man den Soziologen, gibt es unter den Anhängern der AfD die Gruppe der Rechtsextremisten, die sich zur autoritären und rassistischen Position hingezogen fühlen. Es gibt die Abgehängten, die sich an die AfD wie an eine Planke klammern. Und es gibt Leute wie den Steueranwalt der „Zeit“-Journalistin, die wollen, dass sich etwas bewegt. Schwer zu sagen, wie groß die dritte Gruppe ist. Aber selbst, wenn sie nicht das Gros der Anhänger ausmacht, würde es doch lohnen, sich um sie zu bemühen, sollte man meinen.

Die Regierung geht den umgekehrten Weg. Statt rauszugehen und zuzuhören, reiht sie sich bei den Demonstrationen ein und versteht diese anschließend als Bestätigung, dass sie mit ihrer Politik genau richtig liegt. Jetzt erst recht, lautet die Botschaft, die sie aus den Protesten ableitet. Also jetzt erst recht mit der Energiewende fortfahren, der Erhöhung des Bürgergelds und der erleichterten Einbürgerung. Das ist ja auch die Forderung auf vielen Marktplätzen: Nicht klein beigeben, sondern im Gegenteil schon der CDU zeigen, dass man sie für eine AfD light hält.

Auch rhetorisch verschärft die Ampel den Ton. Galt bislang der Staat als Garant einer negativen Freiheit, wonach man denken und sagen kann, was man will, solange man sich keine Rechtsverstöße leistet, wird nun das aktive Bekenntnis verlangt. Demokratie als persönlich forderndes Aufbauprojekt, bei dem man sich nicht durch Abseitsstehen verdächtig machen möchte, wie es Christian Geyer in der „FAZ“ beschrieb: Das kannte man bislang nur aus anderen Teilen der Welt.

Ich kann mich an keine Koalition erinnern, die nach zwei Jahren beim Volk so unten durch war wie diese. Was an Zustimmung fehlt, versucht man nun per Gesetz zu erzwingen. Das sogenannte Demokratiefördergesetz ist der Versuch, auf juristischem Weg die Hegemonie zu sichern, die einem zu entgleiten droht.

Die Demonstrationen sollen ein Zeichen der Stärke sein. In Wahrheit sind sie ein Eingeständnis der Schwäche. Eine Mehrheit, die sich gewiss ist, dass sie das Sagen hat, hat es nicht nötig, sich unterzuhaken. Insofern sind die Proteste auch ein Bekenntnis, dass man sich nicht mehr sicher ist, wo die Mehrheit steht.

Man solle bitte die Demonstrationen nicht kleinreden, hat die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke in mahnendem Ton bei „Markus Lanz“ gesagt. Darauf läuft es hinaus: Bitte jetzt ordentlich zusammenstehen und dafür sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzt. Das ist für eine Partei, die ja aus dem Geist des Dagegen entstanden ist, eine kuriose Position.

Auf kaum etwas war man gerade bei den Grünen immer so stolz wie auf die eigene Widerborstigkeit und Widerständigkeit. Das Widerborstige drückte sich zwar schon seit längerem vor allem in seltsamen Frisuren und schrägen Video-Auftritten aus. Aber es war immerhin noch als Gestus vorhanden. Jetzt bleibt nicht einmal mehr das.

© Michael Szyszka

Dann gute Nacht, Marie

Die Politik der Ampel trug von Anfang an Züge der Traumtänzerei. Mit der Energiepolitik geht sie in Richtung des Hasardeurtums. Die Tage der deutschen Industrie sind gezählt

Vor dem Verwaltungsgericht Berlin Moabit spielt sich ein Drama ab, das viel über die Energiewende und noch mehr über den Zustand der grünen Partei verrät. Auf der einen Seite steht das Monatsmagazin „Cicero“, vertreten durch den Anwalt Christoph Partsch. Auf der anderen das Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck, vertreten durch seine Hausjuristen.

Der „Cicero“ hat das Ministerium auf die Herausgabe von Akten verklagt, aus denen hervorgeht, wie es zur Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke kam. Vor zwei Jahren hatte die Redaktion einen entsprechenden Antrag gestellt, doch das Ministerium verweigert seitdem die Herausgabe. Der Inhalt sei geheim, heißt es.

Im Gegensatz zu dem, was manche Bürger vermuten, handelt es sich bei Behördenunterlagen nicht um Privateigentum. Grundsätzlich hat die Öffentlichkeit das Recht, Einblick zu erhalten, so will es das Informationsfreiheitsgesetz. Man muss als Verwaltung schon sehr gute Gründe haben, um die Auskunft zu verweigern. Diese guten Gründe sind, wenn man Habecks Leuten glauben darf, die Sorgen um die nationale Sicherheit.

Es sei nicht auszuschließen, dass Deutschland wieder in eine Energiekrise schlittere, da ja die Kernkraftwerke nicht mehr am Netz seien, trugen die Beamten vor. Deshalb dürfe kein Wort der internen Beratungen nach außen dringen, um bei einer erneuten Notlage das Vertrauen der anderen europäischen Staaten nicht zu schwächen. Da musste sogar der Richter lachen.

Die Redaktion vermutet, dass die Ministeriumsspitze die Dokumente nicht herausrücken will, weil dann herauskäme, dass es auch im Ministerium erhebliche Bedenken gegen die Abschaltung gab.

Wir erinnern uns: Das Aus für die letzten verbliebenen Atomkraftwerke fiel in eine Zeit, als die Lage so brenzlig war, dass der Bundespräsident im Schloss Bellevue die Außenbeleuchtung ausschaltete, um Strom zu sparen. Jede Kilowattstunde weniger sei ein Beitrag zur Sicherheit des Landes – so sangen es insbesondere die grünen Spatzen von den Dächern. Und ausgerechnet in dieser Situation entschied Robert Habeck, auf die einzige verlässliche und dazu noch CO₂-neutrale Energiequelle zu verzichten.

Die Politik der Ampel trug von Anfang an Züge der Traumtänzerei. Mit der Energiepolitik nimmt sie die Abbiegung in Richtung des Hasardeurtums. Nur jemand, der sein ganzes Studium mit Gender Studies oder Postcolonial Studies zugebracht hat, kann annehmen, dass es keinen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie hat, wenn der Energiepreis in den USA bei einem Drittel von dem liegt, wo er bei uns liegt.

Es ist kein Zufall, dass die entschiedensten Verteidiger der grünen Energiepolitik im Lager der sogenannten Degrowth-Fans zu finden sind, also der Leute, die immer schon der Meinung waren, dass wir uns dem Klima zuliebe von Wachstum und Wohlstand verabschieden müssen.

Wirtschaft ist eine träge Veranstaltung. Was Investoren einmal hingestellt haben, geben sie so schnell nicht auf. Also wird am alten Ort weiter produziert, wenn auch in geringerem Umfang. Was wirklich los ist, sieht man bei den Neuinvestitionen. Warum gehen Miele, VW und Mercedes nach Polen? Wegen der günstigeren Arbeitskosten? Auch deshalb. Aber vor allem wegen der günstigeren Strompreise.

Selbst die Spitzen der Regierung stimmen das Land inzwischen auf magere Zeiten ein. Eben noch hieß es, ein grünes Wirtschaftswunder sei nahezu unausweichlich. Jeden Tag, den wir beim Umbau vertrödelten, entgingen uns Hunderttausende neuer Jobs, weil die Industrie darauf brenne, endlich loszulegen mit der großen Transformation. Und jetzt? Jetzt befinden wir uns in einem Experiment mit ungewissem Ausgang, wie der Kanzler sagt. Na dann gute Nacht, Marie.

Niemand bezweifelt, dass es klug ist, sich von fossilen Brennstoffen unabhängiger zu machen. Okay, bei der AfD, wo man schon aus Prinzip nur mit Kohle grillt, sieht man das vielleicht noch anders. Aber darüber hinaus ist die Messe gesungen, wie man so schön sagt. Das Problem ist, dass nicht beides auf einmal geht, also Wohlstandserhalt und Klimaneutralität – jedenfalls nicht, wenn man die einzige klimaneutrale Energiequelle, die Tag und Nacht zur Verfügung steht, zu Teufelswerk erklärt.

Jetzt soll es eine neue Kraftwerksstrategie richten. Weil auch bei den Grünen angekommen ist, dass der Wind nicht immer bläst und die Sonne nicht immer scheint, müssen nun neue Gaskraftwerke her. Bis 2026 sollen zunächst zehn Gigawatt ans Netz.

Ich will nicht rechthaberisch klingen, aber das ist ziemlich genau das, was die sechs Kernkraftwerke geliefert haben, die die Regierung bei ihrer Wahl vorfand. Damals hieß es: Nein, also zehn Gigawatt, das sei total unbedeutend für die Energieversorgung, das spiele keine nennenswerte Rolle. Nun wird als Gasreserve wieder aufgebaut, was man abgeschaltet hat, nur halt zu wesentlich höheren Kosten.

Der Strom aus Kernkraftwerken ist nicht nur konkurrenzlos sauber, er ist auch konkurrenzlos günstig. Nach einer Studie der Internationalen Energie-Agentur liegen die Kosten pro Megawattstunde bei 30 bis 50 Dollar, das liegt sogar noch unter dem Preis der Sonne, die bekanntlich keine Rechnung stellt.

Der Chef der Behörde Fatih Birol nennt den Ausstieg aus der Kernenergie einen „historischen Fehler“. „Wenn die Grünen vernünftig wären, was viele nicht sind“, sagt der Physiknobelpreisträger Steven Chu, „dann würden sie Atomenergie der Alternative vorziehen, nämlich Gaskraftwerken, deren Treibhausgase man abscheiden muss.”

Die Regierung Scholz hat sich viel vorgenommen. Sie setzt mit dem Selbstbestimmungsgesetz auf die Abschaffung der Geschlechter und mit dem Bürgergeld auf die Überwindung der Faulheit. Aber dass man ein Industrieland wie Deutschland ausschließlich mit Sonne, Wind und Wasser betreiben könne, ist von allen Träumen sicher der kühnste.

Außerhalb von Deutschland sieht man die Dinge etwas nüchterner. Wäre Deutschland eine Aktie, dann lautete die einhellige Empfehlung: Verkaufen, und zwar sofort. Diese Woche kam Bloomberg zu dem Befund, dass Deutschlands Tage als industrielle Supermacht gezählt seien. So lautete auch die Überschrift des Standortberichts, der die prekäre Energieversorgung als wesentlichen Grund für den Niedergang nennt: „Germany’s Days as an Industrial Superpower are coming to an End.“

Man kann sich auf den Standpunkt stellen: Was interessiert uns schon das Ausland. Ich hielt diese Form des Nationalismus zwar immer für ein Privileg der Rechten, aber auch links der Mitte erfreut sich die „Deutschland, Deutschland über alles“-Mentalität zunehmender Beliebtheit. Leider steht in jeder Investmentfirma, jeder Fondsgesellschaft und jeder Versicherung der Welt ein Bloomberg-Terminal, was dem Hurra-Patriotismus enge Grenzen setzt.

Vor einer Woche hat der EU-Klimadienst Copernicus gemeldet, dass die Temperatur auf der Erde erstmals ein Jahr lang über dem 1,5-Grad-Ziel lag. Die Klimaaktivisten sagen, nun müsse man erst recht gegensteuern. Also erst recht alles aus dem Verkehr ziehen, was uns dem Klimatod näherbringt. Ich würde sagen, es spräche viel dafür, darüber nachzudenken, ob man nicht doch ein paar Atommeiler wieder ans Netz bringt.

Aber machen wir uns nichts vor: Das Kapitel ist erledigt, da ist die Regierung eisern. Beim Atomausstieg wird nicht gewackelt. Man will doch den Jürgen Trittin nicht unglücklich machen und die Simone, die ihre Knochen hingehalten haben, in Brokdorf und Gorleben.

Dass auch der Grüne Respekt vor der älteren Generation zeigt, ist im Prinzip eine schöne Geste. Was dem treuen CDU-Anhänger die deutsche Einheit, das ist dem grünen Rentner der Atomausstieg. Manchmal denke ich allerdings: Ältere Menschen sollten weniger zu sagen haben, wenn es um die Zukunft geht. Vor allem wenn sie so stur und rechthaberisch sind wie die Grünen.

© Sören Kunz

Warum viele den Medien nicht mehr trauen

Der Whistleblower steht in der Presse hoch im Kurs. Aber wehe, die Indiskretion trifft einen selbst, dann ist der Teufel los. Dann schickt man heimlich die IT-Experten zur Ausforschung der eigenen Redaktion

 Stellen wir uns Folgendes vor: In einer angesehenen Zeitung des Landes erscheint über einen Wirtschaftsführer ein Bericht, in dem dieser nicht gut wegkommt. Wie die Zeitung schreibt, hat der Mann die Arbeiten anderer als seine eigene Leistung ausgegeben – nichts, was ihm den Job kosten könnte, aber für jemanden in seiner Position doch peinlich.

Statt die Sache auf sich beruhen zu lassen, ruft der Konzernchef den Vorstand zusammen. Das sei eine üble Kampagne, die da gegen ihn losgetreten worden sei, tobt er. Er sei sicher, dass der Anstoß dazu von jemandem aus dem eigenen Unternehmen komme. Er verlange, dass der Maulwurf ausfindig gemacht werde.

Die Personalabteilung wird hinzugezogen, auch die Rechtsabteilung. Es ergeht die Weisung, die Telefone und Computer der Mitarbeiter auf Hinweise zu untersuchen, wer zu der Zeitung Kontakt aufgenommen haben könnte. Die Ausforschungsaktion ist absolut vertraulich, das ist allen Beteiligten klar. Kein Wort zu niemandem, so wird es vereinbart.

Was wäre los, wenn so eine Geschichte herauskäme? Der CEO könnte noch am selben Tag seinen Hut nehmen. Ein Firmenchef, der seine Angestellten hinter ihrem Rücken ausspähen lässt, weil er die Berichterstattung über ihn nicht erträgt? Da sind Manager in Deutschland schon für ganz andere Dinge gefeuert worden.

Die Sache hat sich ziemlich genau so zugetragen wie geschildert, allerdings mit vertauschten Rollen. Das Unternehmen, in dem sich der Spähvorgang zutrug, ist nicht irgendein Konzern, sondern die „Süddeutsche Zeitung“ – und der Firmenchef, der auf Rache sann, der Chefredakteur persönlich.

Dass das Vertrauen in die Medien erodiert, ist beklagenswert. Man sieht es in den Auflagen, man sieht es in den Umfragen. In einer aktuellen Infratest-Studie geben 49 Prozent der Befragten an, dass sie wenig oder gar kein Vertrauen in die Tageszeitungen haben.

Warum trauen die Leute der Presse nicht mehr? Weil sie von rechten Scharfmachern aufgehetzt werden, wie eine Erklärung lautet? Mag sein. Das ist auch die Haltung in der Führung der „Süddeutschen“: Alles das Werk rechter Demagogen, die unabhängige Presseorgane in die Knie zwingen wollen.

Meine Erklärung wäre naheliegender: Viele Leser reagieren empfindlich auf Doppelstandards. Wenn sie den Eindruck gewinnen, dass Journalisten die Maßstäbe, die sie an andere anlegen, ignorieren, wenn sie selbst betroffen sind, dann gerät etwas ins Rutschen.

Der Whistleblower steht im Prinzip hoch im Kurs. Fast alle Medienhäuser haben digitale Briefkästen eingerichtet, in denen man anonym Hinweise ablegen kann, wenn man jemandem mit Rang und Namen schaden möchte. Informantenschutz gilt in der Branche als hohes Gut. Blöd nur, wenn der Whistleblower im eigenen Haus sitzt. Dann fliegen alle Grundsätze aus dem Fenster, wie man bei der „SZ“ sieht: Die Hochachtung vor dem anonymen Tippgeber ebenso wie der Informantenschutz.

Im Fall der „Süddeutschen“ begann die Malaise mit einem Bericht im Branchendienst „Medieninsider“, wonach es die stellvertretende Chefredakteurin in ihren Texten mit den Quellenangaben nicht immer ganz genau genommen habe. In drei Artikeln ließen sich Stellen ausmachen, die sie aus anderen Artikeln kopiert hatte, ohne den Urheber zu nennen. Shit happens, hätte ich gesagt: Wer viel schreibt, langt auch mal daneben. Zumal in einer Tageszeitung, wo es schnell gehen muss. Aber so konnte man die Plagiatsaffäre in der Hultschiner Straße, dem Redaktionssitz der „SZ“, nicht sehen.

Chefredakteur Wolfgang Krach nahm sich die Sache sehr zu Herzen. Auf einer Redaktionskonferenz sprach er mehrfach von einer Verleumdung, um die „SZ“ zu diskreditieren. Postwendend fand sich auch dieser Auftritt im „Medieninsider“ wieder. Wir Journalisten sind eine verschwatzte Bande. Wer von der Indiskretion lebt, ist selbst nicht immer der Verschwiegenste, Gott sei’s geklagt.

Im Nachhinein müssen Rechtfertigungen her, warum man heimlich die Verbindungsdaten der Redakteure auslesen ließ. Eine Redaktionskonferenz sei ein besonders geschützter Ort, heißt es in einer Stellungnahme der Zeitung. „Wenn das Herz einer Redaktion abgehört wird, können wir das nicht hinnehmen“, erklärte Krach. Ein Lauschangriff wäre in der Tat ein gravierender Vorgang. Ein Journalist, der heimlich mitschreibt, bewegt sich im Rahmen des Erlaubten. Ein Journalist, der heimlich das Tonband einschaltet, steht mit einem Fuß im Gefängnis.

Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass irgendjemand irgendetwas mitgeschnitten hätte. Oder dass einer der Redakteure die Geistesgegenwart besessen haben könnte, rechtzeitig vor der großen Aussprache den Konferenzraum zu verwanzen, wie es die Chefredaktion nahelegt. Wohlweislich hat sie die vermeintliche Straftat nie zur Anzeige gebracht. Man habe die Polizei nicht im Haus haben wollen, heißt es dazu – wegen des Informantenschutzes. Wie alle Scharaden hat auch diese ihre komischen Seiten.

Ich habe beim „Spiegel“ so manchen Chefredakteurswechsel erlebt, darunter auch den einen oder anderen unfreiwilligen. Natürlich haben die „SZ“-Kollegen in München jeweils regen Anteil am Geschehen genommen. Als Wolfgang Büchner beim „Spiegel“ der Garaus gemacht wurde, konnte man auf den Seiten der „Süddeutschen“ im Wochenprotokoll den Fortgang der Erledigung lesen. Ich kann mich nicht erinnern, dass Wolfgang Krach damals von einem Angriff auf die Pressefreiheit gewarnt oder sich Sorgen um den Schutzraum der Redaktionskonferenz gemacht hätte.

Wie kommt man auf die Idee, wegen einer vergleichsweisen Lappalie die IT-Experten gegen die eigenen Leute in Marsch zu setzen? Ich kann mir das allenfalls mit einem bestimmten Mindset erklären. Wer von der eigenen Bedeutung so durchdrungen ist, dass er nur noch mit Stock im Hintern gehen kann, dem gerät alles zur Staatsaffäre, auch der Bericht über ein paar abgeschriebene Absätze. Wie man lesen konnte, hat Krach neulich einem Berliner Rechtsanwalt gerichtlich verbieten lassen wollen, im Zusammenhang mit der „SZ“-Berichterstattung über Till Lindemann von „Belastungseifer” zu sprechen.

Ich komme aus einer Generation, für die Belastungseifer noch eine Auszeichnung war. Was haben wir nicht dem armen Gerhard Schröder das Leben schwer gemacht und Joschka Fischer obendrein. War es ungerecht, aus ein paar Tausend fälschlicherweise ausgestellten Visa in Kiew die große Visa-Affäre zu machen? Natürlich war es das. Aber es war auch ein Riesenspaß.

Vielleicht glauben sie an der Hultschiner Straße wirklich, sie hätten sich die niederen Beweggründe abgewöhnt und würden nun jeden Tag für den Erhalt der Demokratie streiten. Das Problem ist: Auch die meisten Texte lesen sich inzwischen so, als führe der Bundespräsident den Stift. Die erhabene Langeweile, die viele Artikel durchzieht, wird nur noch von der Ehrpusseligkeit der Führungsleute übertroffen. Man sieht es ihnen auch an. Wer sich die Führungsriege anschaut, blickt in die Gesichter von Menschen, die so wirken, als hätten sie zehn Magenbitter auf Ex gekippt.

Es gibt wunderbare Journalisten bei der „SZ“, das will ich ausdrücklich sagen. Roman Deiningers Beobachtungen der CSU sind zum Niederknien. Willi Winkler über die linken Heroen von damals: immer ein Gewinn. Wenn Hilmar Klute sich Gedanken zum Stand der Komik macht, nicke ich bei jedem Satz. Aber halt, ich muss vorsichtig sein, wen ich nenne. Am Ende heißt es noch, die Kollegen hätten für diesen Text mit mir gesprochen.

Am Donnerstag machte die Meldung die Runde, die stellvertretende Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid habe sich möglicherweise etwas angetan. Anfang der Woche hatte Wolfgang Krach eine Wahrheitskommission eingerichtet, um die gegen sie gerichteten Plagiatsvorwürfe zu untersuchen, was den Fall endgültig auf die Ebene der Großaffäre hob. Am Freitag dann die erlösende Nachricht: Sie wurde in der Nähe ihres Heimatdorfs gefunden.

Die Umstände des Verschwindens sind ungeklärt. Aber vielleicht kann man diese Geschichte ja zum Anlass nehmen, nicht jeden Fehler zum Skandal aufzublasen. Manchmal sind Schnitzer nur Schnitzer und Unachtsamkeiten nur Unachtsamkeiten. Das gilt übrigens in alle politischen Richtungen.

 

© Silke Werzinger

Peak Woke

Nirgendwo ist der Opportunismus so ausgeprägt wie in Großkonzernen. Wer es an die Spitze geschafft hat, verdankt dies selten Eigensinn und Mut. Wie kommen ausgerechnet Wirtschaftsführer auf die Idee, sie wären politisch ein Vorbild?

Joe Kaeser kämpft jetzt auch für die Demokratie. Er hat sich das gut überlegt, ob er sich positionieren soll. Man zahle schließlich einen Preis, wenn man vor den Gefahren von Rechts warne, sagte der ehemalige Topmanager der Nachrichtenagentur Reuters. Aber jetzt sind alle gefordert, da muss man auch etwas riskieren. „Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich geschwiegen hätte, als noch Zeit war, Dinge zu korrigieren.“

In diesen Tagen sind wir alle Weiße Rose. Jana aus Kassel hat nun einen Bruder: Joe aus München.

Ich habe kurz gezuckt, als ich davon las. Von welchem Preis, den man zahle müsse, redet der ehemalige Siemens-Chef? Ich nehme doch an, dass Kaeser in seinem Leben so viel Geld verdient hat, dass er sich eine Immobilie leisten kann, die von der Straße nicht einsehbar ist. Selbst seine Enkelkinder dürften in einem Alter sein, in dem größere Gefahren lauern als ein paar angesäuerte AfD-Politiker.

Oder meint er, dass seine Frau im Bridge-Club Probleme bekommt? Man kann den Leuten nicht in den Kopf sehen. Wer weiß, vielleicht befinden sich im Umfeld der Familie Kaeser mehr AfD-Sympathisanten, als man denken sollte. Dann kann es natürlich beim nächsten Gesellschaftsabend etwas unangenehm werden.

Wie auch immer, freuen wir uns, dass der Joe dabei ist. Wenn es darum geht, die AfD in die Knie zu zwingen, kann man jede Hand gebrauchen.

Das Problem bei Leuten wie Kaeser ist allerdings: Es ist auf sie nicht wirklich Verlass. Wer sich auf einen wie ihn verlässt, der ist schnell wieder verlassen, wenn’s blöd läuft.

Wo stand Deutschlands bekanntester Ex-Manager nicht schon. Als er noch die Geschäfte bei Siemens führte, sah man ihn an der Seite von Wladimir Putin. Auch die Chinesen fand er lange prima. Dass sie eine Million Uiguren in Lagern halten, weil die den falschen Glauben haben? Gott ja, nicht schön. Aber wollen wir anderen vorschreiben, wie sie ihr Land zu regieren haben?

Selbst für den Kopf-Ab-Prinzen aus Saudi-Arabien zeigte Kaeser Verständnis. Als alle zum Boykott aufriefen, weil der Kronprinz einen seiner Kritiker hatte in Stücke hacken lassen, warnte Kaeser vor übereilten Schritten: „Wenn wir aufhören, mit Ländern zu kommunizieren, in denen Menschen vermisst werden, kann ich auch gleich zu Hause bleiben.“

Kaum näherte sich das Ende als Vorstandsvorsitzender dann die Rolle rückwärts. Plötzlich fand er Carola Rackete toll und die Seenotretter im Mittelmeer. Selbst- verständlich war ihm auch der Klimaschutz ein brennendes Anliegen. Luisa Neubauer in den Siemens-Aufsichtsrat? Das wäre doch eine super Idee! Im Januar dann die nächste Volte: Der Ausstieg aus der Kernenergie sei ein kapitaler Fehler gewesen. Opportunismus, dein Name ist Kaeser, könnte man sagen.

Fairerweise muss man hinzufügen, dass der Joe in der Kunst der Antizipation von Wetterwechseln nicht alleine ist. Politisches Engagement entdecken Firmenlenker immer dann, wenn sie sich in guter Gesellschaft wähnen. Sie hissen die Regenbogenflagge auf ihrem LinkedIn-Account, wenn auch bei Outlook Gay Pride Day gefeiert wird. Empört sich alle Welt über Rassismus, finden sie Black Lives Matter total wichtig und posten kleine schwarze Kacheln. Solidarität mit der Ukraine? Aber sicher. Da sind doch die meisten dafür, nicht wahr?

Israel hingegen: schwierig. Das sei so kontrovers, heißt es in dem Fall. Als nach dem Überfall vom 7. Oktober aus der Wirtschaft die Idee für eine „Nie wieder ist jetzt“- Anzeige aufkam, gab es in einer Reihe von Kommunikationsabteilungen eine aufgeregte Diskussion, ob man sich beteiligen solle. Am Ende siegte auch hier der Opportunismus: Nicht dabei sein erschien noch kontroverser, als mitzumachen.

Ich finde Opportunismus im Prinzip nicht schlimm. Ohne eine gewisse Anpassungsbereitschaft ist das Leben nicht denkbar, das gilt zumal für das Leben in Großorganisationen. Was mich stört, ist, wenn Leute ihre Wendigkeit als besondere Standfestigkeit ausgeben.

Erinnert sich zufällig noch jemand an den Aufstand bei Adidas? Im Sommer 2020 musste die Personalchefin Knall auf Fall ihren Posten verlassen, weil sie als politisch untragbar galt. Ihr Vergehen: Sie hatte in einer internen Diskussionsrunde gesagt, dass sie nicht glaube, dass Adidas ein größeres Problem mit Rassismus habe. Das galt zu dem Zeitpunkt als inkorrekt.

Und dann? Dann konnte man in der „New York Times“ lesen, dass derselbe Konzern, der seine Personalvorständin wegen mangelnder politischer Sensibilität feuerte, einfach wegsah, als sein größter Star, der Rapper Kanye West, in Kreativsitzungen auf Turnschuhe kleine Hakenkreuze malte, um die Schuhe ein wenig aufzupeppen.

Wenn nicht alles täuscht, geht die Bekenntnis-Phase dem Ende entgegen, das ist die gute Nachricht. Der „Zeit“- Redakteur Ijoma Mangold vertritt die These, dass wir Peak Woke erreicht haben, so wie es auch Peak Oil gab. Es wird immer noch Öl gefördert, vermutlich sogar über viele Jahre, aber der Scheitelpunkt liegt hinter uns. So könnte es jetzt auch beim identitätspolitischen Engagement sein.

Kaum etwas fürchten Großunternehmen so sehr wie Konflikte. Das unterscheidet sie von Parteien und Aktivistenvereinen. Während der Aktivist von der Zuspitzung lebt, um sein Thema durchzusetzen, wollen Konzerne auf keinen Fall auf dem falschen Fuß erwischt werden. Jeder Konflikt birgt die Gefahr, dass man Leute vor den Kopf stößt. Wer sich abwendet, ist als Kunde verloren.

ls Beispiel für Peak Woke darf die Trans-Kampagne von Bud Light gelten. Eine Marketingmanagerin des Brauereikonzerns Anheuser-Busch hatte im Frühjahr vergangenen Jahres die brillante Idee, als neues Maskottchen die Trans-Influencerin Dylan Mulvaney zu verpflichten, um das Image irgendwie inklusiver zu machen.

Dummerweise ist die Zahl queerer Menschen, die nicht sagen können oder wollen, welchem Geschlecht sie angehören, unter Budweiser-Kunden eher gering. Der Rocker Kid Rock veröffentlichte ein Video, in dem er BudLight-Büchsen mit dem Gewehr zerschoss. Das Dosenschießen der Kid-Rock- Nachahmer hielt für kurze Zeit den Umsatz stabil, dann folgte ein Einbruch, der das Unternehmen fünf Milliarden Dollar an Börsenwert kostete. Go woke, go broke.

Der Unternehmer muss auf sich selbst vertrauen, seine Ideen, das Gespür für die Kunden und den Markt . Im Zweifel setzt er sich gegen alle durch, die es angeblich besser wissen, deswegen spricht man ja auch vom Selfmademan oder Visionär. Um im Konzern den Weg nach oben zu schaffen, sind völlig andere Fähigkeiten gefordert. Der Konzernlenker ist nicht dank seiner Eigenwilligkeit an die Spitze hingekommen, im Gegenteil. Kreativität und Widerspruchs- geist sind für den Aufstieg eher hinderlich.

Widerstände umschiffen, ein gutes Gespür für die Erwartungen seiner Förderer zeigen, rechtzeitig erkennen, wenn sich der Wind dreht: Das sind die Eigenschaften, die in Großunternehmen belohnt werden. Klar, out of the box thinking, das findet man theoretisch ganz toll. Wer will schon als Anpasser gelten? Deshalb lädt man sich für Hunderttausende Dollar Motivational Speaker ein, die auf Führungskräftetagungen dann das Loblied der Unangepasstheit singen. Aber wehe, jemand nimmt das ernst, der ist sofort erledigt.

Joe Kaeser heißt übrigens auch nicht Joe Kaeser, sondern in Wahrheit Josef Käser. Das war ihm nur irgendwann nicht mehr weltläufig genug. Meinetwegen soll sich jeder nennen, wie er will. Wenn man heute sein Geschlecht frei wählen kann, sollte das beim Namen allemal möglich sein. Ob es allerdings für jemanden spricht, wenn er sich seiner Herkunft schämt, da habe ich Zweifel.

Abgehoben, leblos, realitätsfern: Willkommen in der Welt der Ricarda Lang

Sie denken, Sie würden die Leute wählen, die über Ihr Leben bestimmen? 50 Prozent der Abgeordneten, die im Parlament sitzen, sind nie vor den Wähler getreten. Deshalb reden sie auch so, wie sie reden

Fernsehen kann tödlich sein. Ein Moment der Unachtsamkeit, irgendein Blödsinn, den man vor laufender Kamera erzählt, und man ist das Gespött der Nation. Früher, vor der Erfindung von YouTube und der ZDF- Mediathek, konnte man darauf hoffen, dass nicht alle den Fehltritt mitbekommen hatten. Das versendet sich, war ein beliebter Satz, wenn man jemanden über einen Fauxpas hinwegtrösten wollte.

Franz Josef Strauß erkennbar beschickert aus München zugeschaltet, um mit schwerer Zunge die Ergebnisse der Bundestagswahl 1987 zu deuten: Das ist tausendfach beschrieben worden. Aber wer hat es tatsächlich gesehen? Wer nicht im Moment des Geschehens dabei war, der musste es sich berichten lassen. Das war auch schön. Aber wir wissen alle, welchen Eindruck die unmittelbare Anschauung hinterlässt

Heute versendet sich nichts mehr. Alles ist für die Ewigkeit festgehalten, um gegebenenfalls in endlosen Schleifen über unzählige Kanäle so lange wiederholt zu werden, bis auch der letzte Depp Bescheid weiß.

Was war, gemessen an der Resonanz bei X, das Fernsehereignis des Monats? Der Auftritt von Ricarda Lang bei Markus Lanz. Ich habe es nicht gesehen, ich bin um die Uhrzeit schon im Bett. Aber als mich sogar der nette Mann am Gemüsestand bei Simmel, meinem Edeka-Händler, darauf ansprach, beschloss ich, mir den Clip anzuschauen.

War es so schlimm, wie alle sagen? Ja, es war so schlimm.

Das Problem an den 30 Minuten mit Ricarda Lang war nicht ihre Unkenntnis. Wer weiß schon, wie hoch die Durchschnittsrente ist? Ich hätte bei der Frage ebenfalls daneben gelegen. Gut, ich bin auch kein Sozialpolitiker, trotzdem: Da haben wir schon in ganz andere Abgründe der Unkenntnis geblickt.

Das Problem an dem Auftritt war der Auftritt an sich. Diese leicht angestrengte Nachsicht eines Menschen, der fest davon überzeugt ist, dass an seinem Weg kein Weg vorbeiführt, und der es deshalb gerne zum fünften Mal erklärt, auch wenn er eigentlich findet, dass zwei Mal gereicht hätten.

Ich habe gehört, Frau Lang soll privat sehr nett sein. Angeblich kann sie auch über sich selbst lachen. Aber ihre Talkshows sind eine Katastrophe. An welcher politischen Akademie lernt man so floskelhaft zu reden, so verschraubt und verstellt? Da ist kein Satz, der ans Herz geht – und das, obwohl ständig von den emotionalen Angeboten die Rede ist, die man machen müsse.

In der Politik schauen sie gerne auf Bayern herab. Ach, die Bayern: so derb, so laut, so ungehobelt. Mag alles stimmen. Aber dafür verstehen die Wähler wenigstens, wovon die Regierenden reden.

Waren Sie schon einmal bei einem Bierzeltauftritt dabei? Den bayerischen Teil meiner Leser klammere ich hier wohlweislich aus. 2000 bis 3000 Leute, wenn es voll ist. Alle haben etwas zu Essen auf dem Tisch, und wenn sie nichts zu essen vor sich haben, dann in jedem Fall etwas zu trinken. Das heißt: Wenn der Matador die Bühne betritt, hat er es mit einer Menschenmenge zu tun, die schon ohne ihn in Stimmung gekommen ist und jetzt keinen Stimmungsabfall erleben möchte.

Ich hab gesehen, wie das ist, wenn die Menge die Lust verliert. Das ist brutal. Der Lärm beginnt ganz hinten, wo der Redner die Zuhörer nur als Schemen ausmachen kann, und setzt sich nach vor- ne fort, immer lauter anschwellend, bis die Lärmwoge vor dem Redner- pult angelangt ist, wo die Honoratioren sitzen, die als einzige den Mund halten, weil sie der Redner von oben in den Blick nehmen kann.

Wer in Bayern in die erste Reihe aufrücken will, muss im Bierzelt bestehen. Damit ist auch ausgeschlossen, dass es Menschen ganz nach oben schaffen, die zwar im Hinterzimmer des Parteiklüngels reüssieren, vor dem großen Publikum aber durchfallen. Der Listenkandidat, der sich auf die Unterstützung des Politestablishments verlässt, ist in Bayern nahezu unbekannt.

Die meisten Menschen denken, sie würden die Politiker wählen, die dann über sie und ihr Leben bestimmen, aber das ist nur zur Hälfte wahr. 50 Prozent der Abgeordneten, die im Parlament sitzen, sind nie vor den Wähler getreten. Sie verdanken ihren Sitz allein der Großmut der Partei, die sie aufgestellt hat.

Es gibt Spitzenpolitiker, die in ihrem Leben nicht eine Wahl gewonnen haben. Ich habe mir vor Jahren einmal den Werdegang von Ursula von der Leyen angesehen. Wo immer sie vor die Leute trat, endete das im Debakel. Auch Frank-Walter Steinmeier war als Wahlkämpfer eine Riesenenttäuschung. So sehr er sich anstrengte, es wollte einfach nicht mit der Mehrheit klappen. Am Ende haben sie sich seiner erbarmt und ihm einen Wahlkreis in Brandenburg verschafft, wo man praktisch nicht verlieren konnte.

Der Wahlkämpfer macht sein Fortkommen von der Zustimmung des Bürgers abhängig, was voraussetzt, dass er von diesem verstanden und auch gemocht wird. Der Parteiarbeiter hingegen verlässt sich beim Aufstieg ganz auf die Gremien, die über die Verteilung von Posten bestimmen. In den Gremien zählt vor allem, wie zuverlässig einer der Sache gedient hat, aus welchem Landesverband er kommt oder welchem politischen Flügel er angehört.

Wer zu viel in Gremien hockt, verliert den Blick für die Realität. Das ist der Nachteil. Der Bundespräsident hat jetzt die Regierung aufgefordert, ihre Politik besser zu erklären. Ich halte das für die ultimative Form der Wählerverachtung. Wenn die Leute maulen, liegt es nicht daran, dass ihnen die Politik nicht passt. Nein, sie haben einfach noch nicht verstanden, wie gut die Politik ist, die sie ablehnen!

Das Ulkige ist, dass gerade die SPD immer mit Politikern gesegnet war, die nah bei die Leut waren, wie man so schön sagt. Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel, Klaus Wowereit, Kurt Beck. Unvergessen, wie Beck einem Arbeitslosen, der ihn bedrängte, entgegenhielt: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job.“ Die umstehenden Journalisten waren natürlich indigniert. Aber Beck sagte nur: „S’Lebbe iss doch wie’s iss.“

Warum viele Bürger eine solche Distanz zur Politik verspüren? Das hängt auch mit den Repräsentanten zusammen, die heute das Sagen haben. Warum ist jemand wie Wolfgang Bosbach nach wie vor ausgebucht? Er hat kein Amt mehr

und kein Mandat. Das letzte Mal, dass er für die CDU im Bundestag saß, liegt sechs Jahre zurück. Dennoch könnte er jeden Abend einen Wahlkampfauftritt bestreiten, wenn er wollte. Die Anrufe von Parteifreunden, die ihn gerne als Zugpferd in ihrem Wahlkreis hätten, reißen nicht ab.

Weshalb? Ganz einfach, die Leute hören ihm gerne zu. Er behumst sie nicht, er packt sie nicht in Watte, er überzieht sie aber auch nicht mit einer Suada, warum Deutschland dem Untergang geweiht sei. Bosbach verfügt über eine Mischung aus Frohsinn, Hemdsärmeligkeit und Aufrichtigkeit, die Menschen dazu bringt, ihre Stimme der CDU zu geben.

Man sollte meinen, dass sie in den Parteizentralen darüber nachdenken, wie sie wieder mehr Menschen aufstellen, die so reden, dass man ihnen freiwillig zuhört. Heißt es nicht gerade wieder, wir müssten ganz dringend unsere Demokratie stärken? Aber tatsächlich geht es genau in die andere Richtung.

Im März hat die Regierung eine große Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, um endlich das Wachstum des Bundestags zu begrenzen. Das ist das erklärte Ziel. Aber daneben gibt es noch ein unausgesprochenes Ziel, und das ist, die Erststimme zu entwerten, der die direkt gewählten Abgeordneten ihren Sitz verdanken.

In Zukunft wird die alles entscheidende Stimme die Zweitstimme sein, also die Stimme für die jeweilige Partei. Wenn jemand seinen Wahlkreis gewinnt, seine Partei aber nicht so doll abgeschnitten ab, geht er, wenn er Pech hat, leer aus und muss den Platz für einen Listenabgeordneten räumen. Die Wahlrechtsreform ist die Rache der Liste an den Direktkandidaten.

Wir werden in Zukunft eher mehr von Politiker wie Ricarda Lang sehen als weniger.

Einige Anmerkungen zur AfD

Steht Deutschland vor der nächsten Machtübernahme? Droht die Massendeportation von allen, die sich nicht einfügen wollen? Der Irrsinn bei der AfD korrespondiert leider mit der Maßlosigkeit der journalistischen Bewertung

Um es vorwegzuschicken: Ich hege Null Sympathien für die AfD. Wenn die AfD morgen verboten würde, wäre mir das auch recht. Ich halte es für unzutreffend, sie als Nazipartei zu bezeichnen, wie es der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst getan hat. Zutreffend wäre es, sie als Partei zu bezeichnen, in der Leute den Ton angeben, die nicht nur wie Nazis aussehen, sondern auch wie Nazis denken und reden.

Wenn ich mir den Parteivorsitzenden Tino Chrupalla anschaue, erkenne ich eine Physiognomie wieder, die man als deutsches Gesicht bezeichnen kann. Hätte Quentin Tarantino einen Nachfolger des SS-Offiziers Hans Landa zu besetzen, der Malermeister aus Sachsen wäre eine Empfehlung. Wobei, ich muss mich korrigieren. Das ist Unsinn. Über die SA wäre einer wie Chrupalla nie hinausgekommen.

Ist die AfD auch so gefährlich, wie es die historischen Vergleiche vermuten lassen? Das ist die Frage der Stunde. Wer die Zeitungen aufschlägt, muss den Eindruck gewinnen, dass uns nur noch ein Wimpernschlag von der nächsten Machtergreifung trennt, an dem die braunen Horden wieder durchs Brandenburger Tor marschieren.

Ende November traf sich ein Trupp AfD-Sympathisanten in einem Hotel in der Nähe von Potsdam zu einem Geheimtreffen, das dann so geheim war, dass ein Reporterteam den Ort rechtzeitig mit einem halben Dutzend Kameras und Mikrofonen ausgestattet hatte. Ein Vortrag handelte davon, wie man Leute, von denen man meint, dass sie nicht dazugehören, außer Landes schafft. Das gilt als Beweis, dass es fünf vor zwölf ist.

Das Treffen sei ein Weckruf, schrieb die stellvertretende Chefredakteurin des „Spiegel“, Melanie Amann. Hinter der AfD stehe eine brutale, faschistoide Ideologie, deren bürokratische Details die AfD-Leute im Stil der Wannseekonferenz bis ins Einzelne ausgetüftelt hätten.

Einen See weiter steht auch das Haus der Wannseekonferenz. Darauf hinzuweisen hatten schon die Reporter des Recherchenetzwerks „Correctiv“ nicht verzichten können. Sie hatten sogar die Entfernung vermessen (acht Kilometer). Das ist das Problem der deutschen Geschichte: In der Nähe zu nahezu jeder Konferenz findet sich ein böser Ort, das ist unvermeidlich. Wollte man es darauf anlegen, könnte man auch von Redaktionssitzungen des „Spiegel“ im Reichskanzleistil reden, weil zwischen dem Berliner Büro und Hitlers Führungssitz lediglich zwei Kilometer liegen.

Der Irrsinn der Deportationspläne korrespondiert mit der Maßlosigkeit der journalistischen Bewertung. Wissen Journalisten, die vom Wannseekonferenzstil reden, was auf der Wannseekonferenz besprochen wurde? Kennen sie die Liste der Teilnehmer? Ist ihnen bewusst, dass es sich dabei nicht um irgendwelche mediokren Gestalten handelte, deren Namen man sich erst zusammengoogeln musste, sondern um die damals mächtigsten Männer des deutschen Staates?

Ich verstehe die Beweggründe. Man will aufrütteln, Bewusstsein schaffen. Es geht auch darum, eine Rampe für das Verbotsverfahren zu bauen. Aber ich fürchte, man erreicht das Gegenteil von dem, was man erreichen will. Die Leute schauen sich die Hanseln an, die am Lehnitzsee in Potsdam die große Massenverschiffung aller kulturfremden Personen nach Nordafrika planten, und können sich einfach nicht fürchten. Sie haben sich übrigens auch vor dem Putsch-Prinzen in seinem Tweedsakko nicht gefürchtet, obwohl in den Zeitungen stand, die Behörden hätten knapp einen Staatsstreich vereitelt.

Ich wäre sehr dafür, die Gewaltenteilung zu beachten, zumal wenn man sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahne geschrieben hat. Es ist nicht Sache des Verfassungsschutzes, den Regierungsparteien unerwünschte Konkurrenz vom Leibe zu halten. Und Journalisten sind keine Verfassungsschützer. Wir müssen berichten, was wir sehen und hören. Wir sollten das beurteilen und meinetwegen auch verdammen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, Parteien groß oder klein zu schreiben. Genau das aber ist der Anspruch vieler AfD-Beobachter.

Schon der Name „Correctiv“ ist genau besehen eine Anmaßung. Wer oder was soll hier korrigiert werden? Die privaten Medienhäuser, die nach Auffassung der „Correctiv“-Macher nur unzureichend ihrem Job nachkommen? Oder die politische Richtung des Landes, die man für falsch hält?

Unabhängiger zu sein als andere, das ist das Versprechen. Wenn man genauer hinsieht, stellt man allerdings fest, dass zu den Geldgebern in der Vergangenheit neben diversen staatlichen Stellen auch die Bundesregierung gehörte. So gesehen ist es dann vielleicht nur naheliegend, wenn sich eine der Redaktionsleiterinnen artig beim Bundeskanzler dafür bedankt, dass er ihre Recherche wahrgenommen und gelobt hat. Wenn mich der Kanzler für meine Texte loben würde, wäre mein erster Gedanke: Was habe ich falsch gemacht? Die meisten Kollegen, die ich kenne, denken gottlob ähnlich.

Pünktlich zur „Correctiv“-Recherche hat eine Jury das Wort „Remigration“ zum Unwort des Jahres erklärt. Sie wolle die Sprachsensibilität der Bevölkerung fördern, heißt es auf der Webseite der Jury. Aber ich fürchte, es ist wie so oft: Diejenigen, die ohnehin sensibilisiert sind, sind jetzt noch ein wenig sensibler. Die anderen zucken mit den Achseln oder fühlen sich bestätigt. Der Reiz von Begriffen wie „Remigration“ liegt ja gerade darin, dass es links der Mitte als Unwort gilt, deshalb macht der Gebrauch den Rechten solchen Spaß.

Eines der größten Konjunkturprogramme für die AfD sind die aufrechten Kämpfer, für die die Neuauflage der Wannseekonferenz schon mit der Asyldiskussion im Kanzleramt beginnt. Die unvermeidliche Luisa Neubauer brachte es auf den Punkt, als sie den Kanzler per Tweet daran erinnerte, dass bei den Demos gegen die AfD auch gegen ihn und seine Politik demonstriert werde. In der „FAZ“ verstieg sich der Redakteur Patrick Bahners zu der Behauptung, in der Sache ginge das Nordafrika-Konzept nur „ein oder zwei Schritte“ über die migrationspolitischen Planspiele der Ampelkoalition hinaus.

Tatsächlich schwanken die Warner, wie sie die AfD sehen sollen. Einerseits betonen sie, dass die AfD völlig anders sei als andere Parteien, was sie so gefährlich mache. Anderseits sieht man überall Kontinuitäten. Wenn im Prinzip zwischen dem Wunsch des Kanzlers, Ausländer ohne Bleiberecht schneller abzuschieben, und den Deportationsfantasien eines österreichischen Identitären nur noch wenige Schritte liegen, ist die AfD eine ganz normale Partei. Warum sie dann aber verbieten wollen?

Was also soll man tun? Ich will mich da nicht aus der Affäre stehlen. Ich wäre erstens dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Natürlich handelt es sich beim völkischen Nationalstaat, wie ihn sich die AfD erträumt, um eine Reinheitsidee, bei der die Rasse-Reinheit durch Kultur-Reinheit ersetzt wurde – was denn sonst?

Ich habe auch nichts gegen Wählerbeschimpfung. Wer AfD wählt, soll ruhig merken, dass seine Entscheidung bei anderen auf Befremden stößt. Wenn jemand einen Politiker toll findet, der statt der Elvis-Imitation die Goebbels-Imitation zu seinem Markenzeichen gemacht hat, hat er es verdient, dass man ihm einen Vogel zeigt.

Aber wir sollten mit der Hysterie aufhören. Wenn sie in der AfD könnten, wie sie wollten, haben viele nichts mehr zu lachen, Lästermäuler wie ich eingeschlossen, kein Vertun. Nach Lage der Dinge wird allerdings noch eine Zeit vergehen bis zur Machtübernahme.

Selbst wenn Björn Höcke eines Tages Ministerpräsident in Thüringen sein sollte (was den vorliegenden Umfragen zufolge frühestens 2029 geschieht), wird sich am Grundgesetz nichts ändern. Und am Einwanderungsrecht auch nicht. Und an der Gewaltenteilung ebenso wenig.

Im Zweifel streicht man den Länderfinanzausgleich. Wer sind die größten Nutznießer? Berlin, klar. Aber darauf folgen schon Sachsen mit 3,3 Milliarden Euro, Sachsen-Anhalt mit 2 Milliarden und Thüringen mit 1,9 Milliarden. Bringt das die Wähler von ihrer Meinung ab? Nein. Aber man soll die ernüchternde Wirkung des Geldentzugs auch nicht unterschätzen. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt am Ende doch alles.

© Silke Werzinger

Wussten Sie es? Konservative sind glücklicher als Linke (mehr Sex haben sie auch)

Es hat viele Vorteile, konservativ zu sein. Konservative sind glücklicher als Linke. Sie sind optimistischer, was gut für die Gesundheit ist, und den besseren Sex haben sie auch. Kein Wunder, dass man links der Mitte so miesepetrig dreinschaut

 Die Welt der Ängste ist eine vielfältige Welt. Manche Menschen fürchten sich vor zu engen Räumen, andere vor zu großen. Es gibt Menschen, die eine Furcht vor Blumen (Antophobie), Schnee (Chionophobie) oder Wind (Anemophobie) entwickelt haben. Einige erleiden eine Angstattacke, wenn ihnen jemand die Hand entgegenstreckt.

Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Jedes Mal, wenn sie es versucht hat, bekam sie solches Herzklopfen, dass sie sofort anhalten musste. Das macht das Leben nicht einfacher. Versuchen Sie mal einen Weg von Hamburg nach München zu finden, der garantiert brückenlos ist, das ist eine echte Herausforderung.

Bahnfahren scheidet bei ihr leider als Alternative aus, weil sie in Tunneln ebenfalls Beklemmungen bekommt. Außerdem führen auch viele Bahnstrecken über Brücken. Das Besteigen eines Flugzeugs wiederum scheitert daran, dass Flugzeuge so schnell den Bodenkontakt verlieren.

Das Thema ist mir nicht fremd, wie Sie sehen. Aber selbst ich war überrascht, als ich über eine neue Form der Phobie las, die vor allem unter jungen Menschen grassiert und die als „Speisekartenangst“ Einzug in die Liste kollektiver Zwangsvorstellungen gefunden hat. Viele Vertreter der Generation Z setzt es offenbar unter enormen Stress, wenn sie in einem Restaurant unter den angebotenen Speisen auswählen sollen.

Es ist nicht ganz klar, was die Panikreaktion auslöst. Ist es der Druck, sich entscheiden zu müssen, während jemand neben einem steht und auf eine Antwort wartet? Manche spekulieren, dass die Gen Z so sehr daran gewöhnt ist, alles im Netz zu mustern und zu bewerten, dass es die jungen Menschen total überfordert, wenn sie plötzlich eine Wahl treffen sollen, die nicht mehr revidierbar ist.

Eine weitere Vermutung lautet, dass sie mit der sozialen Situation an sich nicht zurechtkommen. Statt unbeobachtet eine Bestellung aufzugeben, sollen sie plötzlich einem Kellner von Angesicht zu Angesicht ihre bevorzugte Menüauswahl mitteilen: Wie furchtbar! Fürs Dating und spätere Familiengründungen lässt das nichts Gutes erahnen.

Das Interessante an Phobien ist, dass es einen politischen Bezug gibt. Je weiter jemand nach links tendiert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie an Ängsten leidet. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das lässt sich belegen.

Das Verhältnis zwischen allgemeinem Wohlbefinden und politischer Ausrichtung ist gut erforscht, und das Ergebnis ist eindeutig. Konservative sind glücklicher als Linke. Ich bin das erste Mal vor zehn Jahren in einem Artikel in der „New York Times“ auf diesen „Happiness Gap“ gestoßen. Der Autor, der Glücksforscher Arthur C. Brooks, ging darin der Frage nach, weshalb konservativ eingestellte Menschen in der Regel zufriedener mit ihrem Leben sind als Leute, die nach links tendieren.

Die naheliegende Erklärung ist, dass sich Konservative leichter tun, weil sie der Zustand der Welt nicht so bekümmert wie Linke. Das wäre die „Selig sind die Unwissenden“-These. Wer sich nicht dafür interessiert, wie es anderen geht, schreitet unbesorgter durchs Leben.

Die Forschung allerdings hat einige Löcher in diese These geschossen. Dass die Gesellschaft ungerecht eingerichtet sei, ist schließlich keine Tatsache, sondern selbst eine Annahme, die vor allem von Linken geteilt wird. Auch Konservative interessieren sich für den Zustand der Welt. Ihnen sind nur andere Dinge wichtig. Wäre ihnen alles egal, würden sie alles mit der Gelassenheit eines Buddha betrachten. Dem ist aber erkennbar nicht so.

Eine andere Erklärung stellt auf die Lebensumstände ab. Konservative Menschen neigen eher zu dauerhaften Beziehungen. Wer verheiratet ist oder in einer eheähnlichen Beziehung lebt, ist nachweislich zufriedener als Menschen, die oft wechselnde Partnerschaften haben. Ähnliches gilt übrigens für den Bezug zur Religion. Bei Umfragen geben Menschen, die an Gott glauben, fast doppelt so häufig an, dass sie mit ihrem Leben zufrieden seien, wie Befragte, denen Religion nichts bedeutet.

Die Ergebnisse der Glücksforschung mögen einige überraschen. Rechte gelten schließlich als unsicher, komplexbeladen und engstirnig, weshalb sie ja auch auf alles, was nur irgendwie anders ist, mit Abwehr und Aggression reagieren, so heißt es doch immer. Wie aber kann jemand, der autoritär, verbohrt und ängstlich ist, sehr viel positiver gestimmt sein als sein politischer Nachbar, der als liberal, offen und progressiv gilt? Das passt nicht wirklich zusammen.

Ich weiß, ich begebe mich hier auf dünnes Eis. Aber konservativ zu sein, scheint auch in anderer Hinsicht von Vorteil zu sein. Konservative sehen deutlich optimistischer in die Zukunft, was erwiesenermaßen gut für die Gesundheit ist. Und, nicht ganz unwichtig, sie haben auch mehr und besseren Sex.

Dass Sozialdemokraten am seltensten Sex haben, ist seit Längerem bekannt (1,5-mal pro Woche versus 1,8-mal bei Unionswählern und, Spitzenwert, 2,1-mal bei FDP-Anhängern). Eine von der amerikanischen Datingseite match.com in Auftrag gegebene Umfrage hat darüber hinaus ergeben, dass Rechte dabei auch mehr Freude empfinden, und zwar geschlechtsunabhängig. Während unter den Anhängern der Demokraten nur 40 Prozent angeben konnten, bei Sex regelmäßig zum Höhepunkt zu kommen, berichteten dies mehr als die Hälfte der Sympathisanten der Republikaner.

Eine Sache hat mich wirklich verblüfft: Die glücklichsten Menschen finden sich am politischen Rand. Ich hatte immer gedacht, es sei für das Wohlbefinden am besten, wenn man sich nicht zu sehr aufrege. Aber auch das lässt sich wissenschaftlich nicht halten. Der Glücksexperte Brooks verweist auf Studien aus den USA, wonach die glücklichsten Amerikaner diejenigen sind, die sich entweder als „extrem konservativ“ oder „extrem liberal“ bezeichnen. Der Anteil derjenigen, die sagen, dass sie sehr glücklich seien, liegt hier bei 48 respektive 35 Prozent. Bei Menschen, die sich zu den Moderaten zählen, kann das nur ein Viertel von sich behaupten.

Offenbar wirkt es sich positiv aus, wenn man die Umgebung klar in Freund und Feind unterteilen kann. Wer keinen Zweifel daran hat, auf der richtigen Seite zu stehen, muss sich auch nicht mit Selbstzweifeln herumschlagen. Ich persönlich finde kaum etwas grauenhafter als die Vorstellung einer Welt, in der es keine Überraschungen mehr gibt. Aber auf viele Menschen hat Übersichtlichkeit nicht nur im Privaten, sondern auch im Politischen einen heilsamen Effekt, wie man daraus schließen muss.

Bleibt die Frage, wer der Klügere ist. Linke trösten sich damit, dass sie vielleicht nicht glücklicher, aber dafür intelligenter seien. Der Kronzeuge für diese Annahme ist Satoshi Kanazawa von der London School of Economics. „Why Liberals and Atheists Are More Intelligent“ heißt ein Aufsatz, der 2010 in der Fachzeitschrift „Social Psychology Quartely“ erschien und seitdem in immer neuen Varianten recycelt wurde. Als Grundlage dienten Kanazawa Daten einer Studie, wonach junge Leute, die sich als sehr konservativ einschätzen, im Schnitt einen IQ von 95 Punkten hatten. Ihre sehr progressiven Altersgenossen kamen hingegen auf 106 Punkte.

Ein Jahr nach dem Intelligenz-Aufsatz veröffentlichte Kanazawa einen Text mit dem Titel „Why Are Black Women Less Physically Attractive Than Other Women?“, worauf ihn seine Hochschule mit einem vorübergehenden Publikationsverbot belegte. Nun ja, nobody is perfect, wie es so schön heißt.

Wenn ich die Wahl zwischen ein paar Intelligenzpunkten mehr oder Glück und besserem Sex hätte, würde ich mich für Letzteres entscheiden. Ich höre schon, wie jetzt der eine oder andere ruft: typisch konservativ. Stimmt, deshalb geht’s mir ja auch ganz gut.

© Michael Szyszka

Das Höhöhö-Syndrom: Etwas stimmt ganz grundsätzlich nicht mit Olaf Scholz

Wir befinden uns an der Schwelle zu einer Dauerrezession, schon im nächsten Jahr könnte Deutschland ohne amerikanischen Atomschild dastehen: Und was macht Olaf Scholz? Er lacht. Was stimmt mit dem Mann nicht?

 In der Urlaubsunterkunft bin ich auf ein Buch des New Yorker Wissenschaftsautors Malcolm Gladwell gestoßen. Das Buch handelt davon, wie man scheinbar unvermeidliche Niederlagen in Siege verwandelt. Es beginnt mit der Geschichte von David und Goliath.

Der Zweikampf zwischen dem Hirtenjungen David und dem Riesen Goliath gehört zu den bekanntesten Geschichten der Welt. Schmächtiger Junge aus einfachen Verhältnissen trifft auf übermächtigen Gegner und erledigt ihn zur Überraschung aller mit einem Wurf aus seiner Steinschleuder: Wer hätte davon nicht gehört? Aber bei Gladwell habe ich eine Geschichte gelesen, die ich so noch nicht kannte.

So wie Gladwell die Begegnung im Tal von Elah erzählt, ist es eine Parabel darüber, was passiert, wenn man sich zu sicher fühlt. Wir halten die Steinschleuder für eine Art Kinderspielzeug, dabei war sie eine gefürchtete Waffe. Ein erfahrener Schütze konnte damit aus zweihundert Metern Entfernung einen Menschen verletzen oder töten. Einige Schleuderer sollen in der Lage gewesen sein, jede Münze, die sie sehen konnten, zu treffen.

Goliaths Stärke war der Nahkampf, bei dem sich der Gegner durch Körperkraft überwältigen lässt. Entsprechend lautete auch die Aufforderung des Riesen an seinen Herausforderer: „Komm nur her zu mir. Ich werde Dein Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben.“ Es ist der Satz eines Mannes, der meint, die Spielregeln diktieren zu können, weil er gewohnt ist, dass alle in seiner Umgebung auf ihn hören. Wer zu lange das Sagen hat, dessen Vorstellungsvermögen schrumpft. Am Ende fällt Goliath über seine eigene Arroganz und Aufgeblasenheit.

Ballistiker haben errechnet, dass ein Stein, wie ihn Goliath an der Stirn traf, aus 35 Metern Entfernung abgefeuert eine Geschwindigkeit von 120 Kilometer erreicht haben wird. Die Wucht des Aufpralls wird der Kugel aus einer modernen Handfeuerwaffe entsprochen haben. „Mit seinem Schwert hatte Goliath ungefähr genauso gute Chancen gegen David wie gegen einen Gegner mit einer automatischen Pistole“, zitiert Gladwell einen Militärhistoriker.

„Komm nur her zu mir“: Overconfidence nennt man das Phänomen im Englischen. „Übersteigertes Selbstvertrauen“ wäre wohl die beste Übersetzung.

Ein anderes Opfer der Overconfidence ist unser Bundeskanzler. Seit zwei Jahren regiert Olaf Scholz das Land. Das Schiff schlingert mächtig, Krise reiht sich an Krise, nichts will gelingen. Aber jedes Mal, wenn der Kanzler vor ein Mikrofon tritt, hört man ihn sagen, dass sich die Menschen keine Sorgen zu machen bräuchten, weil er ja jetzt im Kanzleramt säße.

Die Berichte in den Zeitungen? Miesepetereien notorischer Schlechtredner. Die verheerenden Umfragewerte? Demoskopen-Hokuspokus, das nicht die wahre Stimmung im Land spiegelt. Die deprimierenden ökonomischen Daten? Augenblicksaufnahmen, die schon morgen überholt sein werden.

Die seltsame Ruhe ist nicht vorgetäuscht, Scholz denkt wirklich so. Das gilt auch für seine Entourage. Ich bin in Sommer seinem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt begegnet. Ich habe selten einen entspannteren Kanzleramtschef erlebt. Schon im Sommer war die Lage nicht gut. Am Ende des Abends fragte ich mich, welche Happy Pills sie im Kanzleramt einwerfen. Egal, was man ihm entgegenhielt: Schmidt antwortet mit der geduldigen Nachsicht eines Menschen, der sich im Besitz einer Wahrheit weiß, die den Umstehenden leider noch verschlossen ist.

Im Prinzip finde ich es gut, wenn sich die politisch Verantwortlichen nicht zu sehr von den Aufregungen des Tages leiten lassen. Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit muss an der Spitze sein, anders lässt sich das Land nicht regieren. Wenn Sie als Kanzler zu sehr der Presselage folgen, finden Sie aus der Depression nicht mehr heraus. Aber es gibt einen Punkt, an dem das Selbstvertrauen in Fahrlässigkeit umschlägt. Dann droht der Goliath-Moment.

Ich hatte mir fest vorgenommen, zum Jahreswechsel Zuversicht und Frohsinn zu verbreiten. Aber man muss der Lage als Kolumnist ins Auge sehen. Die wirtschaftliche Malaise ist keine Wachstumsschwäche, die schon im nächsten Quartal behoben sein wird, sondern Vorbote eines anhaltenden Niedergangs, wie es aussieht. Selbst die Italiener, auf deren Staatskünste wir Deutsche gerne herabsehen, sind uns enteilt.

Und das sind nur die innerdeutschen Aussichten. Noch düsterer sind die internationalen. Mein Kollege René Pfister hat vor Weihnachten John Bolton getroffen. Bolton war unter Trump ein Jahr oberster Sicherheitsberater, bis er rausflog, weil er es als seine wichtigste Aufgabe ansah, Trump dessen Lieblingsideen wie die eines Nato-Austritts auszureden.

Dem nächsten Kabinett wird Bolton mit Sicherheit nicht mehr angehören und auch niemand, der so denkt wie er. Bei Trump zwei werden nur noch True Believer an Bord sein, also Leute, die Trumps Vorstellungen zu hundert Prozent teilen – oder, wenn sie unsicher sind, was seine Vorstellungen sind, zu 150 Prozent.

Wie sieht nun Bolton auf Deutschland und Europa? Nun ja, sagt er, soweit er sich erinnern könne, sei die europäische Verteidigungspolitik immer nur in Sonntagsreden stark gewesen. „Long on rhetoric and short on substance“, wie Bolton sich ausdrückt. Als ihm Pfister entgegenhielt, sein Argument laufe darauf hinaus, dass die Europäer im Falle einer Wiederwahl Trumps verloren seien, sagte Bolton: „Basically that’s right“.

Ich will, wie gesagt, zum Anfang des Jahres keine schlechte Laune verbreiten. Aber eine zweite Amtszeit Trumps wird mit jeder Woche wahrscheinlicher. Joe Biden ist bei den amerikanischen Wählern rasend unbeliebt. Wobei „unbeliebt“ das falsche Wort ist. Die Leute haben eher Mitleid mit ihm, was fast noch schlimmer ist. Wenn sie sehen, wie sich Biden durch seine öffentlichen Auftritte quält, denken sie: Gott, ja, mit 81 Jahren war mein Dad auch nicht mehr ganz bei sich.

Was machen wir, wenn Trump die Mitgliedschaft in der Nato aufkündigt? Man sollte meinen, im Kanzleramt würden sie Tag und Nacht über diese Frage nachdenken. Aber weit gefehlt. Auch in dieser Hinsicht herrscht diese unerklärliche Gelassenheit, mit der man dort seit zwei Jahren jeder Krise begegnet. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. I cross the bridge, when I reach it. Regierungskunst als Glückskeks-Weisheit.

Ich glaube mittlerweile, die richtige Mischung aus Gelassenheit und Gefahrenbewusstsein ist eine Frage der Intelligenz. An Angela Merkel lässt sich viel aussetzen, doch sie verstand immer, um was es ging. Sie hat dann oft die Dinge auf die lange Bank geschoben. Aber auch das ist eine Intelligenzleistung. Man muss wissen, was sich durch Zuwarten erledigt, jedenfalls solange man noch selbst im Amt ist – und was so schnell anbrennt, dass man besser tätig wird, wenn man am Ende nicht der Gelackmeierte sein will.

Scholz bewundert Merkel bis heute. Leider hat er aus der Beobachtung seiner Vorgängerin die falschen Schlüsse gezogen. Er denkt, dass die Wähler es honorieren, wenn man sie nicht mit Erklärungen behelligt. Das ist richtig. Aber dafür erwarten sie im Gegenzug auch, dass ihr Kanzler die Dinge im Griff hat. Das Gefühl haben außerhalb des Kanzleramts nicht einmal die Treuesten der Treuen.

Im „Spiegel“ war neulich das Porträt eines Mannes zu lesen, der sich intellektuell für so überlegen hält, dass er meint, ihm könne nichts mehr gefährlich werden. Wenn es ein Geräusch gebe, das ihn charakterisiere, dann sei es dieses meckernde Lachen: höhöhö. Das Geräusch erklinge, wenn Scholz glaube, seinen Zuhörern eine Erkenntnis präsentiert zu haben, die sie bislang übersehen hatten. Wenn er einen Plan skizziere, den er für besonders listig halte. Oder wenn er erkläre, warum er am Ende recht behalten werde und nicht die Opposition und nicht die Medien. Höhöhö.

Wirklichkeitsverlust aus dem Gefühl der Einzigartigkeit: Das ist Overconfidence am Limit.

© Sören Kunz

Dumm und Dümmer

Mehr als ein Viertel der Neuntklässler kann nicht richtig lesen, 30 Prozent können kaum rechnen. Was ist die Antwort der Bildungsreformer? Gymnasium abschaffen und Noten verbieten, damit sich der Mangel gerechter verteilt. Halleluja

 Der „Spiegel“ hat sich neulich in einem Leitartikel mit Wegen aus der Bildungsmisere befasst. „Spiegel“-Leser sind, so wie „FOCUS“-Leser auch, überdurchschnittlich gebildet, das sagt jedenfalls die Marktforschung. Der Anteil, der über Abitur oder Hochschulstudium verfügt, ist unter ihnen besonders hoch, weshalb Bildungsthemen hier in der Regel auf großes Interesse stoßen.

Was empfahl nun der „Spiegel“? Mehr Geld für die Schulen, bessere pädagogische Konzepte, andere Lehrpläne? Nein, das Gymnasium müsse weg!

Das Gymnasium sei eine Bildungsoase, die sich eine privilegierte Elite geschaffen habe, um sich selbst zu reproduzieren und nach unten abzugrenzen. Dieses Prinzip sei pädagogisch aus der Zeit gefallen, die frühzeitige Auslese sozial ungerecht. „Das Gymnasium muss abgeschafft werden, zum Wohl aller Kinder, aus gesellschaftlicher Verantwortung. Allen Widerständen zum Trotz.“

Auch schräge Ideen haben ihren Platz im Journalismus. Bei dem Aufruf handelte es sich allerdings nicht um eine abseitige Minderheitenmeinung. Leitartikel geben eine Auffassung wieder, hinter der sich die Chefredaktion und große Teile der allgemeinen Redaktion versammeln können. Deswegen heißen sie ja Leitartikel.

Das ist die Antwort in einem führenden Presseorgan des Landes auf die deutsche Bildungskatastrophe: Wir hören auf, Unterschiede zwischen Begabten und weniger Begabten zu machen, weil das unsozial ist und die weniger Begabten diskriminiert. Eine andere Antwort lautet: Wir senken die Standards. Warum junge Menschen mit Anforderungen quälen, von denen wir wissen, dass sie diese ohnehin nicht erfüllen werden? Also weg mit den Tests und den Noten gleich obendrein.

Dass Deutschland, also das Land, von dem es immer heißt, dass sein wichtigster Rohstoff der zwischen den Ohren sei, bei Bildungstests zulegt, diese Hoffnung haben wir vor langer Zeit aufgegeben. Wir verfügen weiterhin über keine nennenswerten Rohstoffe außer Bildung, aber irgendwie haben wir uns davon überzeugt, dass es nichts ausmacht, wenn Generation auf Generation dümmer wird.

Wie dumm deutsche Schüler sind, haben wir gerade wieder schwarz auf weiß bekommen. Mehr als ein Viertel der 15-Jährigen hat auch nach neun Jahren Unterricht große Mühe, einen geraden Satz zu schreiben. Jeder Dritte scheitert an einfachen Rechenaufgaben. Gut, auf der Habenseite steht, dass alle wissen, wie man auf TikTok ein Video hochlädt und sich bei Instagram vorteilhaft in Szene setzt. Aber ob das reicht, eine entwickelte Volkswirtschaft wie die unsere am Laufen zu halten? Da haben selbst die sonnigsten Ökonomen ihre Zweifel.

Man mag es kaum glauben, aber das deutsche Schulsystem galt einmal als das Beste der Welt. Überall kopierte man es, mit dem Kindergarten als Einstieg und dem Gymnasium als Kernstück. Die großen amerikanischen Universitäten, auf die heute viele mit großen Augen schauen, haben sich am Ideal des Universalgenies Wilhelm von Humboldt ausgerichtet, der im kriegsversehrten Berlin 1809 in rascher Folge das durchgängige Schuljahr, den Stundenplan und das Abitur einführte. 170 Jahre ging das gut. Dann kamen die rot-grünen Bildungsreformer und machten sich daran, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit zu verwirklichen. Seitdem geht es bergab.

Selbst in Baden-Württemberg, das über Jahrzehnte dem Trend trotzte und so etwas wie den Goldstandard schulischer Exzellenz bildete, haben sich die Dinge zum Schlechten gewendet. Man kann sogar ziemlich genau sagen, wann die Dinge ins Rutschen gerieten. Der Kipppunkt fällt mit der Amtsübernahme von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident zusammen. So sehr ich den knurrigen alten Mann der Grünen schätze: Gegen die Ideologen in seiner Partei konnte auch er nichts ausrichten.

Für manches kann die Schule nichts. Wenn zur Einschulung 400000 Kinder die Schule betreten, die noch nie ein Buch von innen gesehen haben, ist selbst die engagierteste Lehrerschaft überfordert. Als Wirtschaftswissenschaftler würde man von einem exogenen Schock reden. Es mag niemand so deutlich aussprechen, aber das Bildungsversagen ist auch ein Migrationsversagen. Kinder aus Einwandererfamilien haben im Schnitt einen Rückstand von einem Schuljahr. Da fast 40 Prozent aller 15-Jährigen aus Zuwandererfamilien stammen, macht das viel aus.

Die muslimische Kultur tut sich nicht durch Wertschätzung des Buches hervor. Deshalb sind muslimische Schulen im Gegensatz zu katholischen, jüdischen oder evangelischen auch nicht wirklich wettbewerbsfähig. Das verstehe ich. Weshalb allerdings schon neunjährige Knirpse ihre Grundschullehrerin mit Unflätigkeiten überziehen, ist mir ein Rätsel – warum das offenbar zu Hause toleriert wird, ein noch größeres.

Jetzt heißt es, man müsse das System gerechter machen. Nirgendwo hänge der Bildungserfolg so sehr vom Elternhaus ab wie in Deutschland. Der Befund an sich stimmt.

Bei Schulleistungsstudien werden Schüler immer wieder danach gefragt, wie viele Bücher bei ihnen Zuhause stehen. Es gibt dabei fünf Kategorien zur Auswahl, angefangen bei „weniger als ein Regalbrett“ bis zu „ein ganzes Bücherregal“. Welchen Einfluss der Bildungshintergrund der Eltern ausübt, hat selbst die Forscher überrascht. Wer in einem Haushalt mit Bücherwand aufwächst, liegt bei Leistungstests Lichtjahre vor dem Kind aus der bücherlosen Welt.

Die Frage, die allerdings so gut wie nie gestellt wird: Was hält Eltern eigentlich davon ab, ihren Kindern abends vorzulesen? Auch der Einwanderer aus dem Libanon sollte wissen, dass es besser ist, die Kinder nicht einfach vor die Glotze zu setzen. Ich sehne mich am Ende eines langen Tages ebenfalls nach Ruhe. Aber wenn meine Tochter mich bittet, ihr Ronja Räubertochter vorzulesen, sage ich doch auch nicht: „Papa ist zu müde. Schauen wir mal, was RTL so zu bieten hat.“

Der größte Fehler der Bildungspolitik ist es, so zu tun, als ob an allem das System schuld sei. Das ist ja die Botschaft linker Reformer: Es liegt am System, wenn Mandy, Jeremy und Ahmed versagen. Deshalb wird ständig am System herumgedoktert, statt darüber nachzudenken, wie man Wissen so vermittelt, dass auch Kinder ohne Bücherwand mitkommen.

Die Empfehlung von links lautet seit 50 Jahren: Gesamtschule. Wenn nur endlich alle gemeinsam in einer Klasse sitzen, werde sich alles zum Guten wenden, weil Mandy dann vom Johann lerne, wie man den Dreisatz richtig bildet. Auch dazu gibt es übrigens Forschung. Tatsächlich tritt das Gegenteil ein: Je klarer Mandy vor Augen geführt wird, dass Johann ihr immer voraus sein wird, desto stiller wird sie werden. Experten nennen das den Fischteicheffekt. Wenn Schüler das Gefühl haben, dass die anderen ihnen weit enteilt sind, strengen sie sich nicht an, zu ihnen aufzuschließen, sondern geben auf.

Das gilt übrigens auch für Hochbegabte. Der gemeinsame Unterricht mit Kindern, die deutlich langsamer sind, lässt ihren Elan verkümmern. Sie langweilen sich, schalten ab und machen Unsinn. Dennoch hält sich bis heute die Mär, dass man vorne an die Schule nur das Schild „Gemeinschaftsschule“ anbringen müsse, damit Deutschland wieder PISA-Sieger wird.

Wie die Zukunft aussieht, wenn die Politik die Dinge weiter schleifen lässt? Es wird sich ein neues dreigliedriges Schulsystem herausbilden, aber ganz anders, als sich das viele vorstellen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Wo die Sozialstruktur so ist, dass man sein Kind auf die Sprengelschule geben kann, floriert auch die Sprengelschule. Der Rest, der sich weder Privatschule noch eine Gegend leisten kann, in der auch der Migrant drei Sprachen spricht, findet sich auf der Gemeinschaftsschule wieder.

Nichts gegen die Gemeinschaftsschule, immerhin sind die Kinder von der Straße. Man darf nur nicht erwarten, dass sie mit Erreichen der sogenannten Hochschulreife Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschen.

© Silke Werzinger

Die Logik im Land des Bürgergelds: Wer nicht alles rausholt, ist ein Trottel

Ein Bürger, der nichts von ihm will, ist dem Sozialpolitiker unheimlich. Wer keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Deshalb arbeitet der Sozialstaat daran, alle zu Leistungsempfängern zu machen – das ist sein wahres Ziel

 Ich habe vor drei Wochen über das Bürgergeld geschrieben. Als Grundlage diente mir eine Berechnung aus dem Bundessozialministerium, wonach eine vierköpfige Familie ab Januar Anspruch auf 2502 Euro hat.

Ich habe meine Leser eingeladen, bei Gelegenheit mal den Brutto-Netto-Rechner anzuwerfen, was Sie als Familienvater, zwei Kinder, Steuerklasse 3 verdienen müssen, um da mithalten zu können. Arzthelfer, Paketzusteller, Bäcker, Kindergärtner, Kellner, Verkäufer, Busfahrer sind schon mal raus. Deswegen fehlen sie ja auch überall.

Kaum war der Text erschienen, sah ich mich mit Gegenrechnungen konfrontiert. Mehrere Leser wiesen darauf hin, dass ich beim Bäcker das Wohngeld übersehen hätte. Auch der Bäcker habe Anspruch auf Mietzuschuss. Dann schaltete sich die Vorsitzende des Rats der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, ein. Meine Rechnung sei falsch. Wenn man Kindergeld und Wohngeld berücksichtige, habe der Bäcker 1000 Euro mehr an verfügbarem Monatseinkommen als der Bürgergeldempfänger.

Mir kam das bekannt vor. Immer, wenn ich in einer Talkshow sitze, sagen alle, wie mickrig die Sozialsätze doch seien. Binnen zwei Minuten ist das Bürgergeld so runtergerechnet, dass man sich schämt, überhaupt darüber gesprochen zu haben.

Mit dem Bürgergeld verhält es sich ein wenig wie mit der Definition von Pornografie. Fragen Sie 15 Leute und Sie erhalten 15 verschiedene Auskünfte. Man kann darin System sehen, wenn man will. Wenn selbst die Experten uneinig sind, wie hoch die staatlichen Leistungen denn nun ausfallen, ist das vermutlich kein Zufall.

Je länger man sich mit der Materie befasst, desto komplizierter wird es außerdem. Dass Geringverdiener ihr Gehalt durch den Bezug von Bürgergeld aufbessern können, das wusste ich. Die Leute heißen dann Aufstocker. Aber dass man auch als ganz normaler Arbeitnehmer Anspruch auf Wohngeld hat? Das war mir nicht bewusst. Ich bezweifele, dass mein Bäcker in Pullach Wohngeld beantragt hat oder der Kellner nebenan im Rabenwirt. Aber es stimmt: Die beiden könnten, wenn sie wollten.

Wäre es nicht geschickter, man würde den Leuten mehr von ihrem erarbeiteten Geld lassen? Dann müssten sie auch keine Sozialleistungen beantragen. Also Steuersätze runter, anstatt ihnen übers Sozialamt wieder einen Teil von dem zurückzugeben, was man ihnen vorher abgenommen hat. Aber wer so denkt, hat das Prinzip des Sozialstaats nicht verstanden. Sein Ziel ist es, alle zu Leistungsempfängern zu machen. Deshalb ist das entscheidende Wort auch nicht Selbstbestimmung, sondern Umverteilung.

Erst wenn der letzte Deutsche zum Kostgänger gemacht worden ist, gibt sich der deutsche Wohlfahrtsstaat zufrieden. Wobei das stimmt nicht, da muss ich mich korrigieren: Es ist völlig unerheblich, ob jemand deutscher Staatsbürger ist oder nicht, um in den Genuss von Sozialtransfers zu kommen. 2024 wird mit großer Wahrscheinlichkeit das Jahr sein, in dem die Zahl der Bürgergeldempfänger ohne deutschen Pass die der Nutznießer mit deutschem Pass übersteigt.

Ein Bürger, der nichts von ihm will, ist dem Sozialpolitiker unheimlich. Wer keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Das aber wäre dann ein Bürger, vor dem man sich vorsehen muss. Er könnte ja zu Aufsässigkeit neigen.

Dass es darum gehe, den in Not Geratenen beizustehen, ist das Mantra der Sozialstaatsfreunde. In Wahrheit dient nur der kleinste Teil des gewaltigen Sozialbudgets noch dem „Schutz und der Daseinshilfe in Notlagen“, wie es im Rechtslexikon heißt. Wenn es eine Lebensleistung gibt, für die die Nachkriegslinke uneingeschränkt Kredit beanspruchen kann, dann den Umbau des Sozialstaats von einer Grundsicherung gegen die großen Schadensfälle des Lebens zum umfassenden Für- und Nachsorgesystem.

Auf 14 Bücher und 5784 Seiten bringt es die aktuelle Ausgabe des Sozialgesetzbuchs, die Magna Charta des deutschen Wohlfahrtsstaats. Wie viele Versorgungswege über die Jahre gegraben wurden und welche Ergebnisse der Umverteilungsapparat im Einzelnen erzielt, kann niemand seriös sagen. Vollends den Überblick verliert, wer den Versuch unternimmt, die Transferströme innerhalb eines deutschen Durchschnittshaushalts zu erfassen. Dort haben sich die Negativtransfers, also alle Gehaltsabzüge und Steuerzahlungen, mit den Positivtransfers des Sozialstaats so verknäult, dass nicht einmal der Haushaltsvorstand weiß, ob er am Ende nun draufzahlt oder nicht.

Im Grund braucht es Soziallotsen, um sich zurechtzufinden, das ist die Konsequenz. Ich bin bei der Zeitungslektüre darauf gestoßen, dass sich allein im Verantwortungsbereich der Bundesfamilienministerin Lisa Paus 150 verschiedene familienpolitische Leistungen angesammelt haben. Frau Paus wurde sehr dafür gescholten, dass sie von dem Geld, das sie für die Kindergrundsicherung losgeeist hat, erst einmal Beamte einstellen will. 5000 neue Stellen will sie schaffen, damit die Hilfsgelder auch bei bedürftigen Familien ankommen. Aber das liegt in der Logik des Sozialstaats: Ohne Fachberatung läuft nichts.

Kein Wunder, dass viele das Gefühl haben, sie kämen zu kurz. Ein System, das darauf ausgelegt ist, ständig neue Sozialleistungen zu erfinden, muss zu schlechter Laune führen. Mit jeder weiteren Leistung verstärkt sich das Gefühl, dass man etwas übersehen hat, was man auch noch hätte beantragen können, wenn man nur die Zeit finden würde, sich noch eingehender mit den Details zu beschäftigen. Vielleicht sind die Deutschen deshalb so missmutig.

Es gibt noch Menschen, denen es der Stolz verbietet, beim Sozialamt vorstellig zu werden. Aber das ist eine Minderheit. Wer verschmäht, was ihm zusteht, gilt heute als Trottel. Es gibt eine ganze Industrie, die davon lebt, den Bedürftigen und allen, die es werden wollen, den Weg zu weisen. Oben sitzen die Sozialverbände, die jedes Jahr neue Horrorzahlen über die angeblich grassierende Armut veröffentlichen. Unten stehen die Berater, die den Leuten einreden, ja auf keinen Euro zu verzichten.

Beim mit Abstand größten Posten des Haushalts, dem Sozialbudget, wird selbstverständlich nicht gespart. Die Vorschläge konservativer Politiker, in der Haushaltskrise auch noch einmal über die Höhe des Bürgergelds nachzudenken, seien moralisch unverantwortlich, hat Arbeitsminister Hubertus Heil gesagt. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, heißt es bei Carl Schmitt. Ich weiß, Schmitt war ein schlimmer Finger. Aber die Lebenserfahrung lehrt, dass Vorsicht geboten ist, wenn es zu luftig wird. Wenn Politiker ins Moralfach greifen, sieht’s bei den handfesten Argumenten eher dünn aus.

Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums hat ebenfalls eine Berechnung zur Höhe des Bürgergelds vorgelegt. Demnach hat eine vierköpfige Familie in München inklusive Miete Anspruch auf 2732 Euro – im Durchschnitt. In der Spitze beträgt der „Mindestbedarf“ sogar 3333 Euro. Klar, München ist auch ein teures Pflaster. In Hamburg, Köln oder Düsseldorf sieht es allerdings nicht viel anders aus. Ich will ja nicht zu defätistisch klingen. Aber ich verstehe den Bäcker, der sich fragt, ob es sich wirklich lohnt, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, wenn es finanziell keinen großen Unterschied macht – Wohn- und Kindergeld hin oder her.

© Michael Szyszka

Was ist an den Unis los?

Warum gibt man seine Kinder an die Universität? Damit sie zu klügeren Menschen ausgebildet werden. Aber darauf ist immer weniger Verlass. Immer häufiger lernen sie, sich selbst und das, worauf diese Gesellschaft gründet, zu hassen

 Der „FAZ“-Redakteur Claudius Seidl hat in seiner Zeitung vom studentischen Leben an der Universität der Künste in Berlin berichtet. An der Hochschule werden 4000 Studenten in Design, Musik, Architektur und Bildender Kunst ausgebildet. Die UdK Berlin zähle zu den größten, vielseitigsten und traditionsreichsten künstlerischen Hochschulen der Welt, steht auf der Webseite.

Was Seidl zu beschreiben wusste, las sich allerdings so, als ob die Hochschule in Ramallah oder Gaza Stadt und nicht mitten in Berlin liegen würde. Jüdische Studenten trauten sich nicht mehr in Lehrveranstaltungen, weil sie von Kommilitonen als Mörder beschimpft würden. Die Universitätsleitung sei ratlos, wie sie dem offenen Hass entgegentreten solle.

Es gibt ein Video, auf dem man sieht, wie der Uni-Präsident Norbert Palz die Studenten zur Mäßigung aufruft. Kaum hat er das Wort ergriffen, wird er niedergeschrien. „Verurteile den Rassismus“, schleudern sie ihm in Sprechchören entgegen: „Verurteile den Kolonialismus“. Minutenlang geht das so, in einer schwarzen Choreografie der Wut. Palz hatte aus Sicht der Studenten den unverzeihlichen Fehler begangen, in einer offiziellen Stellungnahme den Terror der Hamas zu verurteilen, wie Seidl schreibt.

Kolonialismus, das ist das Stichwort. Als Neo-Kolonialist gilt in diesem Zusammenhang jeder, der eine falsche Hautfarbe hat (weiß), am falschen Ort geboren ist (westliche Industrienation) und die falsche Religion besitzt (Christentum, Judentum). Zu den kolonialen Opfern, die uneingeschränkte Solidarität verdienen, zählen hingegen alle, die man im weitesten Sinn als Indigene verstehen kann, wozu dann neben den Indianern im Amazonas, den Maori in Neuseeland oder den Aborigines in Australien auch bedrängte Völker wie die Palästinenser gehören.

In einem verrückten Twist lebt so der unverstellte Antisemitismus wieder auf. Der „Geldjude“ der Nazis erfährt seine Reinkarnation in der Figur des Wall-Street-Bankers, dem nun im Namen des Antikapitalismus der Kampf angesagt wird. Die weißen Sklavenhalter finden ihre Auferstehung im Feindbild des zionistischen Siedlers. Israel als Brückenkopf eines vom Westen gesteuerten kolonial-rassistischen Imperialismus: Das ist es, was den jungen Leuten beigebracht wird. Auf diese Pointe läuft es hinaus.

Kein Wunder, dass an vielen Hochschulen der Teufel los ist. Und das nicht nur an den amerikanischen Elite-Universitäten, in denen ein linker Mob jeden niederbrüllt, der zu weiß, zu privilegiert und zu wohlerzogen ist. Den antiwestlichen Furor gibt es auch in Deutschland zu besichtigen, wie sich zeigt. Und es ist nicht nur die Berliner Universität der Künste, an der sich der Hass austobt – ähnliches wird von einer Reihe deutscher Hochschulen berichtet.

Ich habe mich über die Auswüchse der neuen linken Heilslehre oft lustig gemacht. Ich habe über die Safe Spaces gespottet, die dafür sorgen sollen, dass Studenten einen Schutzraum vor fremden Meinungen finden. Ich habe die Triggerwarnungen belächelt, die Texten vorangestellt werden, die als zu anstößig empfunden werden könnten. Wenn selbst die Orestie von Aischylos mit einer Warnung versehen wird, ist Gelächter und nicht Empörung die angemessene Reaktion. Dachte ich.

Aber jetzt zeigt sich, dass die Ideologie, die in der akademischen Welt Einzug gehalten hat, eine finstere, bedrohliche Seite hat.Wenn sich Studenten nicht mehr in den Hörsaal trauen, weil sie Angst haben müssen, von ihren Kommilitonen bedrängt, beleidigt und bespuckt zu werden, ist definitiv der Punkt erreicht, an dem man einschreiten muss.

Es hat sich eingebürgert, im Zusammenhang mit der Uni-Kultur von „Wokeness“ zu sprechen. Aber das ist zu schwammig, auch zu harmlos. Es gibt einen theoretischen Unterbau des Hasses. Wer nach einer Erklärung sucht, warum junge Menschen ihre jüdischen Kommilitonen bedrohen, landet bei der sogenannten postkolonialen Theorie.

Wobei Theorie ein großes Wort ist. Tatsächlich ist es eine Art Gehirnwäsche, bei der Studenten beigebracht wird, dass der Rassismus das Fundament der westlichen Gesellschaften sei und das Denken in den Vernunftkategorien der Aufklärung nur ein Machtinstrument zur Sicherung der vermeintlichen Überlegenheit des Westens.

Bei Claudius Seidl berichtete eine Dozentin von einem Kurs, in dem es darum ging, dass man es mit dem entsprechenden indigenen Wissen schaffen könne, den Bäumen beim Sprechen zuzuhören. Als die Professorin entgegnete, das sei wohl eher eine Projektion, wurde sie zurechtgewiesen, wie kolonialistisch und rassistisch es sei, mit Begriffen eines weißen Mannes wie Sigmund Freud das indigene Wissen zu delegitimieren.

Selbstverständlich ist auch die Vorstellung, dass westliche Werte wie Toleranz und allgemeine Menschenrechte Gewaltreligionen wie die der Taliban überlegen sein könnten, Ausdruck kolonialistischen Denkens. Wenn die Taliban meinen, dass die Steinigung von Frauen im Einklang mit ihren Traditionen steht – wer sind wir, ihnen zu sagen, wie sie zu leben haben? Dass der Westen jede moralische Autorität eingebüßt habe, ist übrigens exakt das Argument, das man auch auf den Fluren der Vereinten Nationen rauf und runter hört. Mit dem Ergebnis, dass Folterknechte im Menschenrechtsrat den Ton angeben und Hamas-Sympathisanten das UN-Flüchtlingswerk für Palästina dominieren.

Die Frage ist, ob wir so weiter mitmachen wollen. Ob wir länger dulden wollen, dass unseren Kindern eingetrichtert wird, den Westen und seine Werte zu verachten.

Ich bin mir bewusst, das ist ein heikles Terrain. Die Freiheit der Lehre ist ein hohes Gut. Aber wir haben aus gutem Grund auch von der Rassenlehre Abstand genommen. Niemand unterrichtet mehr an deutschen Universitäten, dass eine Hautfarbe der anderen überlegen sei oder ein Geschlecht dem anderen. Warum also eine Theorie mit viel Geld ausstatten, die gegen alles steht, was die Grundlage unserer freiheitlichen Gesellschaft ausmacht?

Noch mag die Zahl der Lehrstühle vergleichsweise klein sein. Aber es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis die Zahl der Postkolonialisten an deutschen Hochschulen die der Slawisten oder Anglisten übersteigt. In der angelsächsischen Welt ist der Postkolonialismus, der die Welt in Opfer und Täter unterteilt, bereits die dominierende Lehre. Auch in Deutschland ist man als Student gut beraten, sich als gelehriger Schüler zu zeigen, wenn man etwas werden will. Postkolonialismus sei schlicht die am meisten geförderte Diskursmode im gegenwärtigen Kulturbetrieb, befand dieser Tage ein Kenner der Szene in der „Süddeutschen Zeitung“.

Am Dienstag saßen die Präsidentinnen von drei der prestigeträchtigsten Hochschulen der USA vor einem Kongressausschuss, der sich mit den Campus-Ausschreitungen gegen jüdische Studenten befasste. Die Abgeordnete Elise Stefanik aus New York hatte eine leicht zu beantwortende Frage an die Geladenen: „Verstößt der Aufruf zum Völkermord an Juden gegen den Verhaltenskodex und die Anti-Harrassment-Regeln Ihrer Universität, ja oder nein?“

Keiner der Hochschulvertreterinnen mochte die Frage mit „ja“ beantworten. Das hänge vom Kontext ab, erklärte Sally Kornbluth, Präsidenten des MIT. So lautete auch die Antwort von Claudine Gay aus Harvard: alles eine Frage des Kontextes. Nicht leicht zu sagen, aber wenn die Rede in konkretes Verhalten übergehe, könne das Harassment sein, führte Liz Magill, Präsidentin der University of Pennsylvania, aus. „Verhalten heißt: Man muss also erst einen Genozid begehen, damit es gegen die Regeln verstößt? Das ist ihre Antwort Miss Magill?“ war die fassungslose Reaktion der Abgeordneten.

Anfang des Jahres musste die Evolutionsbiologin Carole Hooven in Harvard ihren Platz räumen, weil ihr Beharren auf der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen von der Universitätsleitung als zu kontrovers empfunden worden war – auch daran wurde am Dienstag noch einmal erinnert. Das ist die Lage an amerikanische Elite-Universitäten: Die öffentlich geäußerte Meinung, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, gilt als nicht hinnehmbarer Ausdruck von Gewalt, weil sie Studenten in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigen könnte, der Aufruf, alle Juden auszulöschen, hingegen nicht.

Wir sollten dafür Sorge tragen, dass es an deutschen Hochschulen nicht bald auch so aussieht. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

© Sören Kunz

Der Hasardeur

Viele denken, das Haushaltsdebakel der Regierung sei ein Versehen. Aber was, wenn der Verfassungsbruch einem Muster folgt? Wenn Olaf Scholz in Wahrheit ein Mann ist, der enorme Risiken eingeht, weil er sich für überlegen hält?

 Vielleicht haben wir uns alle in Olaf Scholz getäuscht. Vielleicht ist er gar nicht der, der er zu sein vorgibt.

Die Scholz-Erzählung geht so: Junge aus ordentlichen Verhältnissen beschließt mit zwölf Jahren Bundeskanzler zu werden, wird nicht ernst genommen und erreicht dann zur Überraschung aller dank Hartnäckigkeit sein Ziel.

Andere mögen besser aussehen oder charismatischer sein oder eloquenter. Aber im Gegensatz zu den Blendern und Aufschneidern in der Politik ist auf ihn Verlass: Das ist das Bild, das Scholz von sich zeichnet. So verbreiten es seine Leute.

Dazu passt das Äußere. Die Anzüge, nicht zu modisch, aber auch nicht zu billig. Die Aktentasche von Bree, die noch aus der Referendariatszeit stammt. Und natürlich der rasierte Kopf. Vielen verleiht der kahle Schädel etwas latent Bedrohliches, bei Scholz signalisiert die Glatze nur: wieder Geld für den Friseur gespart. Gegen Scholz wirkt sogar ein Glas Wasser aufregend. Wenn er die Augenbraue verzieht, gilt das schon als Sensation.

Aber was, wenn das alles nicht stimmt? Wenn sich hinter der demonstrativen Biederkeit ein Trickser und Täuscher verbirgt, der immer wieder ans Limit geht und darüber hinaus?

Anruf bei Fabio De Masi, dem Mann, der seit Langem der Meinung ist, dass Scholz nicht der ist, für den ihn die meisten halten. Dreimal saß De Masi dem Bundeskanzler gegenüber. Dreimal ging es um die Frage, ob man Olaf Scholz trauen kann.

Vor drei Monaten hat der Finanzexperte Strafanzeige gegen den Kanzler gestellt, wegen Falschaussage im sogenannten Cum-Ex-Skandal. Falschaussage ist keine Kleinigkeit. Bei Verurteilung drohen bis zu fünf Jahren Gefängnis.

Nun gut, lässt sich einwenden: Einer von der Linkspartei, was soll man da schon erwarten? Aber erstens gehörte De Masi nie zu den Ideologen, weshalb er seine Partei vergangenes Jahr auch verlassen hat. Und zweitens bescheinigen ihm selbst seine Gegner einen ausgeprägten detektivischen Scharfsinn.

Ich habe die Cum-Ex-Geschichte nie ernst genommen. Ein Skandal, den man nicht in zwei Sätzen erklären kann, ist in der Politik keiner. Bei Cum-Ex ist ja nicht mal klar, wie man es korrekt ausspricht, geschweige denn, was es bedeutet. Deshalb ist die Sache über die Wirtschaftsteile der Zeitungen auch kaum hinausgekommen.

Aber ein Kanzler, der lügt, das versteht jedes Kind. Dazu muss man keine Ahnung von den Windungen des Steuerrechts haben. Richtig erzählt ist es ein Krimi.

Die Geschichte beginnt wie viele Affären ganz klein, mit einer Anfrage der Linkspartei-Fraktion an den Senat der Hansestadt Hamburg. In Hamburg geht das Gerücht um, der Warburg-Banker Christian Olearius habe bei Steuerproblemen Schützenhilfe von oben erhalten. Gab es in der Sache Gespräche von Olearius mit Mitgliedern der Stadtregierung, insbesondere dem langjährigen Bürgermeister Olaf Scholz? Das ist die Frage der Abgeordneten.

Die Frage ist nicht nur politisch brisant. Ein Bürgermeister, der Einfluss auf ein Steuerverfahren nimmt, macht sich möglicherweise der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig. Das wäre der strafrechtliche Aspekt.

Die Antwort des Senats fällt eindeutig aus. Es habe keine Treffen gegeben, weder mit Scholz noch mit anderen Mitgliedern des Senats. Aber wie das manchmal so ist in der Politik: Was als letztes Wort gedacht war, ist der Anfang einer viel größeren Sache. Bei einer Hausdurchsuchung fällt der Staatsanwaltschaft ein Tagebuch des Warburg-Bankers in die Hände. Und was findet sich dort? Ein länglicher Eintrag über ein Treffen mit Scholz in dessen Amtszimmer am 10. November 2017.

Wie kann das sein? Das fragt sich auch De Masi, der für die Linke zu diesem Zeitpunkt im Bundestag sitzt. Also kommt es zur ersten Begegnung im Finanzausschuss des Parlaments, die Presse hat inzwischen ebenfalls Witterung aufgenommen. Ja, sagt Scholz bei diesem Auftritt, er habe Olearius getroffen, aber das sei ein völlig normaler Vorgang. Und, gab es weitere Treffen?, fragt de Masi. Nichts, was über das hinausgehe, was man bereits der Presse habe entnehmen können, antwortet Scholz.

Auch das lässt sich nicht lange halten. In dem vermaledeiten Tagebuch finden sich zwei weitere Begegnungen, eine im September und eine im Oktober 2016. Wieder wird Scholz vor den Finanzausschuss zitiert. Er habe sich lediglich die Sicht der Dinge von Christian Olearius angehört, gibt Scholz dieses Mal zu Protokoll. Er sei in solchen Fragen ausgesprochen vorsichtig, er stelle höchstens Nachfragen und nehme keinen Standpunkt ein.

Scholz hat zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ genaue Erinnerung an den Ablauf des Gesprächs, wie man sieht. Von Erinnerungslücken ist keine Rede. Die kommen erst sieben Monate später, als er vor einem Untersuchungsausschuss in Hamburg aussagen muss. Da kann er sich plötzlich an nichts mehr erinnern, weder an die Treffen, noch an den Inhalt derselben.

Nicht mal sein Auftritt vor dem Finanzausschuss des Bundestags ist ihm plötzlich erinnerlich. „Konkret an die Sitzung des Ausschusses und seinen Verlauf kann ich mich nicht erinnern“, sagt der Mann, der bei anderer Gelegenheit selbst die Umstände eines 40 Jahre zurückliegenden Besuchs im Freibad Rahlstedt-Großlohe abrufen kann.

Bleibt die Frage, warum die Senatskanzlei ursprünglich erklärte, es habe nie ein Treffen gegeben, wenn es in Wahrheit sogar drei Treffen gab. Antwort des Scholz-Sprechers Steffen Hebestreit auf eine entsprechende Anfrage des „Hamburger Abendblatts“: Dass Scholz sich mit Olearius getroffen habe, gehe aus dem Kalender des Ersten Bürgermeisters hervor, der auch der Senatskanzlei vorgelegen haben müsste. „Wieso dies bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht berücksichtigt worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis.“

Ab jetzt wird es erst absurd und dann lächerlich. Ein Sprecher des Senats sagt, man habe im Büro Scholz nachgefragt, wie es sich denn mit den Terminen verhalten habe, aber keine Antwort erhalten. Und den Kalendereintrag, auf den sich Hebestreit in seiner Antwort an das „Hamburger Abendblatt” bezieht, den gibt es gar nicht. So sagt es jedenfalls Scholz bei seiner Befragung in Hamburg aus.

Huch, kein Eintrag? Ja, heißt es nun, der Termin sei im Outlook-Kalender leider nicht vermerkt. Als Scholz als Finanzminister nach Berlin gewechselt sei, habe es bei der Überspielung der Daten ein technisches Problem gegeben. Deshalb seien einige Termine im Kalender versehentlich überschrieben worden, darunter auch der vom 10. November 2017. Wo eigentlich das Treffen mit Olearius hätte stehen müssen, klaffe ein Loch.

Genau hier setzt die Strafanzeige an. Wenn es nicht einmal eine schriftliche Spur in Form eines Termineintrags gibt – wie kann Scholz dann bei seiner ersten Befragung einen Termin bestätigen, an den er, wie er anschließend vor dem Untersuchungsausschuss in Hamburg ausführt, keinerlei Erinnerung besitzt? Hat er die ursprüngliche Erinnerung an den angeblich nicht existenten Termineintrag also erfunden? Das ist denklogisch unmöglich, wie De Masi zu Recht folgert.

Bleibt nur die Erklärung, dass dem Kanzler, der sich bei anderer Gelegenheit mühelos an Schwimmbadbesuche im Jahr 1983 erinnern kann, das Gespräch mit dem bedrängten Banker in seinem Büro sehr wohl bis heute präsent ist, er also die Erinnerungslücken nur vortäuscht. Das allerdings wäre nach Strafgesetzbuch Paragraf 153 strafbar.

Ein Kollege, der Scholz neulich in kleinem Kreis erlebte, schilderte einen Mann, der auf seltsame Weise mit sich zufrieden scheint, so als habe er an dem Tag, als er Kanzler wurde, alles erreicht. Das wäre eine Pointe: Ein Bundeskanzler, dem es völlig egal ist, was jetzt noch kommt, weil sich sein Lebenstraum bereits erfüllt hat.

Der ehemalige Abgeordnete De Masi beschreibt Scholz als einen Zocker, der bereit ist, große Risiken einzugehen, weil er sich allen überlegen fühlt und deshalb glaubt, auch mit allem durchzukommen.

Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was beim mächtigsten Mann im Land bedenklicher ist.

© Silke Werzinger

Der Bürgergeld-Wahnsinn

Ein Gehalts-Check zeigt, welche Berufe beim Bürgergeld nicht mehr mithalten können: Altenpfleger, Bäcker, Bürokaufmann, Kellner, Kassierer, Kfz-Mechaniker sind schon mal raus. Und zum 1. Januar steht die nächste Erhöhung an.

 Ich habe mit einer Bekannten, die eher links steht, über das Bürgergeld gesprochen. Sie ist nicht Linkspartei-links. Mehr so wohlfühl-links, wie die meisten, die ich kenne. Sie würde niemals über Friedrich Merz ein gutes Wort verlieren. Sie hätte dann das Gefühl, sie hätte etwas Schlimmes getan, was man selbst mit lebenslangem Besuch im Bio-Markt und einem ganzjährigen Flugbann nicht wiedergutmachen könnte.

In einem unserer Telefonate berichtete sie von einer Freundin, die vor drei Jahren einen Briten geheiratet hat, der sich als Faulpelz und Nichtsnutz erwies. Das hätte die Freundin möglicherweise noch hingenommen, aber dann stellte sich heraus, dass er auch noch ein Fremdgeher war. Inzwischen leben die beiden getrennt. Wie so oft bei Scheidungsgeschichten ist das leider nicht das Ende. Jetzt geht es um das Sorgerecht für den Sohn.

Der Mann lebt von Bürgergeld, obwohl er streng genommen gar kein Bürger ist und auch nie war. Er kann bis heute lediglich einen britischen Pass vorweisen, aber darüber sehen die Behörden freundlicherweise hinweg. Auch ansonsten ist der Staat großzügig. Zweimal im Jahr fährt unser junger Freund zur Kur, weil er Erholung braucht vom Hartz-IV-Leben, wie er seinem Umfeld per WhatsApp fröhlich mitteilt. Selbstverständlich lässt ihn der deutsche Staat auch im Sorgerechtsstreit nicht im Stich. Den Anwalt für die Auseinandersetzung mit seiner Frau zahlt das Sozialamt.

Das ist die Situation, wie sie sich meiner Bekannten darstellt: Die Freundin muss als Krankenschwester mit einem kleinen Kind sehen, wie sie über die Runden kommt, während der Ex-Mann auf Kosten von Steuerzahlern wie ihr die Rechtsstreitigkeiten in die Länge zieht. Auf meine Bekannte hat diese Naherfahrung mit dem deutschen Bürgergeldstaat einen nachhaltigen Effekt. Sie redet jetzt wie Friedrich Merz. Als ich sie darauf hinwies, lachte sie nervös. Dann sagte sie länger nichts.

Unter den Leuten, die Bürgergeld beziehen, sind viele anständige Menschen, das soll hier nicht unterschlagen werden. Jeder kann straucheln und nicht mehr auf die Beine finden. Manchmal reicht eine Krankheit oder ein Unfall, dass man erst die Arbeit verliert und dann den sozialen Halt. Dafür ist das Bürgergeld gedacht: als Hilfe für Leute, die sich nicht selbst zu helfen wissen.

Aber neben diesen bedauernswerten Gestalten gibt es eine Menge Nutznießer, denen man durchaus zumuten könnte, sofort eine Arbeit aufzunehmen. Sie sind allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht lohnt, morgens aufzustehen und das Haus zu verlassen. Stattdessen setzen sie darauf, dass andere aufstehen und die Arbeit machen, die sie selbst nicht erledigen wollen.

Dummerweise ist die Zahl dieser Cleverle inzwischen so groß, dass sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vor zwei Wochen gezwungen sah, beim Finanzminister 3,25 Milliarden Euro zusätzlich anzumelden, das heißt zusätzlich zu der Rekordsumme von 24 Milliarden Euro, die bereits im Haushalt für das Bürgergeld geplant sind. Und das ist nur der Nachschlag für dieses Jahr.

Heil begründete das mit den gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreisen. Aber alle, die sich auskennen, wissen, dass dies geflunkert ist. Wegen der Inflation wurde das Bürgergeld ja bereits deutlich angehoben. Daran kann es also nicht liegen, dass der Arbeitsminister mit dem Geld nicht auskommt.

Wenn man die Zeitungsseiten aufschlägt, gibt es nur den unverschuldet in Not Geratenen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als die Hartz-IV-Welt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Wobei das ist nicht ganz richtig: Korrekterweise müsste man von der in Not Geratenen sprechen.

Man kann die Uhr danach stellen, bis in einer Diskussion die Alleinerziehende auftaucht. Die Alleinerziehende ist so etwas wie die Madonna des deutschen Sozialstaats, die alle anrufen, wenn sie noch mehr Geld loseisen wollen. Wer mag schon Nein sagen, wenn ihr bedauernswertes Schicksal erwähnt wird? So wurden die Bürgergeld-Sätze seit Antritt der neuen Bundesregierung gleich zweimal erhöht, um insgesamt 25 Prozent.

Auch dem Bundesarbeitsminister dämmert, dass die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Nur jemand, der lediglich den Wirtschaftsteil der „Zeit“ liest, kann annehmen, dass es keinen Einfluss auf die Arbeitsmoral hat, wenn man jede Lohnerhöhung in den Schatten stellt. Vergangene Woche saß Hubertus Heil bei „Hart aber fair“ und richtete einen flehenden Appell an alle, die mit dem Gedanken spielen, ihren Job zu quittieren. Man müsse bescheuert sein, seine Arbeit aufzugeben, um stattdessen Bürgergeld zu beantragen, sagte Heil. Ich habe mich immer gefragt, wie das berühmte Pfeifen im Walde klingt. Jetzt weiß ich es.

Man muss nicht bescheuert sein, man muss nur rechnen können. Ein Paar mit zwei Kindern hat Anspruch auf 2311 Euro im Monat – so geht es aus einer Übersicht des Finanzministeriums hervor, die die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ veröffentlichte. Zum 1. Januar steigt das Bürgergeld noch einmal, auf 2502 Euro. Das entspricht dann einem Bruttogehalt von 3320 Euro im Monat.

Man kann sich beim Gehaltscheck im Netz schnell einen Überblick verschaffen, welche Berufe da noch mithalten können. Altenpfleger, Arzthelfer, Bäcker, Buchhalter, Bürokaufmann sind schon mal raus. Außerdem: Einzelhandelskaufmann, Grafikdesigner, Hotelfachmann, Kellner, Kassierer, Kfz-Mechaniker, Logopäde, Maler, Zahntechniker, Physiotherapeut. Selbst der Architekt oder der Speditionskaufmann haben Mühe mitzuhalten, wenn man das durchschnittliche Bruttogehalt zugrunde legt.

Die Miete ist der Gamechanger. Für eine vierköpfige Familie setzt die Übersicht aus dem Finanzministerium derzeit 743 Euro an, und da ist die Heizung noch nicht mitgerechnet. In Großstädten wie München, Hamburg oder Düsseldorf kann die Beihilfe für eine angemessene Wohnung noch einmal deutlich höher liegen.

Im neuen Bürgergeld-Gesetz ist festgelegt, dass der Staat im ersten Jahr die Miete sogar ganz übernimmt, egal, wie hoch sie sein mag. Auch eventuelle Ratenzahlungen für das Einfamilienhaus werden voll erstattet. Wer also ein Haus in Grünwald oder dem schönen Wiesbaden sein Eigen nennt, darf das Schreiben der Bank umstandslos ans Sozialamt weiterreichen. Man wolle den neuen Bürgergeld-Empfängern den Stress eines Umzugs ersparen, heißt es zur Begründung. So viel Rücksichtnahme wünschen sich normale Mieter auch mal.

Der Arbeitslose mit Villa in Grünwald ist nicht der Regelfall, schon klar. Wobei die Zahl der Bürgergeld-Empfänger, die Porsche fahren, in bestimmten Vierteln der Republik erstaunlich hoch ist. Aber es zeigt, in welche Richtung es geht. Die Juso-Jugend hat schon immer vom bedingungslosen Grundeinkommen geträumt, das ist der Heilige Gral. Mit dem Bürgergeld ist man dem Traum einen großen Schritt näher genommen.

Es kursieren jetzt alle möglichen Vorschläge, wie man die 60 Milliarden hereinholen könnte, die der Koalition plötzlich fehlen. Die Klimafreunde verweisen auf die Steuern, die der Staat jedes Jahr den Dieselfahrern erlässt. Oder auf die Stromsubventionen für die Schwerindustrie. Fair enough. Aber wenn wir schon beim Sparen sind, sollte man nicht wenigstens einmal über einen der größten Posten im Haushalt nachdenken? Ich sage es nur ungern, aber an einem Mangel an offenen Stellen liegt es jedenfalls nicht, dass derzeit 3,9 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter als bürgergeldberechtigt gemeldet sind.

Das soziale Gefüge einer Gesellschaft lebt davon, dass nicht jeder an die Grenzen dessen geht, was ihm theoretisch zusteht. Das setzt allerdings voraus, dass die Mehrheit das Gefühl hat, die anderen verhielten sich ähnlich anständig. Wenn sich der Eindruck verfestigt, dass derjenige der Dumme ist, der sich zurückhält, ist es mit dem Sozialen vorbei. Dann herrscht die Logik des kalten Buffets. Da stehen nie die Alten und Gebrechlichen vorne, sondern immer die Lauten und Vorlauten.

© Michael Szyszka

Die Linke ist im Eimer

Selbst in Medien, die der linken Sache nahe stehen, herrscht Fassungslosigkeit, dass viele Linke jede Solidarität mit Israel vermissen lassen. Die Bewegung steht vor der Spaltung

Solange ich denken kann, konnten Linke von sich behaupten, auf der richtigen Seite zu stehen. Wenn es etwas gab, das ich schon als Kind lernte, dann, dass sie ihren Gegnern vielleicht nicht immer zahlenmäßig, aber doch in jedem Fall moralisch überlegen waren. Den Linken war es zu verdanken, dass Armut und Ausbeutung nicht weiter um sich griffen. Sie waren zur Stelle, als es darum ging, Frauen aus dem Joch des Patriarchats zu befreien. Und natürlich waren es Linke, die Fremdenfeindlichkeit und Rassismus die Stirn boten. Dass sich Deutschland nach dem Fall in den Nationalsozialismus zu einer respektablen Demokratie gemausert hatte – alles im Prinzip ihr Verdienst.

Daher rührt auch der enorme ethische Kredit, den Linke bis heute für sich beanspruchen können. Gegen Hass und Hetze, für mehr Menschlichkeit und Miteinander – das ist das Credo, auf dem ihr Ruf gründet. Das muss sogar die Gegenseite zähneknirschend einräumen, wie sich bis in die Kritik zeigt.

Niemand käme je auf die Idee, Konservative als Gutmenschen zu bezeichnen, auch nicht in herabsetzender Absicht. Wer hätte je von einem Franz Josef Strauß erwartet, dass er sich stets einwandfrei verhalte? Da ist die Erwartung an Leute, die noch nachts um drei fehlerfrei aufzählen können, warum wir alle längst nicht inklusiv genug denken, naturgemäß größer.

Und nun? Selbst in Medien, die der linken Sache eng verbunden sind, herrscht Fassungslosigkeit, dass viele Vertreter jede Solidarität vermissen lassen, wenn es um Israel geht. Alles, was man bislang mit Linken an Werten verband, gerät ins Schwimmen.

Der Mitte der Gesellschaft ist der Antisemitismus, der sich unter dem „Free Palestine“-Banner austobt, zuwider. Das ist die gute Nachricht. Aber bei den Demonstrationen zum Schutz jüdischen Lebens sind vor allem Leute anzutreffen, die in der akademischen Welt nur noch als Witzfigur vorkommen: ältere, weiße Menschen ohne erkennbaren Migrationshintergrund. So war es in Paris am Wochenende, und so war es vor vier Wochen in Berlin. „Generation 45 plus“, sagte ein Freund, der dabei war. Wo sind die anderen?

Die moralische Selbstentleibung wird für das Renommee nicht ohne Folgen bleiben. Am Zerfall der Klimabewegung kann man sehen, was der Linken bevorsteht. Eine Bewegung, die Mordbrenner zu Befreiungskämpfern erklärt und Juden zum Weltbösewicht, ist bankrott, da helfen alle anschließenden Erklärungsversuche nichts.

Der deutsche Arm von Fridays for Future versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist, indem er sich von der Anti-Israel-Fraktion distanziert. Wenn die eigene Gründerin als Ober-Antisemitin auftritt, hilft allerdings die beste Dis- tanzierung nichts. Das ist wie bei einem Kinderschutzbund, dessen Chefin sich zur Pädophilie bekennt. Da bleibt am Ende nur der Austritt.

Der 7. Oktober hat die Linke kalt erwischt. „From the River to the Sea“ ist als Slogan seit Langem Bestandteil linker Demos. Aber solange die Pali-Freunde lediglich ihre Parolen skandierten, konnte man das als Maulheldentum abtun, als vielleicht missverständlichen, aber doch nachvollziehbaren Empörungsschrei eines bedrängten Volkes. Jetzt ist der Satz die verbale Blutspur, die zu den Massakern von Aschkelon und Sderot führt. Plötzlich sieht man, welche mörderische Energie in dem Auslöschungswunsch steckt, den man als Befreiungskampf verniedlichte.

Ein Teil der Linken versucht, sich aus der Affäre zu stehlen, indem er sein Programm abspult, als hätte sich der 7. Oktober gar nicht ereignet. Keine Wortmeldung mehr zum politischen Geschehen. Stattdessen werden Bilder von Lesungen, Preisverleihungen und Berggipfeln gepostet. Das hat in seiner Selbstbezüglichkeit etwas Bizarres.

Manches gerät unfreiwillig komisch. Wenn die Autorin Sophie Passmann 14 Tage nach dem Massaker an israelischen Ravern bekennt, dass sie nach wie vor ganz viele Fragezeichen und Leerstellen habe, weshalb sie sich keine wirkliche Meinung zutraue, ist man geneigt, diesen Post zur Seite zu legen für den Tag, an dem wieder ein Rockstar über die Stränge schlägt. Aber wahrscheinlich ist das Vergehen eines Till Lindemanns einfach viel leichter zu beurteilen als das eines Hamas-Kämpfers, der sich nicht lange mit K.-o.-Tropfen aufhält, sondern gleich die Waffe zückt, bevor er zur Tat schreitet. Der Nahe Osten ist halt wahnsinnig kompliziert, das muss man im Kontext sehen.

Es gibt auch einen Teil der Szene, der unbeirrt in seinem Israelhass weitermacht. Der weiter seine Gaza-Romantik auslebt, so als handele es sich bei der Hamas um eine etwas außer Kontrolle geratene Jugendgang und nicht um einen Todeskult. Der von Widerstandsbewegung faselt und Genozid an den Palästinensern und sich überschlägt in dem Bemühen, die israelischen Soldaten zu den eigentlichen Tätern zu erklären. Aber das ist der kleinere Teil. Der größere zieht den Kopf ein.

Dass diese Szene nur auf den richtigen Moment wartet, wieder gegen ihre Gegner loszuschlagen, sah man am Wochenende, als sie ihren Antifaschismus entdeckte, um auf Leute loszugehen, die ein entschiedeneres Vorgehen gegen Judenhass fordern. Anlass bot der Ausschnitt eines Streitgesprächs zwischen den britischen Journalisten Piers Morgan und Douglas Murray, in dessen Verlauf Murray die Hamas mit der SS verglich und dann anmerkte, dass die Hamas ihre Taten im Gegensatz zu den Nazis öffentlich feiern würde.

Das war eine Überdrehung, die viele, die eben noch in der Furche lagen, sofort nutzten, um allen, die das Video geteilt hatten, Holocaust-Verharmlosung vorzuhalten. Dass sich unter denen, die des Geschichtsrevisionismus bezichtigt wurden, auch Politiker wie Karin Prien befanden, die schleswig-holsteinische Kultusministerin, die aus einer jüdischen Familie stammt: egal. Es war schon immer eine der belieb- testen Übungen linker Deutscher, Juden zu erklären, wes- halb sie aus dem Holocaust offenbar nichts gelernt haben.

In Teilen der Linken herrscht Panik, das erklärt möglicherweise die Aggressivität. Was soll ein Professor, der seinen Studenten bis gestern noch beigebracht hat, dass die Nachfahren der europäischen Sklavenhändler heute die weißen, jüdischen Siedler seien, nun sagen? Der Journalist Gideon Böss hat nicht zu Unrecht die Frage gestellt, ob man nicht die „die antisemitische Irrlehre“ der postkolonialen Theorie an den Universitäten verbieten müsse, so wie man ja auch die Lehre der Nürnberger Rassengesetze irgend- wann nicht mehr akzeptieren wollte.

Oder stellen Sie sich vor, Sie hätten als Genderforscherin ihre ganze Karriere auf der Exegese der Schriften von Judith Butler aufgebaut, einer Frau, für die der 7. Oktober nur eine Salve in einem größeren Kampf ist und die Hamas eine soziale Bewegung. Die Karriere sieht plötzlich sehr viel weniger glänzend aus.

Es geht auch um viel Geld. In Berlin hat der neue Kultursenator gerade einem Kulturzentrum die Gelder gestrichen, das regelmäßig Antisemiten ein Podium bietet. Die Bundeszentrale für politische Bildung zieht sich von einer Konferenz zurück, in der wieder einmal der Holocaust kontextualisiert werden soll, wie das so schön heißt. Komplettes Unverständnis in der Szene. Das sei Zensur, hieß es in der „taz“.

Man ist inzwischen so daran gewöhnt, für jeden Unsinn den Steuerzahler anzupumpen, dass es bereits als Zensur gilt, wenn die öffentliche Hand nicht mit Subventionen zur Stelle ist, um jede linke Amsel querzufinanzieren, die den Terror dekonstruieren will. Die Veranstaltung in Berlin darf selbstredend weiter stattfinden, nur eben ohne staatliches Sponsoring.

Gibt es auch Linke, deren moralischer Kompass intakt ist? Aber ja gibt es die, und es sind zum Glück nicht wenige. Am klarsten haben sich die Grünen an die Seite der Juden in Deutschland gestellt. In keiner Partei ist gleichzeitig der Zuspruch zur Unterstützung Israels so groß.

Viel wird jetzt davon abhängen, wie ernst es den Grünen mit dem Engagement ist. Keine Partei war bislang auch so großzügig bei der Alimentierung der postkolonialen und postmigrantischen Szene, die Israel für den letzten real existierenden Apartheidsstaat hält. Ganze Existenzen gründen auf den Zuwendungen der Böll-Stiftung und der angrenzenden Netzwerke. Wenn die Grünen darangehen sollten, den Geldhahn zuzudrehen, dann stehen viele antisemitische Ich-AGs vor dem Aus.

© Sören Kunz

Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass etwas folgt. Was lernt der deutsche Hamas- Anhänger, wenn er der Regierung ins Gesicht lacht? Dass er machen kann, was er will

 Der Bundeskanzler hat der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer zum Geburtstag gratuliert. Am Sonntag ist Frau Friedländer 102 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass schrieb Olaf Scholz auf Twitter beziehungsweise X, wie die Plattform jetzt heißt: „Margot Friedländer weiß um die Anfänge des barbarischen Regimes im Nationalsozialismus und was daraus folgte. Es ist ein großes Glück, dass sie heute wieder in Deutschland lebt und das ‚Nie wieder‘ mit Leben füllt.“

Keine Ahnung, welcher Trottel den Twitteraccount des Kanzlers betreut. Aber besser hätte man die Lage der Juden in Deutschland nicht zusammenfassen können: Man freut sich, dass sie da sind. Aber dafür, dass sich der Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholt, müssen sie schon selbst sorgen. Es wäre jedenfalls deutlich besser, es bliebe nicht einer Hundertjährigen überlassen, das „Nie wieder“ mit Leben zu füllen, sondern der deutsche Staat würde sich der Sache annehmen.

Die Politik überschlägt sich mit Versicherungen, dass man jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten werde, daran mangelt es nicht. Es gebe Null Toleranz für antisemitische und israelfeindliche Hetze, sagt die Innenministerin, das sei „die rote Linie“. Auch der Kanzler wiederholt unermüdlich, welche Bedeutung für ihn der Schutz jüdischen Lebens habe. Und dann? Dann ziehen am Wochenende Heerscharen enthusiastischer Hamas-Fans durch deutsche Innenstädte und zeigen, was sie von der roten Linie halten.

Man kann die Sache auch einfach laufen lassen, das ist ebenfalls eine Option. Der Aufruhr beschränkt sich bislang auf Städte, in denen der Anteil arabischstämmiger Menschen besonders groß ist – Berlin, Essen, Frankfurt, Düsseldorf. Auch in München gab es einen Umzug der Palästina-Freunde. Aber bevor jemand am Marienplatz die IS-Flagge schwenkt, muss noch einiges passieren.

Es sind auch nicht Hunderttausende, die laut rufend auf der Straße stehen. In Essen waren es 3000, in Berlin 8000. Es sieht nicht danach aus, als ob morgen schon das Kalifat anbrechen würde.

Aber es geht eine eindeutige Botschaft von den Demonstrationen aus: Wenn wir könnten, wie wir wollten, dann würden wir ganz andere Seiten aufziehen. Und auch der Adressat ist klar: Als Erstes sind die Juden dran, erst danach kommen die anderen.

Es ist ja kein Zufall, dass die Filialen von Starbucks attackiert werden. Der Starbucks-Gründer Howard Schultz ist jüdischen Glaubens, das reicht, um gegen die Scheiben zu spucken und die Gäste zu beschimpfen. Das Signal versteht jeder: Fühlt euch nicht zu sicher!

Ich bin dafür, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, wie sie sind. Am Ende geht es um die Frage, wen wir in Deutschland halten wollen: die Juden oder die antisemitischen Troublemaker. Darauf läuft es hinaus.

Der ehemalige Justizsenator von Hamburg Till Steffen und heutige Geschäftsführer der Grünen im Bundestag hat eine Antwort gegeben, die auch meine wäre: „Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen.“ Wenn ich mich nicht täusche, denken viele Menschen in Deutschland ähnlich.

Ich habe noch keine Umfragen gesehen, wie die Deutschen zu den „Free Palestine“-Demonstrationen stehen. Aber ich vermute, wenn sie die aufgeregten jungen Männer sehen, wie sie den Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin besteigen, um ihre Flagge zu hissen, sagen sich viele: „Mit diesen Leuten haben wir nichts zu schaffen und wollen es auch nicht.“

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass ihnen etwas folgt. Was lernt der junge Hamas-Anhänger, wenn er beschließt, der Bundesregierung ins Gesicht zu lachen und mit Gleichgesinnten um den Block zu ziehen?

Dass sein Verstoß gegen die Ermahnungen aus Berlin für ihn und seine Kumpane nachteilige Folgen hat? Nein. Er lernt, dass er ungehindert tun und lassen kann, was er will. Egal, ob er die Taliban-Flagge schwenkt oder Starbucks-Besucher bespuckt – es bleibt bei der Ankündigung, jetzt, aber jetzt auch wirklich durchzugreifen und so etwas nicht mehr zu dulden.

Ich bin neulich auf einen Satz von Helmut Schmidt gestoßen: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist.“ SPD-Kanzler Schmidt hat das nach dem Überfall der Befreiungskämpfer der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm gesagt.

Wir sind noch nicht wieder so weit, dass der Staat durch Geiselnahmen oder Anschläge herausgefordert wird. Bislang beschränkt sich die Drohung, den Staat aus den Angeln zu heben, auf wilde Ankündigungen.

Aber für Leute, die jüdisch sind, klingt das bedrohlich genug. Wenn die jüdische Gemeinde in München die Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ darum ersucht, die Zeitung in einem neutralen Umschlag zu verschicken, damit nicht ersichtlich ist, wer die Abonnenten sind, bekommt man eine Vorstellung, wie die Stimmungslage ist.

Was also bietet sich an? Man kann das Versammlungsrecht einschränken, wenn die begründete Annahme besteht, dass aus einer Demonstration heraus Straftaten begangen werden. Man kann die Strafen für Volksverhetzung (Paragraf130 StGB) und die Billigung von Straftaten (Paragraf140 StGB) heraufsetzen. Man kann auch mal die Polizei in Marsch setzen.

Was spricht dagegen, einen Kessel zu bilden und die Demonstranten einer Personenfeststellung zuzuführen, wenn wie in Essen verbotene Symbole gezeigt werden?

Ich habe dieser Tage eine Mail von einem Polizeibeamten aus Nordrhein-Westfalen erhalten. Wo denn der Wasserwerfer sei, wenn man ihn brauche, hatte ich in einem Kommentar bei „Welt TV“ gefragt. Die Frage könne er mir gerne beantworten, schrieb er mir: „Im Carport.“ Die meisten Einsatzleiter seien der Meinung, dass Wasserwerfer nicht mehr in die Zeit passten. Ich war als Student in Hamburg bei einer Reihe linksradikaler Demos dabei. Ich kann nur sagen, dass ein Wasserwerfereinsatz eine durchaus ernüchternde Wirkung auf die Beteiligten hat.

Es gehe darum, die Trauer auf die Straße zu tragen, heißt es aus der muslimischen Community. Wenn es denn um Trauerbekundungen ginge! In Berlin zeigten Videoaufnahmen einen Mann, der mit einem selbst gebastelten „Free Palestine“-Schild zu den Demos erschienen war. Allerdings hatte er den Slogan um einen kleinen Zusatz ergänzt: „Free Palestine from Hamas“. Das reichte, um ihm den Zugang zu verwehren. Kaum waren Aktivisten seiner ansichtig geworden, schoben sie ihn rüde zur Seite.

Noch ist es zu früh, um die Parolen über die rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft wieder hervorzukramen. Aber es dauert nicht mehr lange, bis es so weit ist. In einer Reihe angesehener Blätter finden sich die ersten Texte, warum die eigentlichen Antisemiten nicht unter Muslimen zu finden seien, sondern unter Rechtsradikalen. Den Anfang machte die „Spiegel“-Redakteurin Özlem Topcu mit einem Leitartikel, dass die wahre Gefahr von Rechtsextremisten ausgehe.

In der „taz“, dem linken Zeitungsprojekt aus Berlin, verstieg sich ein Autor zu der These, dass Deutschland nicht deshalb ein Problem mit muslimischem Antisemitismus habe, weil wir zu großzügig bei der Einwanderung aus arabischen Ländern waren. Nein, im Gegenteil: Es gebe so viel Antisemitismus unter Muslimen, weil wir die Leute nicht schnell genug eingebürgert hätten. Judenhass als Reflex gegen eine zu restriktive Einwanderungspolitik: Das ist zumindest originell.

Die Bundesregierung will die Einbürgerung erleichtern. Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde vom Kabinett im August auf den Weg gebracht. Vielleicht sollte man im Lichte der Ereignisse noch einmal darüber nachdenken, ob das wirklich so schlau ist. Man kann auch über einen Entzug der Staatsbürgerschaft nachdenken, sicher. Aber es ist sehr viel einfacher, jemanden den Stuhl vor die Tür zu setzen, der noch nicht im Besitz eines deutschen Passes ist.

Wie sagte Till Steffen: Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen. Wenn wir weiter nichts tun, wird’s genau andersherum kommen.

© Silke Werzinger

Was haben wir in Palästina verloren?

Milliarden an Euro hat die EU-Kommission nach Gaza und ins Westjordanland geschickt, genug um ein Singapur im Nahen Osten aufzubauen. Und jetzt? Es ist Zeit für die Frage, ob Europa sich nicht ganz zurückziehen sollte

 Zum Glück hängt die Sicherheit Israels nicht von deutscher Unterstützung ab. Die Sache sieht nämlich so aus: Die Israelis erhalten unseren moralischen Beistand, die anderen unsere finanzielle Zuwendung. Das mag etwas überspitzt sein, aber eben nur etwas.

Es ist nicht ganz einfach, sich einen Überblick über die Hilfsgelder zu verschaffen, die bei den Palästinensern landen. Es gibt so viele Förderprogramme und Fördertöpfe, da verliert man schnell die Orientierung.

Die Zahlen, die als gesichert gelten können, sind aber auch so abenteuerlich: 700 Millionen fließen allein aus EU-Mitteln in die Palästinensergebiete. Dazu kommen die Gelder diverser NGOs, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Leid der Bevölkerung zu lindern. Und dann sind da natürlich die Zuweisungen der Vereinten Nationen, über eine Milliarde Euro im Jahr.

Die UN unterhält sogar ein eigenes Flüchtlingswerk ausschließlich für die Palästinenser. Das ist einzigartig. Es gibt viele Gruppen auf der Welt, die es schwer haben. Aber keine Gruppe hat es so weit gebracht, dass die UN sich mit über 30000 Beschäftigten exklusiv nur um sie kümmert.

Und das Beste daran ist: Man muss nicht einmal selbst Vertriebener sein, um als anspruchsberechtigt zu gelten. Es reicht, dass man Großeltern hatte, die mal vertrieben wurden. So steht es in den Statuten des UNRWA. Als Flüchtlinge zählen alle, die aufgrund des arabisch-israelischen Krieges von 1948 ihre Lebensgrundlage verloren haben, sowie deren Kinder und Kindeskinder und Kindeskindeskinder. Von einer solchen Ewigkeitsgarantie hat Erika Steinbach immer geträumt: Vertriebener bis in die fünfte Generation.

Deutschland spielt als Finanzier eine zentrale Rolle. Die Bundesrepublik ist nicht nur der größte Nettozahler der EU. Ohne deutsche Gelder würde es auch bei den Vereinten Nationen sehr schnell sehr eng werden. Das Humanitäre steht im Auswärtigen Amt hoch im Kurs. Dagegen ist nichts zu sagen, man darf halt nicht so genau hinsehen.

Wer sich als Unkundiger für die Topografie von Gaza interessiert, der lernt zu seiner Überraschung, dass es nicht nur ein, sondern gleich zwei Gaza gibt: Das eine, das man sieht – Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser. Und ein anderes tief unter der Erde versteckt. 500 Kilometer Tunnelsystem umfasst diese Stadt unter der Stadt, inklusive Werkstätten, Krankenstationen und Rückzugsräumen für Tausende Hamas-Kämpfer.

Woher die Hamas all den Beton hat und den Stahl für Armierungen und die Technik für das ausgeklügelte Belüftungssystem? Ein Geheimnis, das auch den Experten im Auswärtigen Amt Rätsel aufgibt. Schließlich leben die Palästinenser in einem Freiluftgefängnis, so hört man es auf allen Kanälen. Gefängnisse haben es an sich, dass streng kontrolliert wird, was rein und was raus kommt.

Die EU-Kommission hat wiederholt versichert, dass von den vielen Milliarden Euro, die seit 1993, dem Beginn der Gespräche über eine Zwei-Staaten-Lösung, in das Westjordanland und den Gazastreifen geflossen sind, nichts in die Finanzierung des Terrors gegangen sei. Das könne man garantieren. So lautet auch die Erklärung der Bundesregierung: Kein Cent für die Hamas. Ist das nun Naivität oder bewusste Täuschung?

Es gibt ein eindrucksvolles Video, in dem Menschen die Wasserleitungen ausbuddeln, die eine der unzähligen NGOs verlegen ließ, damit auch durch Gaza frisches Wasser fließt. Dann schleppen sie die Leitungen in eine Waffenwerkstatt, wo sie in handliche Teile zerlegt und anschließend mit Sprengstoff gefüllt werden. Da das Video von der Hamas produziert wurde, darf man davon ausgehen, dass es sich nicht um israelische Propaganda handelt.

Auch die Kindergärten und Schulen, die das Flüchtlingswerk unterhält, dienen der Hamas. In einem anderen Video, das dieser Tage zirkuliert, berichtet die Anführerin der Hamas-Frauenorganisation, dass die Ausbildung der Jugend zum Dschihad fest in der Hand der Schwestern liege.

Das Gute am Palästinenser: Er gibt freimütig Auskunft, über das, was er vorhat. Darin ähnelt er seinem großen Vorbild, dem deutschen Reichskanzler Adolf Hitler. Auch der hat, wie man weiß, kein Blatt vor den Mund genommen. Die Welt zog es vor, seine Ankündigungen für Aufschneiderei zu halten, bis sie eines Besseren belehrt wurde.

Was der kleine Palästinenser in der mit deutschem Steuergeld finanzierten Schule lernt? Dass erst Friede auf Erden herrsche, wenn der letzte Jude und der letzte Christ vom Erdboden verschwunden seien, auf dass Allahs Sonne für immer über die Gläubigen scheine, Inschallah. Aber im Auswärtigen Amt in Berlin zieht man es vor, das für Übertreibungen zu halten.

Was hätte man mit dem Geld nicht alles machen können? 8,5 Milliarden Euro allein an EU-Geldern, das ist eine Stange Geld. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die Palästinenser hätten es nicht für Raketen und unterirdische Tunnel ausgeben, sondern für den Aufbau eines lebensfähigen Staates. Ein Singapur des Nahen Ostens hätte aus Gaza werden können, die Bahamas des Mittelmeers. Stattdessen funktioniert nicht mal die Kanalisation.

Alle schimpfen auf die Israelis, weil sie Wasser und Strom abgedreht haben. Niemand scheint sich zu fragen, warum man in Gaza überhaupt auf Wasser und Elektrizität aus Israel angewiesen ist. Selbstverständlich hat die internationale Gemeinschaft auch beim Bau moderner Entsalzungsanlagen sowie bei der Stromerzeugung geholfen. Das Elektrizitätswerk wurde leider versehentlich von der Hamas in die Luft geblasen. Die Entsalzungsanlage ist verrottet.

Wie es weiter geht? Die EU ringt um eine gemeinsame Linie. In den Zeitungen steht, dass sich Europa zum Affen mache, weil sich die führenden Leute nicht einigen können. Alles wahr. Die entscheidende Frage wird allerdings nie gestellt: Warum die EU überhaupt einen Staat finanziert, mit dem uns Europäer nichts aber auch gar nichts verbindet?

Wir haben mit dem Westjordanland und Gaza keine gemeinsame Grenze oder Geschichte. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache und teilen nicht dieselbe Kultur. Tatsächlich stehen uns die Palästinenser so nah wie die Aborigines in Australien. Kein Spanier oder Luxemburger oder Pole käme auf die Idee, den armen Menschen im Busch mit Milliarden unter die Arme zu greifen. Warum also den Palästinensern?

Anderseits: Wir machen ja auch bei der UN jeden Unsinn mit. Wenn der Vertreter Pakistans zu einer Schweigeminute für die „Opfer der israelischen Besatzung“ aufruft, erhebt sich auch die Abgesandte der Bundesrepublik, um den „Märtyrern“ des Befreiungskampfes ihre Reverenz zu erweisen. So wie wir uns auch brav der Stimme enthalten, wenn in der UN-Vollversammlung die Feinde des Westens eine Resolution einbringen, in der Israel dazu aufgerufen wird, sofort Frieden mit der Hamas zu schließen. Sich in dieser Situation an die Seite Israels stellen? Um Gottes willen, das könnte ja die Stimmen des Globalen Südens verärgern!

Die tschechische Verteidigungsministerin hat angekündigt, dafür eintreten zu wollen, dass Tschechien die Vereinten Nationen verlasse. Eine Organisation, in der Terroristen angefeuert würden, sei kein Platz für ein Land, das sich der Durchsetzung von Menschenrechten verpflichtet fühle. Zu so einem Schritt werden wir in Deutschland in hundert Jahren nicht in der Lage sein. Wir drücken uns lieber an den Rand und geben das dann als klare Linie aus.

Ab November übernimmt übrigens der Iran, also das Regime, das hinter dem Angriff vom 7. Oktober steht, das Frauen schlagen, vergewaltigen, foltern und ermorden lässt, weil sie einfachste Rechte verlangen, das gerade wieder geschworen hat, Israel vom Erdboden zu tilgen, den Vorsitz des „UN Human Rights Council Social Forum“. Hat man in Berlin ein Wort des Protests vernommen, ein Zeichen, dass man die Scharade nicht länger mitmachen will?

Es wäre alles zum Schreien komisch, wenn es nicht so abgrundtief traurig wäre.

© Michael Szyszka

Die Pro-Palästina-Verirrten: Hassen sich Linke und Schwule so sehr selbst?

Warum drücken linke Künstler und Studenten einer Bewegung die Daumen, die alles verachtet, wofür man links der Mitte steht? Verblendung? Selbsthass? Oder einfach Feigheit?

 An der Rosa Lila Villa, dem Zentrum der queeren Community in Wien, hängt eine Flagge. Es ist nicht die Regenbogenflagge, wie man denken sollte. Oder die Progress-Pride-Flagge, die neben dem Regenbogen noch eine Reihe weiterer Streifen enthält, um auch Intersexuelle und Non-Binäre einzubeziehen. Aus dem ersten Stock hängt die Flagge Palästinas, also jenes Terrorstaates, der für sich alles an Land beansprucht, was heute Israel ist.

Warum hängen schwule Aktivisten die Flagge eines Landes aus dem Fenster, in dem sie keine zehn Minuten unbeschadet überstehen würden, würden sie ihre sexuellen Neigungen offen zeigen?

Kaum eine Region der Welt ist für Schwule und Lesben so gefährlich wie die arabische, von Transmenschen gar nicht zu reden. Eine Reihe arabischer Länder haben ihre Gesetze in den letzten Monaten noch einmal verschärft. In Jordanien hat das Parlament gerade ein Cybercrime-Gesetz verabschiedet, dass die „Anstiftung zur Unsittlichkeit” unter drakonische Strafen stellt. Im Irak wird diskutiert, ob man für Homosexualität nicht die Todesstrafe einführen sollte. Auch in Gaza ist jede Form der gleichgeschlechtlichen Liebe selbstverständlich verboten.

Wenn es ein Symbol bräuchte für alles, was auf der Linken schiefläuft, dann ist es die Palästinaflagge vor dem schwulen Zentrum in Wien. Dass auch hierzulande viele arabische Männer nichts von Frauen- oder Minderheitenrechten halten, ist keine Überraschung. Aber auf den Straßen stehen ja nicht nur junge Araber, um ihre Solidarität mit der Hamas zu bekunden. Neben ihnen laufen junge, weiße Mittelschichtskinder, um aus Leibeskräften „Free Palestine” zu rufen, so als gelte es, die Vertreibung der eigenen Großeltern gleich mit rückgängig zu machen.

„Von der Maas bis an die Memel” heißt heute „From the River to the Sea”. Das ist familiär eingeübt, könnte man sagen. Trotzdem bleibt die Frage, weshalb sich progressiv eingestellte Menschen im Westen lieber mit ihren potenziellen Schlächtern solidarisieren als mit Leuten, die sie in ihrem Emanzipationsbestreben immer unterstützt haben? Der „taz“-Redakteur Jan Feddersen spricht von einem Fall von „Politpathologie”. Die Hinzuziehung psychiatrisch geschulten Personals ist bei der Suche nach einer Erklärung keine schlechte Idee. Aber es gibt einen ideologischen Kern, das sollte man nicht übersehen.

Die große ideologische Klammer heißt Antikolonialismus. Nach den Genderwissenschaften hat kein Fach eine solche Karriere hingelegt wie die „Postcolonial Studies”. An nahezu jeder Uni, die etwas auf sich hält, kann man sich inzwischen in dieses Fach einführen lassen.

Für eine Theorie, die sich berufen fühlt, zu allen politischen Fragen Stellung zu beziehen, ist es misslich, dass ihr Untersuchungsgegenstand als historisch erledigt betrachtet werden kann. England, Spanien, Portugal – die Zeit der großen Kolonialreiche liegt lange zurück. Also hat man sich auf die Suche nach einem aktuellen Beispiel gemacht und ist dabei auf Israel verfallen, als letzte Bastion weißen Überlegenheitsdenkens.

Dass Israel auch ethnisch weitaus diverser ist als viele Gesellschaften, in denen man jetzt gegen Israel demonstriert, wird großzügig übersehen. Es gibt in Israel Juden aus Äthiopien, Mali und dem Jemen. 1,9 Millionen Israelis sind gar keine Juden, sondern Muslime. „Schluss mit Apartheid und Siedlerkolonialismus”, lautet dennoch die Parole. Auch die Postkolonialisten träumen von einer Ein-Staaten-Lösung: einem Staat, in dem Israel nicht mehr existiert.

In dieser Welt gilt Hamas selbstredend nicht als Terrorsekte, sondern als revolutionäre Kraft. „Es ist ungemein wichtig, dass wir Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen verstehen, die progressiv sind und damit Teil der globalen Linken”, lautet ein bekanntes Zitat von Judith Butler, einer der Vordenkerin der intersektionalen Linken.

Dass auch Butler in Gaza nichts zu lachen hätte, sei nur nebenbei angemerkt. Jüdisch und lesbisch, das ist eine besonders schlechte Kombination, wenn man in Direktkontakt mit den Befreiungskämpfern der Hamas tritt. Möglicherweise ist es eine spezifische Form des Selbsthasses, der sich hier ausdrückt.

Viele haben sich gefragt, wie es sein kann, dass junge Menschen, die eine ordentliche Schulbildung durchlaufen haben, vor dem Auswärtigen Amt sitzen, um „Free Palestine from German Guilt” zu skandieren. Die Rede vom Schuldkult hielt man doch für eine rechte Obsession. Zur Entschuldigung der jungen Menschen muss man sagen: Sie haben eben gut zugehört bei ihren Professoren an der Humboldt-Uni.

Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht nur für Rechte ein Ärgernis, sondern auch für viele Linke. Dass die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS („Boycott, Divestment, Sanctions”) in Deutschland nie so Fuß fassen konnte wie in Spanien oder Großbritannien, liegt auch daran, dass es in Teilen des politischen Establishments immer noch ein Bewusstsein dafür gibt, was die Deutschen den Juden angetan haben.

Parallel zur Antikolonialismusforschung ist deshalb eine eigene Profession entstanden, die darauf abzielt, den Judenmord zu relativieren. Einer der Köpfe ist der Australier Anthony Dirk Moses, der die Einzigartigkeit des Holocaust einen „Glaubenssatz“ nennt, den es abzulegen gelte. Auch hierzulande gibt es Vertreter dieser Relativierungszunft, angeführt vom Hamburger Professor Jürgen Zimmerer. Bei ihm ist nicht von „Fetischisierung” des Holocaust die Rede, sondern von einer unseligen „Fixierung” – gemeint ist dasselbe.

Muss man sich zu den Verbrechen der Hamas äußern? Das ist eine ganz andere Frage. Nein, muss man nicht, wäre meine Antwort. Es gibt auch das Recht, nichts zu sagen. Das unterscheidet Demokratien von Systemen, in denen man ständig gezwungen ist, sich zu positionieren. Aber wenn Leute, die ansonsten bei jeder Gelegenheit eine Protestnote verfassen, plötzlich ganz still sind, dann darf man das ebenfalls als Meinungsbekundung verstehen.

Der „Welt”-Reporter Frédéric Schwilden hat vor ein paar Tagen bei einer Reihe bekannter Polit-Influencer angefragt, ob sie ihm für einen Aufruf gegen Judenhass ein oder zwei Sätze schicken könnten. Bis auf Diana zur Löwen und Luisa Neubauer hatten alle leider gerade etwas anderes zu tun.

„Leider können wir aus zeitlichen Gründen Ihrer Nachfrage nicht nachkommen”, antwortete das Management von Marius Müller-Westernhagen. „Sophie Passmann ist momentan auf Tour unterwegs”, schrieb die Agentur der bekannten Feministin. „Leider werden die beiden nicht dabei sein können“, erklärte die Agentur von Felix Lobrecht und Jasmina Kuhnke.

Gut, kann man sagen: Springer, mit denen wollen viele nicht reden. Aber die seltsame Sprachlosigkeit ist nicht nur dem „Welt”- Reporter aufgefallen. Auch in der „taz” hat man sich Gedanken gemacht, warum ausgerechnet ein Milieu, in dem Haltung zeigen als oberste Tugend gilt, jetzt so schweigsam ist.

Sind Leute wie Marius Müller-Westernhagen oder Jasmina Juhnke Antisemiten? Vermutlich nicht. Es ist bei vielen schlicht Feigheit, die sie davon abhält, ein klares Wort zu finden. Man wolle die Friends und Allies nicht vor den Kopf stoßen und einen Boykott der Künstler und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden riskieren, erklärte ein Theatermacher dem Redakteur der „taz”, als der wissen wollte, was der Grund für das kollektive Stillhalten sei.

Vielleicht muss man doch noch einmal daran erinnern, wovon wir reden. Wir reden von Schwangeren, denen bei lebendigem Leib der Fötus aus dem Bauch geschnitten wurde. Wir reden von 15-jährigen Mädchen, die so brutal vergewaltigt wurden, dass ihr Becken brach. Wir reden von Eltern, die zusehen mussten, wie ihren Kindern die Augen ausgestochen wurden, und von Kindern, die erlebten, wie man erst Mutter und Vater mit Benzin übergoss und anzündete, bevor sie selbst an die Reihe kamen.

Die neue, linke Theorie der Israelfeindlichkeit ist eine furchtbare Verirrung. Sie ist ein Gift, das alles verdirbt, was mit ihr in Berührung kommt. Am Ende bleibt dort, wo ein Herz war, nur ein schwarzes Loch.

© Sören Kunz

Sind die Falschen gekommen?

Der Kolumnist dachte lange, ein friedliches Miteinander der Kulturen sei möglich. Jetzt ertappt er sich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht doch die Leute recht haben, die immer sagten, wir würden die Falschen ins Land lassen

 Aus dem Polizeibericht der Stadt Berlin von Sonntag, dem 15. Oktober: „Gestern Vormittag alarmierte eine Zeugin gegen 11.00 Uhr die Polizei zu einem Studentenwohnheim an der Lehrter Straße in Moabit. Zuvor stellte sie im Eingangsbereich des Wohnhauses einen mit roter Farbe aufgemalten Davidstern in der Größe von 30 x 30 cm fest…“

„…gegen 13.00 Uhr gestern Mittag erhielt die Polizei Kenntnis von drei Sachbeschädigungen am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Die dazu entsandten Einsatzkräfte stellten dort an den Fassaden dreier Wohnhaus Davidsterne mit zugehörigen hebräischen Wörtern fest. Die Einsatzkräfte machten die Farbschmierereien unkenntlich…”

„…Abends, gegen 18.45 Uhr stellten Einsatzkräfte der Polizei in Friedrichshain israelfeindliche Graffiti fest…”

„… gegen 20.30 gestern Abend stellten Polizeieinsatzkräfte auf dem Gehweg der Corinthstraße in Friedrichshain zwei auf eine Rampe zur barrierefreien Überwindung des Bordsteins gemalte Davidsterne fest…”

„…gegen 22.15 riefen Zeugen die Polizei zum U-Bahnhof Pankstraße in Gesundbrunnen. Dort bemerkten sie vorher mehrere israelfeindliche Aufkleber und einen pro-palästinensischen Schriftzug an einem Geldautomaten…”

„…im weiteren Verlauf der polizeilichen Maßnahmen stellten die Polizisten eine Farbschmiererei an der Fassade eines Mehrfamilienhauses am Planufer fest. Dabei handelte es sich um einen durchgestrichenen Davidstern mit einem daneben befindlichen Schriftzug. Symbol und Schriftzug, in den Größen von ungefähr 80 x 60 cm sowie 120 x 45 cm, machten die Einsatzkräfte unkenntlich.”

Und so weiter und so fort. Und das ist, wie gesagt, nur der Bericht vom Sonntag.

Ich bin ein eher heiter gestimmter Mensch, wie Leser meiner Kolumne wissen. Mein Motto auf Twitter lautete bis vor wenigen Tagen: „Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben”, ein Satz des österreichischen Volksdramatikers Johann Nestroy. Ich habe den Satz gelöscht. Er entspricht nicht mehr meiner Geistesverfassung.

Ich dachte immer, wir bekommen das hin: ein relativ friedliches Miteinander der Kulturen. Jetzt ertappe ich mich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht vielleicht doch die Leute recht haben, die immer davor warnten, wir würden die Falschen ins Land lassen.

Es sind ja nicht nur ein paar arabische Jugendliche, die auf der Straße ihre Verachtung für Israel zur Schau stellen. Dahinter steht ein fest gefügtes Milieu, in dem es zum guten Ton gehört, Juden für das Unglück der Welt zu halten, weshalb man ihnen auch Dinge antun darf, die sich ansonsten verbieten.

Es lässt sich auch nicht mehr so einfach in den Griff bekommen. Ein Freund hat ein Kind an einer Schule im Berliner Wedding. Vor zwei Monaten sah der Sohn zufällig, dass im Geografiebuch des Klassenkameraden der Staat Israel mit Filzstift unkenntlich gemacht worden war. Weil ihm der Vater eingebimst hatte, dass man gegen Antisemitismus aufstehen müsse, wandte sich das Kind an die Lehrkraft. Er solle keinen Aufstand machen, sagte der Lehrer, das bringe alle nur in Schwierigkeiten. Ein Einzelfall? Nein. So sieht die Realität an deutschen Schulen aus, wie jeder bestätigen kann, der sich auskennt.

Wir dachten, unsere Großzügigkeit würde uns mit Sympathie vergolten. Wer erst einmal die Vorzüge der freien Welt genossen habe, werde selbst zum Fürsprecher derselben. So dachten wir. Aber so ist es nicht gekommen.

Wir werden im Gegenteil dafür verachtet, dass auch Frauen so leben können, wie sie wollen; dass es Schwulen und Lesben erlaubt ist, ihre Zuneigung zu zeigen; dass Minderheiten wie die Transmenschen unter dem Schutz des Staates stehen. Wenn wir ausnahmsweise einmal Härte gegen die Feinde unserer Ordnung zeigen, indem wir ihnen verbieten, aus Freude über den Mord an Unschuldigen auf der Straße zu tanzen, heißt es, wir wollten ein „Pogrom“ veranstalten.

Migration ist ein Nummernspiel. Solange die Zahl der Zuwanderer eine bestimmte Größenordnung nicht übersteigt, führt der einzige Weg, um es in der Aufnahmegesellschaft zu schaffen, über Integration. Wer sich der Anpassung verweigert, bleibt außen vor. Wenn hingegen die Einwanderer-Community, die man vorfindet, groß genug ist, entfällt der Integrationszwang.

Anpassung ist mit Veränderung verbunden, Veränderung bedeutet Stress. Warum sich Stress machen, wenn man ihn vermeiden kann? Also errichten viele eine Kopie der Welt, die sie zurückgelassen haben, wenn sie das können. Damit ändern sich allerdings auch für diejenigen, die schon vorher da waren, die Regeln des Zusammenlebens.

An vielen Schulen beträgt der Migrantenanteil inzwischen 40 Prozent, und er wird weiter steigen. Das hat nicht nur Folgen für die Akzeptanz der Werte, die wir für selbstverständlich hielten, es hat auch Auswirkungen auf das Bildungsniveau. Dass in Berlin inzwischen nur zwei von fünf Achtklässler einfachste Rechen- und Textaufgaben bewältigen, liegt auch am wachsenden Anteil von Schülern, die nie richtig lesen und schreiben gelernt haben.

Wer es sich leisten kann, bringt sich in Sicherheit. Entweder schickt er seine Kinder auf eine Privatschule, wo die Welt noch in Ordnung ist, oder auf eine konfessionelle Einrichtung. Auch hier gibt es Muslime. Aber die stammen ausnahmslos aus Elternhäusern, in denen Antisemitismus als degoutant gilt und Leistungswille als lobenswert. Selbstverständlich hat sich über die Jahre eine migrantische Mittelschicht gebildet, wie die vielen arabischen und türkischen Namen in den Medien oder der Kultur zeigen, nur ist sie gemessen an der Zahl der Einwanderer zu klein.

Ich war lange optimistisch. Auch die Deutschen haben schließlich zur offenen Gesellschaft gefunden. Selbst aus beinharten Nazis wurden passable Demokraten. Sie mussten es allerdings auch werden, das ist möglicherweise der entscheidende Unterschied. In der frühen Bundesrepublik gab es einen Anpassungszwang, dem sich niemand, der etwas werden wollte, entziehen konnte.

Das ist heute anders. Es gibt nicht nur ein lokales Supportsystem, auf das man sich als Zuwanderer verlassen kann. Darüber hinaus besteht eine staatliche Infrastruktur, die jede Kritik als diskriminierend diffamiert, und jeden Aufruf, sich in der Schule zusammenzureißen, als rassistisch.

Vor ein paar Tagen machte ein Video die Runde, indem eine junge Deutsch-Palästinenserin anderen deutsch-palästinensischen Müttern empfahl, ihren Kinder rechtzeitig Begriffe wie „Apartheid”, „Kolonialismus” und „Besatzung” beizubringen. Dass die Frau wie die Jahrgangsbeste eines Antidiskriminierungsseminars redete, lag daran, dass sie Wort für Wort wiedergab, was in diesen Seminaren gelehrt wird.

Wie geht es weiter? Das Problem ist, dass Politiker überwiegend aus einem Milieu stammen, in dem Zureden noch immer geholfen hat. Es hat etwas Rührend-Komisches, wie sie an die Kraft von Bildungsprogrammen glauben. In Berlin hat man es fertig gebracht, sogar Islamisten mit Fördergeldern zuzuschütten, wenn sie dafür versprechen, mal einen Blick ins Grundgesetz zu werfen.

Was also ist zu tun? Ich wäre für radikale Aufklärung. Wer es ablehnt, einen Eid auf das Existenzrecht Israels abzulegen, kann nicht deutscher Staatsbürger werden. Zu viel verlangt? Nun ja. Wir hören schließlich ständig, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Da kann man von den Leuten, die Deutsche werden wollen, doch auch verlangen, dass sie diesen Satz unterschreiben.

Ich höre den Einwand: Da sagt doch jeder Opportunist einfach ja. Das stimmt, aber etwas mehr Opportunismus könnte nicht schaden. Auch die alten Nazis haben sich nicht aus Einsicht, sondern aus Konformismus gewandelt.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Unterstützer der palästinensischen Sache ihr Wut nicht auf die Straße tragen würden, wenn sie nicht die Türen ihrer jüdischen Nachbarn mit Davidsternen beschmierten, wenn sie nicht ihre Kinder dazu ermuntern würden, Andersdenkende auf dem Schulhof zu malträtieren.

Wie einer wirklich denkt, das kann man nie wissen. Das bleibt ihm überlassen. Aber wenn jeder seinen Hass für sich behielte, wäre schon viel gewonnen.

© Silke Werzinger