Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen heute allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. „Vertraut uns“, sagen sie. „Wir wissen am besten, wer Verfassungsfeind ist und wer nicht“
Sprache ist verräterisch. Wer sich seiner Sache nicht wirklich sicher ist, neigt zur Übertreibung. Indem man große Worte wählt, versucht man, Zweifel zu zerstreuen. Faustregel: Je markiger die Wortwahl, desto schwächer die Beweislage.
Dass eine Partei rechtsextrem sei, dürfte als Urteil reichen, sollte man meinen. Was gibt es Vernichtenderes als den Befund, jemand sei ein Verfassungsfeind? Aber nein, in den Medien firmiert die AfD als „gesichert rechtsextrem“. So als sei das Urteil TÜV-geprüft, damit die Leute auch wirklich von der Gefährlichkeit der AfD überzeugt sind.
Kein Beitrag, von der „Tagesschau“ abwärts, der auf den TÜV-Zusatz verzichtet. 3,5 Millionen Treffer weist Google in seiner Suchleiste aus. Einer der ersten Beiträge, den ich finden konnte, stammt vom Zentrum für Politische Schönheit. In einer Art Steckbrief bezichtigte das Künstlerkollektiv Alexander Gauland, „gesichert“ über Naziverbindungen zu verfügen.
Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet die AfD jetzt als „gesichert rechtsextremistisch“. Es hat sogar ein Gutachten erstellt, dessen Belege angeblich so vernichtend sind, dass man zu keinem anderen Schluss kommen kann. 1100 Seiten umfasst es, wie man hörte.
Leider konnte man das Gutachten nicht sehen, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Alles, was die Öffentlichkeit von offizieller Seite zu sehen bekam, war eine dürre Pressemitteilung, wonach die AfD gegen das Grundgesetz verstoße. Alles weitere musste man glauben. Vertraut uns, lautet die Botschaft der Behörde aus Köln-Chorweiler: Wir wissen es besser als ihr.
So etwas kannte man bislang nur aus den Anfangsjahren der Republik. Auf dem Höhepunkt der „Spiegel“-Affäre stellte sich Konrad Adenauer vor die Abgeordneten des Bundestags und verlangte, man solle die Beamten doch einfach mal in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Das war das Staatsverständnis, gegen das wenig später eine ganze Generation auf die Straße ging.
Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. Ironischerweise sind es heute vor allem die Grünen, die am vehementesten für einen Vertrauensvorschuss werben.
Dass niemand das Gutachten beim Verfassungsschutz einsehen kann? Die Männer und Frauen verrichten ihren Dienst zum Schutz der Demokratie: Wir sollten ihnen danken, statt ihre Urteilsfähigkeit anzuzweifeln. Was, Sie haben trotzdem Zweifel? Wer Misstrauen gegen die Sicherheitsorgane hegt, wird dafür wohl seine Gründe haben!
Um zu den einfach nachprüfbaren Fakten zurückzukommen: Der Verfassungsschutz ist keine unabhängige Instanz, wie behauptet wird. Er untersteht direkt dem Bundesinnenministerium und ist damit weisungsgebunden. Wenn die Bundesinnenministerin einen Bericht bestellt, darf sie erwarten, dass er umgehend auf ihrem Tisch liegt.
So ganz scheint auch das Bundesamt für Verfassungsschutz der Überzeugungskraft seiner Pressemitteilung nicht getraut zu haben. Deshalb ging das Gutachten aus interessierten Kreisen an den „Spiegel“ und die „Bild“. Der „Spiegel“ bietet sich als Verbreitungsorgan an. Hier arbeiten vor allem Redakteure, die sich selbst als kleine Verfassungsschützer sehen. Seit Mitte der Woche kursiert eine vollständige Kopie im Netz.
Ich habe mir die Belege angeschaut. Nach Lektüre fragt man sich: Und das muss „geheim“ gestempelt sein? Auch in Köln-Chorweiler ernährt man sich im Wesentlichen von Zeitungslektüre. Einiges von dem, was nun als Beleg für eine gesichert rechtsextreme Position gilt, fand sich außerdem eben noch bei führenden CDU-Politikern. Witzbolde haben umgehend ältere Clips ins Netz gestellt, in denen prominente Christdemokraten vor Multikulti und einer zu eilfertigen Aufgabe deutscher Leitkultur warnen.
Selbstverständlich gibt es in den Reihen der AfD Rassisten, Sexisten und Faschisten – und das bis in die Führungsetagen. Deshalb stößt die AfD ja bei der Mehrheit der Bürger auf Argwohn oder Abwehr. Aber man muss offenbar immer wieder in Erinnerung rufen, dass Meinungsfreiheit nicht bei Annalena Baerbock und Robert Habeck endet. Sie umfasst auch unziemliches und pöbelhaftes Reden. Ja sogar explizit fremdenfeindliche Auffassungen sind von ihr gedeckt. Die AfD ist eine dezidiert unbürgerliche Partei. Ein Teil der Funktionäre lehnt das System ausdrücklich ab, jede Zusammenarbeit mit den sogenannten Altparteien gilt als Verrat. Aber arbeiten nennenswerte Teile der AfD aktiv auf die Überwindung des Systems hin? Planen sie den Umsturz? Das ist die entscheidende Frage. Dafür wiederum ist die Beweislage erstaunlich dünn.
Was tun? Der ehemalige mecklenburgische Bildungsminister Mathias Brodkorb hat vor ein paar Monaten ein schmales Büchlein mit dem Titel „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ vorgelegt. Es ist in der Flut der Neuerscheinungen untergegangen, was bedauerlich ist, denn selten hat man eine so fundierte Kritik gelesen.
Falls jemand meint, der Autor tendiere möglicherweise selbst nach rechts: Die Angst kann ich ihm nehmen. Brodkorb ist aller Sympathie mit der AfD unverdächtig. Er ist nicht nur seit vielen Jahren SPD-Mitglied. Am Anfang seiner politische Karriere steht die Gründung des Onlineprojekts „Endstation Rechts“ zur Dokumentation rechtsextremistischer Umtriebe. Wenn der Mann also vor dem „Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ warnt, sollte man das ernst nehmen.
Brodkorb erinnert ihn seinem Buch daran, dass dieser Geheimdienst eine für westliche Demokratien ziemlich einmalige Einrichtung ist. Eine Behörde zur Überprüfung der politischen Gesinnung ihrer Bürger: Das gibt es in keinem anderen fortschrittlichen Land.
Zudem ist das Amt höchst fehleranfällig. Weil auch der Verfassungsschutz nicht an dem Grundsatz vorbeikann, wonach die Gedanken frei sind, muss er sein Augenmerk auf den Punkt legen, wo sich böse Gedanken zu bösen Absichten verdichten. Damit aber bewegt er sich ins Reich der Vermutungen, denn auch die raffinierteste Behörde der Welt kann nicht in die Herzen der Bürger sehen. Abwarten, bis man genauer weiß, ob einer nur wilde Reden schwingt oder es wirklich ernst meint, ist keine Option. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es ja gerade, tätig zu werden, bevor sich die Absicht zur Tat materialisiert.
Verteidiger werfen ein, dass der Verfassungsschutz keine reale Macht habe. Er kann missliebige Subjekte nicht festsetzen oder anklagen lassen. Aber das verkennt die politische Macht. Wer als Verfassungsfeind in den Jahresberichten oder Sondergutachten auftaucht, ist in der Regel erledigt. Und es gibt wenig, was man dagegen tun kann. Alle Versuche, sich gegen eine Nennung zu wehren, sind mit langwierigen Verfahren verbunden. Das Stigma bleibt.
„Das Gutachten des Verfassungsschutzes verschiebt jetzt eigentlich die Beweislast“, hat die Grünen-Politikerin Ricarda Lang vor wenigen Tagen im ARD-„Morgenmagazin“ erklärt. „Das heißt, diejenigen, die gegen eine Prüfung des Verbots sind, die müssen doch begründen, warum unsere Demokratie eine gesichert rechtsextreme Partei dulden sollte.“
Nennen Sie mich altmodisch, aber ich bin bis heute der Auffassung, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muss, sondern der Ankläger die Stichhaltigkeit seiner Vorwürfe.
© Michael Szyszka