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Die Pro-Palästina-Verirrten: Hassen sich Linke und Schwule so sehr selbst?

Warum drücken linke Künstler und Studenten einer Bewegung die Daumen, die alles verachtet, wofür man links der Mitte steht? Verblendung? Selbsthass? Oder einfach Feigheit?

 An der Rosa Lila Villa, dem Zentrum der queeren Community in Wien, hängt eine Flagge. Es ist nicht die Regenbogenflagge, wie man denken sollte. Oder die Progress-Pride-Flagge, die neben dem Regenbogen noch eine Reihe weiterer Streifen enthält, um auch Intersexuelle und Non-Binäre einzubeziehen. Aus dem ersten Stock hängt die Flagge Palästinas, also jenes Terrorstaates, der für sich alles an Land beansprucht, was heute Israel ist.

Warum hängen schwule Aktivisten die Flagge eines Landes aus dem Fenster, in dem sie keine zehn Minuten unbeschadet überstehen würden, würden sie ihre sexuellen Neigungen offen zeigen?

Kaum eine Region der Welt ist für Schwule und Lesben so gefährlich wie die arabische, von Transmenschen gar nicht zu reden. Eine Reihe arabischer Länder haben ihre Gesetze in den letzten Monaten noch einmal verschärft. In Jordanien hat das Parlament gerade ein Cybercrime-Gesetz verabschiedet, dass die „Anstiftung zur Unsittlichkeit” unter drakonische Strafen stellt. Im Irak wird diskutiert, ob man für Homosexualität nicht die Todesstrafe einführen sollte. Auch in Gaza ist jede Form der gleichgeschlechtlichen Liebe selbstverständlich verboten.

Wenn es ein Symbol bräuchte für alles, was auf der Linken schiefläuft, dann ist es die Palästinaflagge vor dem schwulen Zentrum in Wien. Dass auch hierzulande viele arabische Männer nichts von Frauen- oder Minderheitenrechten halten, ist keine Überraschung. Aber auf den Straßen stehen ja nicht nur junge Araber, um ihre Solidarität mit der Hamas zu bekunden. Neben ihnen laufen junge, weiße Mittelschichtskinder, um aus Leibeskräften „Free Palestine” zu rufen, so als gelte es, die Vertreibung der eigenen Großeltern gleich mit rückgängig zu machen.

„Von der Maas bis an die Memel” heißt heute „From the River to the Sea”. Das ist familiär eingeübt, könnte man sagen. Trotzdem bleibt die Frage, weshalb sich progressiv eingestellte Menschen im Westen lieber mit ihren potenziellen Schlächtern solidarisieren als mit Leuten, die sie in ihrem Emanzipationsbestreben immer unterstützt haben? Der „taz“-Redakteur Jan Feddersen spricht von einem Fall von „Politpathologie”. Die Hinzuziehung psychiatrisch geschulten Personals ist bei der Suche nach einer Erklärung keine schlechte Idee. Aber es gibt einen ideologischen Kern, das sollte man nicht übersehen.

Die große ideologische Klammer heißt Antikolonialismus. Nach den Genderwissenschaften hat kein Fach eine solche Karriere hingelegt wie die „Postcolonial Studies”. An nahezu jeder Uni, die etwas auf sich hält, kann man sich inzwischen in dieses Fach einführen lassen.

Für eine Theorie, die sich berufen fühlt, zu allen politischen Fragen Stellung zu beziehen, ist es misslich, dass ihr Untersuchungsgegenstand als historisch erledigt betrachtet werden kann. England, Spanien, Portugal – die Zeit der großen Kolonialreiche liegt lange zurück. Also hat man sich auf die Suche nach einem aktuellen Beispiel gemacht und ist dabei auf Israel verfallen, als letzte Bastion weißen Überlegenheitsdenkens.

Dass Israel auch ethnisch weitaus diverser ist als viele Gesellschaften, in denen man jetzt gegen Israel demonstriert, wird großzügig übersehen. Es gibt in Israel Juden aus Äthiopien, Mali und dem Jemen. 1,9 Millionen Israelis sind gar keine Juden, sondern Muslime. „Schluss mit Apartheid und Siedlerkolonialismus”, lautet dennoch die Parole. Auch die Postkolonialisten träumen von einer Ein-Staaten-Lösung: einem Staat, in dem Israel nicht mehr existiert.

In dieser Welt gilt Hamas selbstredend nicht als Terrorsekte, sondern als revolutionäre Kraft. „Es ist ungemein wichtig, dass wir Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen verstehen, die progressiv sind und damit Teil der globalen Linken”, lautet ein bekanntes Zitat von Judith Butler, einer der Vordenkerin der intersektionalen Linken.

Dass auch Butler in Gaza nichts zu lachen hätte, sei nur nebenbei angemerkt. Jüdisch und lesbisch, das ist eine besonders schlechte Kombination, wenn man in Direktkontakt mit den Befreiungskämpfern der Hamas tritt. Möglicherweise ist es eine spezifische Form des Selbsthasses, der sich hier ausdrückt.

Viele haben sich gefragt, wie es sein kann, dass junge Menschen, die eine ordentliche Schulbildung durchlaufen haben, vor dem Auswärtigen Amt sitzen, um „Free Palestine from German Guilt” zu skandieren. Die Rede vom Schuldkult hielt man doch für eine rechte Obsession. Zur Entschuldigung der jungen Menschen muss man sagen: Sie haben eben gut zugehört bei ihren Professoren an der Humboldt-Uni.

Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht nur für Rechte ein Ärgernis, sondern auch für viele Linke. Dass die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS („Boycott, Divestment, Sanctions”) in Deutschland nie so Fuß fassen konnte wie in Spanien oder Großbritannien, liegt auch daran, dass es in Teilen des politischen Establishments immer noch ein Bewusstsein dafür gibt, was die Deutschen den Juden angetan haben.

Parallel zur Antikolonialismusforschung ist deshalb eine eigene Profession entstanden, die darauf abzielt, den Judenmord zu relativieren. Einer der Köpfe ist der Australier Anthony Dirk Moses, der die Einzigartigkeit des Holocaust einen „Glaubenssatz“ nennt, den es abzulegen gelte. Auch hierzulande gibt es Vertreter dieser Relativierungszunft, angeführt vom Hamburger Professor Jürgen Zimmerer. Bei ihm ist nicht von „Fetischisierung” des Holocaust die Rede, sondern von einer unseligen „Fixierung” – gemeint ist dasselbe.

Muss man sich zu den Verbrechen der Hamas äußern? Das ist eine ganz andere Frage. Nein, muss man nicht, wäre meine Antwort. Es gibt auch das Recht, nichts zu sagen. Das unterscheidet Demokratien von Systemen, in denen man ständig gezwungen ist, sich zu positionieren. Aber wenn Leute, die ansonsten bei jeder Gelegenheit eine Protestnote verfassen, plötzlich ganz still sind, dann darf man das ebenfalls als Meinungsbekundung verstehen.

Der „Welt”-Reporter Frédéric Schwilden hat vor ein paar Tagen bei einer Reihe bekannter Polit-Influencer angefragt, ob sie ihm für einen Aufruf gegen Judenhass ein oder zwei Sätze schicken könnten. Bis auf Diana zur Löwen und Luisa Neubauer hatten alle leider gerade etwas anderes zu tun.

„Leider können wir aus zeitlichen Gründen Ihrer Nachfrage nicht nachkommen”, antwortete das Management von Marius Müller-Westernhagen. „Sophie Passmann ist momentan auf Tour unterwegs”, schrieb die Agentur der bekannten Feministin. „Leider werden die beiden nicht dabei sein können“, erklärte die Agentur von Felix Lobrecht und Jasmina Kuhnke.

Gut, kann man sagen: Springer, mit denen wollen viele nicht reden. Aber die seltsame Sprachlosigkeit ist nicht nur dem „Welt”- Reporter aufgefallen. Auch in der „taz” hat man sich Gedanken gemacht, warum ausgerechnet ein Milieu, in dem Haltung zeigen als oberste Tugend gilt, jetzt so schweigsam ist.

Sind Leute wie Marius Müller-Westernhagen oder Jasmina Juhnke Antisemiten? Vermutlich nicht. Es ist bei vielen schlicht Feigheit, die sie davon abhält, ein klares Wort zu finden. Man wolle die Friends und Allies nicht vor den Kopf stoßen und einen Boykott der Künstler und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden riskieren, erklärte ein Theatermacher dem Redakteur der „taz”, als der wissen wollte, was der Grund für das kollektive Stillhalten sei.

Vielleicht muss man doch noch einmal daran erinnern, wovon wir reden. Wir reden von Schwangeren, denen bei lebendigem Leib der Fötus aus dem Bauch geschnitten wurde. Wir reden von 15-jährigen Mädchen, die so brutal vergewaltigt wurden, dass ihr Becken brach. Wir reden von Eltern, die zusehen mussten, wie ihren Kindern die Augen ausgestochen wurden, und von Kindern, die erlebten, wie man erst Mutter und Vater mit Benzin übergoss und anzündete, bevor sie selbst an die Reihe kamen.

Die neue, linke Theorie der Israelfeindlichkeit ist eine furchtbare Verirrung. Sie ist ein Gift, das alles verdirbt, was mit ihr in Berührung kommt. Am Ende bleibt dort, wo ein Herz war, nur ein schwarzes Loch.

© Sören Kunz

Sind die Falschen gekommen?

Der Kolumnist dachte lange, ein friedliches Miteinander der Kulturen sei möglich. Jetzt ertappt er sich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht doch die Leute recht haben, die immer sagten, wir würden die Falschen ins Land lassen

 Aus dem Polizeibericht der Stadt Berlin von Sonntag, dem 15. Oktober: „Gestern Vormittag alarmierte eine Zeugin gegen 11.00 Uhr die Polizei zu einem Studentenwohnheim an der Lehrter Straße in Moabit. Zuvor stellte sie im Eingangsbereich des Wohnhauses einen mit roter Farbe aufgemalten Davidstern in der Größe von 30 x 30 cm fest…“

„…gegen 13.00 Uhr gestern Mittag erhielt die Polizei Kenntnis von drei Sachbeschädigungen am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Die dazu entsandten Einsatzkräfte stellten dort an den Fassaden dreier Wohnhaus Davidsterne mit zugehörigen hebräischen Wörtern fest. Die Einsatzkräfte machten die Farbschmierereien unkenntlich…”

„…Abends, gegen 18.45 Uhr stellten Einsatzkräfte der Polizei in Friedrichshain israelfeindliche Graffiti fest…”

„… gegen 20.30 gestern Abend stellten Polizeieinsatzkräfte auf dem Gehweg der Corinthstraße in Friedrichshain zwei auf eine Rampe zur barrierefreien Überwindung des Bordsteins gemalte Davidsterne fest…”

„…gegen 22.15 riefen Zeugen die Polizei zum U-Bahnhof Pankstraße in Gesundbrunnen. Dort bemerkten sie vorher mehrere israelfeindliche Aufkleber und einen pro-palästinensischen Schriftzug an einem Geldautomaten…”

„…im weiteren Verlauf der polizeilichen Maßnahmen stellten die Polizisten eine Farbschmiererei an der Fassade eines Mehrfamilienhauses am Planufer fest. Dabei handelte es sich um einen durchgestrichenen Davidstern mit einem daneben befindlichen Schriftzug. Symbol und Schriftzug, in den Größen von ungefähr 80 x 60 cm sowie 120 x 45 cm, machten die Einsatzkräfte unkenntlich.”

Und so weiter und so fort. Und das ist, wie gesagt, nur der Bericht vom Sonntag.

Ich bin ein eher heiter gestimmter Mensch, wie Leser meiner Kolumne wissen. Mein Motto auf Twitter lautete bis vor wenigen Tagen: „Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben”, ein Satz des österreichischen Volksdramatikers Johann Nestroy. Ich habe den Satz gelöscht. Er entspricht nicht mehr meiner Geistesverfassung.

Ich dachte immer, wir bekommen das hin: ein relativ friedliches Miteinander der Kulturen. Jetzt ertappe ich mich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht vielleicht doch die Leute recht haben, die immer davor warnten, wir würden die Falschen ins Land lassen.

Es sind ja nicht nur ein paar arabische Jugendliche, die auf der Straße ihre Verachtung für Israel zur Schau stellen. Dahinter steht ein fest gefügtes Milieu, in dem es zum guten Ton gehört, Juden für das Unglück der Welt zu halten, weshalb man ihnen auch Dinge antun darf, die sich ansonsten verbieten.

Es lässt sich auch nicht mehr so einfach in den Griff bekommen. Ein Freund hat ein Kind an einer Schule im Berliner Wedding. Vor zwei Monaten sah der Sohn zufällig, dass im Geografiebuch des Klassenkameraden der Staat Israel mit Filzstift unkenntlich gemacht worden war. Weil ihm der Vater eingebimst hatte, dass man gegen Antisemitismus aufstehen müsse, wandte sich das Kind an die Lehrkraft. Er solle keinen Aufstand machen, sagte der Lehrer, das bringe alle nur in Schwierigkeiten. Ein Einzelfall? Nein. So sieht die Realität an deutschen Schulen aus, wie jeder bestätigen kann, der sich auskennt.

Wir dachten, unsere Großzügigkeit würde uns mit Sympathie vergolten. Wer erst einmal die Vorzüge der freien Welt genossen habe, werde selbst zum Fürsprecher derselben. So dachten wir. Aber so ist es nicht gekommen.

Wir werden im Gegenteil dafür verachtet, dass auch Frauen so leben können, wie sie wollen; dass es Schwulen und Lesben erlaubt ist, ihre Zuneigung zu zeigen; dass Minderheiten wie die Transmenschen unter dem Schutz des Staates stehen. Wenn wir ausnahmsweise einmal Härte gegen die Feinde unserer Ordnung zeigen, indem wir ihnen verbieten, aus Freude über den Mord an Unschuldigen auf der Straße zu tanzen, heißt es, wir wollten ein „Pogrom“ veranstalten.

Migration ist ein Nummernspiel. Solange die Zahl der Zuwanderer eine bestimmte Größenordnung nicht übersteigt, führt der einzige Weg, um es in der Aufnahmegesellschaft zu schaffen, über Integration. Wer sich der Anpassung verweigert, bleibt außen vor. Wenn hingegen die Einwanderer-Community, die man vorfindet, groß genug ist, entfällt der Integrationszwang.

Anpassung ist mit Veränderung verbunden, Veränderung bedeutet Stress. Warum sich Stress machen, wenn man ihn vermeiden kann? Also errichten viele eine Kopie der Welt, die sie zurückgelassen haben, wenn sie das können. Damit ändern sich allerdings auch für diejenigen, die schon vorher da waren, die Regeln des Zusammenlebens.

An vielen Schulen beträgt der Migrantenanteil inzwischen 40 Prozent, und er wird weiter steigen. Das hat nicht nur Folgen für die Akzeptanz der Werte, die wir für selbstverständlich hielten, es hat auch Auswirkungen auf das Bildungsniveau. Dass in Berlin inzwischen nur zwei von fünf Achtklässler einfachste Rechen- und Textaufgaben bewältigen, liegt auch am wachsenden Anteil von Schülern, die nie richtig lesen und schreiben gelernt haben.

Wer es sich leisten kann, bringt sich in Sicherheit. Entweder schickt er seine Kinder auf eine Privatschule, wo die Welt noch in Ordnung ist, oder auf eine konfessionelle Einrichtung. Auch hier gibt es Muslime. Aber die stammen ausnahmslos aus Elternhäusern, in denen Antisemitismus als degoutant gilt und Leistungswille als lobenswert. Selbstverständlich hat sich über die Jahre eine migrantische Mittelschicht gebildet, wie die vielen arabischen und türkischen Namen in den Medien oder der Kultur zeigen, nur ist sie gemessen an der Zahl der Einwanderer zu klein.

Ich war lange optimistisch. Auch die Deutschen haben schließlich zur offenen Gesellschaft gefunden. Selbst aus beinharten Nazis wurden passable Demokraten. Sie mussten es allerdings auch werden, das ist möglicherweise der entscheidende Unterschied. In der frühen Bundesrepublik gab es einen Anpassungszwang, dem sich niemand, der etwas werden wollte, entziehen konnte.

Das ist heute anders. Es gibt nicht nur ein lokales Supportsystem, auf das man sich als Zuwanderer verlassen kann. Darüber hinaus besteht eine staatliche Infrastruktur, die jede Kritik als diskriminierend diffamiert, und jeden Aufruf, sich in der Schule zusammenzureißen, als rassistisch.

Vor ein paar Tagen machte ein Video die Runde, indem eine junge Deutsch-Palästinenserin anderen deutsch-palästinensischen Müttern empfahl, ihren Kinder rechtzeitig Begriffe wie „Apartheid”, „Kolonialismus” und „Besatzung” beizubringen. Dass die Frau wie die Jahrgangsbeste eines Antidiskriminierungsseminars redete, lag daran, dass sie Wort für Wort wiedergab, was in diesen Seminaren gelehrt wird.

Wie geht es weiter? Das Problem ist, dass Politiker überwiegend aus einem Milieu stammen, in dem Zureden noch immer geholfen hat. Es hat etwas Rührend-Komisches, wie sie an die Kraft von Bildungsprogrammen glauben. In Berlin hat man es fertig gebracht, sogar Islamisten mit Fördergeldern zuzuschütten, wenn sie dafür versprechen, mal einen Blick ins Grundgesetz zu werfen.

Was also ist zu tun? Ich wäre für radikale Aufklärung. Wer es ablehnt, einen Eid auf das Existenzrecht Israels abzulegen, kann nicht deutscher Staatsbürger werden. Zu viel verlangt? Nun ja. Wir hören schließlich ständig, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Da kann man von den Leuten, die Deutsche werden wollen, doch auch verlangen, dass sie diesen Satz unterschreiben.

Ich höre den Einwand: Da sagt doch jeder Opportunist einfach ja. Das stimmt, aber etwas mehr Opportunismus könnte nicht schaden. Auch die alten Nazis haben sich nicht aus Einsicht, sondern aus Konformismus gewandelt.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Unterstützer der palästinensischen Sache ihr Wut nicht auf die Straße tragen würden, wenn sie nicht die Türen ihrer jüdischen Nachbarn mit Davidsternen beschmierten, wenn sie nicht ihre Kinder dazu ermuntern würden, Andersdenkende auf dem Schulhof zu malträtieren.

Wie einer wirklich denkt, das kann man nie wissen. Das bleibt ihm überlassen. Aber wenn jeder seinen Hass für sich behielte, wäre schon viel gewonnen.

© Silke Werzinger

Wir müssen uns entscheiden

Wir Deutsche sind Meister im Lavieren. Wir versichern Israel unserer Solidarität – aber wir wollen es uns auch mit der Gegenseite nicht verscherzen. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit: entweder oder

 Es gibt Fragen, die will man nicht stellen. Man versucht ihnen auszuweichen, weil sie hart und brutal sind und keinen Platz für Zwischentöne lassen. Eine solche Frage lautet: Auf welcher Seite stehst Du?

Ich verstehe den Widerwillen. Niemand will gezwungen sein, sich zuordnen zu müssen, das beleidigt unseren Intellekt. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, sondern bunt und vielfältig. Aber manchmal ist sie eben doch schwarz-weiß. Dann muss man sich entscheiden, wo man hingehört, auf diese oder die andere Seite. Auch Lavieren ist dann eine Antwort. Und Relativierung.

Ich habe das schon einmal erlebt, vor 22 Jahren, als die Abgesandten von Osama bin Laden die Twin Towers in New York zum Einsturz brachten. Aus dem Leichenberg stieg noch der Rauch, da wandte man sich in Deutschland bereits der Frage zu, ob nicht die Amerikaner selbst schuld an ihrem Unglück seien. So was kommt von so was, lautete kurz gefasst die Antwort.

Bei Biolek saß der Nahostexperte Michael Lüders und erklärte die „Hassgefühle“ und die „Frustration“ der Muslime mit der „narzisstischen Kränkung“, die der Westen durch seine Politik verursacht habe. Roger Willemsen dozierte im Willemsenton über das „sublime Behagen“, nicht mehr „diesem Terror des Amüsements, der Albernheit“ ausgeliefert zu sein. Und im Berliner Haus der Kulturen diskutierte eine Runde über die „aggressive Symbolik“ der Türme als Wahrzeichen für Kapitalismus und Größenwahn. Ich werde manchmal gefragt, ob es einen Moment gegeben habe, der mich endgültig von den Linken entfremdet habe. Das war er.

Wir erleben wieder so eine Zeit, an dem es kein Aus weichen gibt. Wir sind trainiert darauf, allen Seiten unser Ohr zu schenken und Verständnis zu zeigen. Wir sagen, es gibt doch auch Grautöne. Nur: Wo sollen die Grautöne sein, wenn Männer und Frauen vor den Augen ihrer Kinder abgeschlachtet werden und Kinder vor den Augen ihrer Eltern? Wenn Babys geköpft werden und auf den Körper geschändeter Frauen uriniert wird?

Die Deutschen sind geübt darin, es sich mit niemandem zu verderben. Wir klammern uns an die Vorstellung, wir könnten mit allen gut Freund sein – mit den Iranern, die an der Bombe basteln, ebenso wie mit den Leuten, denen sie in Teheran nach dem Leben trachten. Deshalb beschwören wir auch die Solidarität mit Israel und überweisen gleichzeitig Millionen an deren ärgste Feinde. Wir nennen das wertegebundene Außenpolitik.

Wird es dieses Mal anders sein? Werden wir uns ausnahmsweise einmal durchringen, Farbe zu bekennen?

Der Bundespräsident hat die israelische Flagge vor dem Schloss Bellevue aufziehen lassen. Auch vor dem Reichstag und dem Kanzleramt weht der blaue Davidstern auf weißem Grund. Das ist eine schöne Geste, man soll sie nicht zu gering schätzen. Aber wichtiger als das Aufziehen von Flaggen wären Entscheidungen.

Es ist an der Zeit, dass wir ein paar Leute vor den Kopf stoßen. Angefangen mit den Vertretern der Muslimverbände, die immer die neueste Studie zur Hand haben, wie muslimfeindlich angeblich die deutsche Gesellschaft sei, aber jetzt nicht einen klaren Satz über die Lippen bekommen, wenn in Israel ganze Siedlungen ausgelöscht werden. Wer so versagt wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der kann kein geschätzter Gast mehr sein. Er hat sich entschieden, für die andere Seite.

Das gilt auch für die Imame und Moscheevertreter, die sich vor den Computer setzen und über das Widerstandsrecht des palästinensischen Volkes dozieren. Der wahre Aggressor sei Israel, erklärte am Wochenende der Berliner Imam Mohamed Matar, der eine von vielen Linken geschätzte „Begegnungsstätte“ in Neukölln unterhält. Begegnungsstätte? Warum nicht, aber künftig ohne deutsche Beteiligung. Beziehungsweise: mit deutscher Beteiligung, nämlich der des Verfassungsschutzes, aber ohne Repräsentanten der Stadt.

„Wir akzeptieren es nicht, wenn hier auf unseren Straßen die abscheulichen Attacken gegen Israel gefeiert werden”, hat der Kanzler gesagt. Auch das würde man gerne als Ankündigung einer neuen Entschiedenheit lesen. Wir werden nicht jeden des Landes verweisen können, der stolz die Videos ermordeter Juden herumzeigt. Aber wir können die Polizei anweisen, vom Schlagstock Gebrauch zu machen, wenn auf einer Demonstration der Judenhass gefeiert wird. Die Innenministerin kann übrigens auch palästinensische Vereinigungen verbieten, so wie sie rechtsextreme Vereine verboten hat.

Zu den erfreulichen Entwicklungen gehört, mit welcher Klarheit Regierungsvertreter wie Cem Özdemir, Kevin Kühnert oder der SPD-Außenpolitiker Michael Roth die Dinge beim Namen nennen. Aber das gilt leider nicht für alle, die im Dienste dieser Regierung stehen. Wenn die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sich in ihrer ersten offiziellen Äußerung nach dem 7. Oktober lieber mit Elon Musk und den Umgangsformen auf Twitter beschäftigt, statt mit den Hamas-Sympathisanten auf deutschen Straßen, dann ist das ebenfalls eine Botschaft, eine ziemlich klare sogar.

Israel ist weit entfernt. Aber wir sollten keinem Irrtum erliegen: Wenn die Islamisten mit den Israelis fertig sind, hören sie nicht auf. Es sind unsere Werte, die sie hassen und bekämpfen, die Liberalität und Freiheit und Offenheit des Westens. Nur weil wir in den letzten Jahren verschont geblieben sind, heißt das nicht, dass der Terror nicht auch uns wieder heimsuchen wird. Vor Ofakim und Sderot waren Berlin, Paris und Nizza die Austragungsstätten der islamistischen Terrorspiele. Haben wir das schon vergessen?

Man muss aufpassen, dass man sich nicht von der Wut hinweg tragen lässt. Auch das ist eine Lektion, die ich vor 22 Jahren gelernt habe. In einer WhatsApp-Gruppe, der ich mich am Sonntag angeschlossen habe, tauchte plötzlich der Name des Berliner SPD-Parteivorsitzenden Raed Saleh auf. Kann man einer Partei vertrauen, die einen Deutsch-Palästinenser an der Spitze hat, schwang als Frage mit. Wir sollten uns davor hüten, jemanden, nur weil er Palästinenser ist, für verdächtig zu halten.

Wird der Mann, der in einem Dorf im Westjordanland geboren wurde, anders auf den Konflikt im Nahen Osten sehen als jemand, der aus Israel stammt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Wird er im Gespräch mit Freunden die Netanjahu-Regierung verflucht haben? Vermutlich auch das. Aber das eine ist, gegen die israelische Siedlungspolitik zu sein – und etwas ganz anderes, zum Mord an unschuldigen Menschen zu schweigen. Wenn ich den sieben-jährigen Jungen sehe, der von den Schergen der Hamas malträtiert wird, dann sehe ich meinen Sohn. Ich hoffe, jedem Muslim in Deutschland geht es genauso.

Vielleicht bedeutet Solidarität ja ausnahmsweise wirklich einmal Solidarität. Aber ich ahne schon, wie es weitergeht. Mit jedem Tag wird die Zahl der Experten größer werden, die uns erklären, warum Israel nicht eskalieren dürfe.

Die „Süddeutsche Zeitung“ machte am Samstag den Anfang, als sie in einem Kommentar Benjamin Netanjahu zum Mitverantwortlichen erklärte, der die Lage jetzt sicher „ausnutzen“ werde. Das war vom Timing etwas unglücklich, weshalb man sich ein paar Stunden später gezwungen sah, redigierend einzugreifen. Aber am Sonntag saß dann schon wieder der unverwüstliche Nahostexperte Michael Lüders in seiner Rolle als Gabriele Krone-Schmalz des Iran in den „heute“-Nachrichten, um die arabische Seelenlage zu erläutern.

Ich habe auch nicht vernommen, dass sich die Hamburger Hochschule für Bildende Künste dazu durchgerungen hätte, sich von den beiden Documenta-Kuratoren zu distanzieren, die sie im Wintersemester als Gastprofessoren beschäftigte und die nun auf Instagram der Hamas applaudierten. Gut, kann man sagen: Was soll man von Leuten erwarten, die israelischen Soldaten in ihrer Kunst Schweinemasken aufsetzen, um sie zu entwürdigen?

Auch an der HFBK hat man sich entschieden, wo man steht. Selbstverständlich sei man gegen jede Form des Antisemitismus, hatte der Präsident Martin Köttering bei der Einstellung der beiden Documenta-Künstler erklärt. Jetzt darf man die Hochschule eine Auffangstätte für notorische Antisemiten nennen.

© Michael Szyszka

Niemand mag mehr die Grünen

Warum wählen so viele Leute grün? Weil die anderen es auch tun. Nicht das Programm, sondern vor allem der Opportunismus hat die Ökopartei stark gemacht. Jetzt geht es deshalb in die andere Richtung

 Ich habe viele Jahre die Grünen gewählt, erst als Akt der Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Meine erste Bundestagswahl war die von Helmut Kohl gegen Helmut Schmidt. Kohl kam selbstverständlich nicht infrage. Eher hätte ich mir die Hand abhacken lassen, als dass ich mein Kreuz bei der Union gemacht hätte. Da schlug meine sozialdemokratische Erziehung voll durch.

Schmidt wiederum erschien mir zu autoritär und überhaupt zu altbacken. Außerdem wollte ich es meinen Eltern zeigen. Da kamen die Grünen gerade recht.

Es gab einen Riesenstreit, als ich mit nach Brokdorf wollte, den Atomstaat in die Knie zwingen. Meine Mutter war strikt dagegen, sie begründete ihr Verbot mit der Sorge um meine Gesundheit. Ich hatte sie im Verdacht, heimlich mit der Atomlobby zu sympathisieren. Die Sozialdemokraten unter Schmidt waren noch große Fans der Kernenergie. Wäre es nach Schmidt gegangen, würde Deutschland heute 90 Prozent seiner Energie aus heimischen Meilern beziehen. CO₂-Probleme hätten wir jedenfalls keine mehr.

Später dann wählte ich die Grünen, weil alle es taten, die Kommilitonen an der Uni, die meisten Freunde und Bekannten und die Mehrzahl der Redakteure, auf die ich bei meinen Berufsstationen stieß, sowieso. Keine Partei erfreute sich schon damals unter Journalisten solcher Beliebtheit wie die Ökopartei.

Ich kann nicht genau sagen, wann ich den Grünen untreu wurde. Vermutlich bei der Wahl 2002, als Schröder gegen Stoiber stand. Schröder hatte Unterstützung verdient, wie ich fand. Ich habe danach noch einmal Merkel gewählt, bis ich bei der FDP hängen blieb. Die näheren Umstände sind mir heute nicht mehr erinnerlich, da geht es mir wie Aiwanger. Fortan war ich jedenfalls für die grüne Sache verloren.

Mein Eindruck war immer, dass viele für die Grünen stimmen, weil es die anderen auch tun. So lange ich denken kann, musste man sich nie in einer Talkshow dafür rechtfertigen, für die Grünen zu sein. Ein Bekenntnis für die CDU oder gar die Liberalen: Das konnte einen schnell in schwere See bringen. Aber als Grüner segelte man bei allen Diskussionen locker durch. Das war schon immer ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil.

Damit ist es vorbei. Am Sonntag saß ich im „Presseclub“, um über die Frage zu diskutieren, weshalb die Grünen so viel Wut auf sich ziehen würden. „Feindbild statt Volkspartei“, so lautete der Titel der Sendung.

Es gibt noch immer Milieus, in denen es völlig gefahrlos ist, sich zu den Grünen zu bekennen, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Synode der Evangelischen Kirche. Aber außerhalb dieser geschützten Welt kann es jetzt schon mal laut werden. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in einem Porträt der bayerischen Spitzenkandidatin Katharina Schulze geschrieben, wie „brutal“ der Wahlkampf war. Kaum begibt sich die Kandidatin aufs Land, ertönt ein Pfeifkonzert. Neulich flog sogar ein Stein.

Gut, da kann der altgediente Christdemokrat nur müde lächeln. Rohe und gekochte Eier sowie Tomaten jeden Reifegrads waren Jahre lang Standardrequisite eines Kohl-Auftritts. Es gibt einen herrlichen Video-Ausschnitt, wie der Kanzler der Einheit mit Mühe zurückgehalten werden konnte, einem Krakeeler, der sich mit Kohl-Beschimpfungen besonders hervorgetan hatte, eine Watschen zu verpassen. Aber für die Grünen ist die Ablehnung, die ihnen entgegenschlägt, dennoch eine große Sache.

Sie ist auch nicht ungefährlich. Den Grünen geht der Ruf voraus, in der Wolle gefärbte Ideologen zu sein, die ihr Programm durchziehen, koste es, was es wolle. Die beinharten Ideologen gibt es, sogar in deutlich größerer Anzahl als in anderen Parteien. Aber daneben stehen eben viele, die der Opportunismus zur Bewegung getrieben hat. Woher kommt die Wut? Ich äußerte im „Presseclub“ die Vermutung, dass die Ablehnung auch damit zusammenhängen könnte, dass die Grünen allen, die nicht ihre Überzeugungen teilen, das Gefühl vermitteln, etwas minderbemittelt zu sein. Wenn es eine Partei gibt, die gerne ins ganz hohe Fach greift, dann die Partei mit der Sonnenblume. Entweder wird das Klima gerettet oder der gesellschaftliche Zusammenhalt oder zumindest die Biene, darunter machen es Grüne nicht.

Natürlich geht es bei der Landtagswahl in Bayern auch nicht einfach um eine Landtagswahl, sondern um eine Richtungsentscheidung für unsere Demokratie. Wenn die Bayern am Sonntag an die Wahlurne treten, entscheiden sie über Anstand oder Abgrund. Das habe ich mir nicht ausgedacht, um die Grünen zu verhöhnen – das ist O-Ton ihrer Parteivorsitzenden.

Bei den Grünen finden Pfarrstube und Lehrerhaushalt auf ideale Weise zusammen. Deshalb durchzieht viele Auftritte ja auch dieser Predigtton, wie man ihn ansonsten nur noch aus dem „Wort zum Sonntag“ kennt. Fatalerweise äußerte sich diese Kombination lange auch ästhetisch, weshalb es stilsensiblen Zeitgenossen schon in den guten Zeiten der Bewegung trotz inhaltlicher Übereinstimmung nicht möglich war, ökologisch einwandfrei zu wählen.

Mir tut der Abstieg leid, schon aus persönlichen Gründen. Aus kolumnistischer Sicht sind starke Grüne besser als schwache Grüne. Robert Habeck oder Annalena Baerbock im Kanzleramt – das wäre für mich wie ein Sechser im Lotto. Dann müsste ich mir keine Sorgen mehr machen, womit ich die Spalten fülle. Leider sieht es nicht danach aus, dass es dazu kommt.

Ganz auszuschließen ist es nicht, dass sich die Grünen noch einmal berappeln. Das ist ja das Schöne am politischen Geschäft: Im Politbusiness haben auch Leute eine Chance, auf die niemand mehr einen Pfifferling geben wollte. Wer hätte im Sommer 2021 darauf gewettet, dass Olaf Scholz einmal Kanzler werden würde? Ich erinnere mich, wie sich alle fragten, was denn der nette Herr mit der Glatze eigentlich bei den Triellen verloren habe, die sie im Fernsehen veranstalteten. Und dann saß er plötzlich im Kanzleramt.

Das Versprechen der Grünen, Kapitalismus und Moral zu versöhnen, ist unverändert attraktiv. Die Kohle raushauen, aber dabei kein allzu schlechtes Gewissen haben müssen, weil man das Geld mit dem richtigen Bewusstsein ausgibt – das ist ein fast unschlagbares Angebot. Dummerweise sprechen die Zeitläufe gegen eine baldige Erholung.

Das ganze grüne Sonnenblumenprogramm wirkt aus der Zeit gefallen. Es gibt einen sehenswerten Aufritt von Habeck, in dem er vor der Wahl erklärte, dass jeder Euro, den der Staat an Schulden aufnehme, um ihn für uns auszugeben, alle reicher mache. Das war schon damals Gaga – seit der Zinswende ist es kompletter Nonsens. Und die wirtschaftlichen Aussichten sind eher düster. Wenn wir Pech haben, dann ist der Konjunktureinbruch nicht eine Delle, die schon im nächsten Quartal wieder behoben ist, sondern Zeichen eines lang anhaltenden Abschwungs.

Der Vorteil der Grünen ist, dass ihre Klientel relativ gut gegen wirtschaftliche Verwerfungen geschützt ist. Ihre Wähler sind überdurchschnittlich vermögend, überdurchschnittlich gut gebildet und überdurchschnittlich verzichtsbereit. Das hilft über einiges hinweg.

Die treuesten Fans haben die Grünen zudem im öffentlichen Dienst, wo ökonomische Schocks nur mit großer Verspätung ankommen. Dass einem Beamten das Gehalt gekürzt wird, hat es meiner Erinnerung nach noch nicht gegeben. Aber nur mit Beamten und öffentlichen Angestellten schafft man es wiederum nicht ins Kanzleramt.

Wie die Basis reagiert, wenn plötzlich das Schulgeld für Sophie und Jonas nicht mehr drin ist, bleibt abzuwarten. Mit dem Verzicht ist es wie mit dem Abnehmen: Das eine ist, darüber zu reden, etwas ganz anderes, es dann auch durchzuziehen.

© Sören Kunz

Im Büro mit Nancy Faeser

Die Bundesregierung hat sich den Schutz der Arbeitnehmer vor zu viel Stress, Druck und übergriffigen Chefs auf die Fahnen geschrieben. Wie blöd, dass sich ausgerechnet die Bundesinnenministerin als deutsche Mobbing-Queen entpuppt

Stellen Sie sich vor, Ihr Chef will Sie loswerden. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil: Die Beurteilungen fielen immer zufriedenstellend aus. Sie sind auch nicht durch Illoyalität oder Obstruktion aufgefallen. Dennoch erreicht Sie aus heiterem Himmel der Anruf eines engen Mitarbeiters Ihres Chefs, dass man auf Ihre Dienste in Zukunft verzichten möchte.

Sie haben Familie, Sie sind nicht mehr der Jüngste. Der Anruf macht Ihnen Angst. Das ist ja auch der Zweck. „Wir können die Sache geräuschlos erledigen“, sagt der Mitarbeiter. „Sie willigen ein, Ihren Posten zu räumen, dafür werden wir an anderer Stelle etwas für Sie finden. Oder Sie legen sich quer. Dann wird’s schmutzig, dann können wir für nichts mehr garantieren. Das Ganze kann sich in dem Fall auch über Monate hinziehen. Es ist Ihre Zeit, es sind Ihre Nerven. Überlegen Sie’s sich.“

Das Schöne an Politik ist, dass sie manchmal so lebensnah sein kann. Auch der Politiker ist mitunter nur Mensch, mit all seinen Stärken und Schwächen – wobei die Schwächen, wie im wirklichen Leben, überwiegen.

Die Chefin in dieser Geschichte heißt Nancy Faeser, der Mann, den sie unbedingt loswerden wollte, Arne Schönbohm, Leiter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik. Die Bundesinnenministerin gegen den Chef einer kleinen Bundesbehörde, das ist die Ausgangslage. Bis heute ist nicht ganz klar, was Faeser gegen ihren Cybersicherheitschef hatte, aber irgendwann im Frühsommer vergangenen Jahres fiel der Entschluss, sich seiner zu entledigen.

Wir wissen auch, wie es weiterging. Im April und Mai 2022 telefonierte die Staatssekretärin im Innenministerium Juliane Seifert mit dem ZDF-Comedian Jan Böhmermann. Worum es in den Gesprächen ging? Hass im Netz. Kein einziges Wort über den in Ungnade gefallenen Behördenleiter! So versichern es beide.

Im Oktober tauchte Schönbohm dann im Zentrum einer Böhmermann-Sendung auf, als „Cyberclown“, der Kontakte zu einem Verein unterhalte, der von russischen Agenten unterwandert sei. Zehn Tage später war der Mann seinen Job los. Durch die ZDF-Satire-Sendung sei das Vertrauen nachhaltig beschädigt, ganz unabhängig von der Stichhaltigkeit der Vorwürfe. So steht es wörtlich in einem Schreiben des Ministeriums: „Unabhängig davon, wie stichhaltig diese sind und ob diese sich im Ergebnis als zutreffend erweisen, ist in der öffentlichen Meinung ein Vertrauensverlust eingetreten, der eine weitere Amtsführung unmöglich macht.“

Das Tragische und das Komische gehen mitunter Hand in Hand. Selbstverständlich ist Nancy Faeser entschieden gegen jede Form des Mobbing – sie gehört schließlich einer Partei an, die sich den Schutz aller Arbeitnehmer auf die Fahnen geschrieben hat. Wenn es etwas gibt, was Sozialdemokraten nicht leiden können, dann übergriffige Chefs. Deshalb ist die SPD auch unbedingt dafür, die Vier-Tage-Woche einzuführen, um Druck und Stress am Arbeitsplatz zu reduzieren. Je weniger Chefs zu sagen haben, desto besser. Wer an dieser Stelle nicht lacht, dem ist nicht mehr zu helfen.

Normalerweise wäre die Sache hier im Sande verlaufen, das muss man dazu sagen. Pech für Faeser, dass sich der geschasste Behördenleiter nicht einfach in sein Schicksal fügen wollte. Statt klein beizugeben, wie man es in der Ministeriumsspitze erwartet hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine.

Erst verlangte er ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst, um zu erfahren, was er sich eigentlich hatte zu Schulden kommen lassen (Ergebnis nach monatelanger Untersuchung: nichts). Später wird er noch das ZDF verklagen, das ihn mit einer schlampigen Recherche um seinen Job gebracht hatte.

Also Krisensitzung bei der Chefin. Die Ministerin: in höchstem Maße ungehalten. Wie es sein könne, dass nicht mehr gegen den renitenten Mitarbeiter vorliege? Was man ihr vorgelegt habe, sei viel zu dünn. Die klägliche Antwort des zum Rapport angetretenen Unterabteilungsleiters: Man habe jeden Stein umgedreht, auch alle Abteilungen und relevanten Behörden abgefragt. Es lasse sich einfach nichts Belastbares finden.

Wo ein Wille ist, da sollte ein Weg sein – wofür regiert man schließlich das Land? Anweisung Faeser: Noch einmal das Bundesamt für Verfassungsschutz kontaktieren und alles an Geheimunterlagen zusammentragen lassen, was sich finden lässt. Das ist keine Spekulation, wie der eine oder andere jetzt vielleicht denkt. So geht es aus einem Aktenvermerk hervor, den der arme Unterabteilungsleiter nach dem Treffen mit der Ministerin anfertigte.

Ach so: Und bitte die Unterlagen außerhalb des Dienstweges dem Ministerbüro zukommen lassen, haben wir uns da verstanden? Auch das steht im Aktenvermerk. Wenn es jemand gibt, der sich den Titel als bundesdeutsche Mobbing-Queen verdient hat, dann unsere Innenministerin. Diese Auszeichnung wird ihr so schnell keiner nehmen.

Die SPD hat kein Glück mit ihren Frauen an der Spitze. Erst der Ausfall von Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin, nun die Personal-Affäre bei Faeser. Bevor jemand sich verleitet sieht, falsche Schlüsse zu ziehen, einigen wir uns vielleicht darauf: Frauen sind auch nicht die besseren Chefs.

Es gibt ja eine Theorie, wonach viel Schlimmes in der Welt verhindert werden könnte, wenn Frauen mehr zu sagen hätten. Nach der Finanzkrise hieß es zum Beispiel, es wäre nie zum Kollaps gekommen, wenn die Hedgefonds-Abteilungen nicht so männlich wären, weil Frauen risikoaverser seien. Frauen gelten auch als pragmatischer, lösungsorientierter und überhaupt friedlicher – kurz: als die besseren Vorgesetzten.

Diese Theorie hatte immer schon erhebliche Löcher. Wer hat bei der RAF geschossen? Wenn es darauf ankam: meist die Frauen. Mir fallen auf Anhieb auch eine Reihe von Frauen als Regierungschefinnen ein, die durchaus in der Lage waren, Schlimmes anzustellen, wie zum Beispiel einen Krieg vom Zaun zu brechen (Thatcher, Falklandinseln).

Nicht einmal die Sache mit der Finanzkrise hält bei genauerer Betrachtung stand. Wie viele Frauen saßen im Verwaltungsrat der pleitegegangenen Credit Suisse? Ich traue mich kaum, es zu sagen: Es waren sieben von zwölf, also die Mehrheit. Schwamm drüber, die UBS hat die Zeche beglichen. Aber teuer war es trotzdem.

Möglicherweise hänge ich einer überkommenen Form des Feminismus an. Abseits traditioneller Höflichkeitsregeln gehe ich davon aus, dass man Frauen nicht anders behandeln sollte, nur weil sie Frauen sind. Das gilt allerdings in alle Richtungen, also auch, was die Besetzung von Posten angeht. Hieß es nicht außerdem immer, dass es ein Zeichen unaufgeklärten Denkens sei, wenn man noch an die Existenz von Geschlechterunterschieden glaube? Dass Frauen weniger hierarchiebesessen seien als Männer, hört sich für mich jedenfalls stark nach Klischee an.

Was sagt Nancy Faeser zu allem? Man müsse später noch einmal darüber reden, wie Akten in ihrem Haus geführt würden. Zu Deutsch: Es kann doch nicht wahr sein, dass alles, was ich anordne, schriftlich festgehalten wird. Aber so ist der deutsche Beamte: Wenn man ihn anweist, etwas zu tun, was er als problematisch empfindet, legt er vorsorglich eine Aktennotiz an. Nicht, dass es am Ende noch heißt, er habe eigenmächtig gehandelt!

Ich kann den Mann aus der Personalabteilung verstehen. Bevor ich beim Verfassungsschutz anrufen würde, ob man auch wirklich, wirklich nichts an belastendem Material übersehen habe, hätte ich auch lieber eine Rückversicherung in der Schublade. Man ist ja im Bundesinnenministerium so schnell seinen Job los, wie man weiß.

© Michael Szyszka

Mit dem Dealer auf Du und Du

Wäre Deutschland wie Kreuzberg, wären wir verloren. Warum, um Gottes Willen, hat man sich sogar nach Meinung der „FAZ“ als Politiker unmöglich gemacht, wenn man das laut sagt?

 Friedrich Merz hat gesagt, Kreuzberg sei nicht Deutschland. Riesenaufregung im besorgten Teil der Republik. Mein langjähriger Ressortleiter beim „Spiegel“ Stefan Kuzmany hat eine Philippika verfasst, warum sich Merz damit endgültig unmöglich gemacht habe.

Merz betreibe das Geschäft der Ausgrenzung, so ein Mann dürfe nie Kanzler werden! Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal über einen Politiker empört habe. Aber sicher nicht, weil er sich im Bierzelt wohler fühlt als in der „Spiegel“-Redaktion. Das war ja der Nachsatz bei Merz: „Gillamoos ist Deutschland“. Die Rede fand in Bayern statt.

Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ schäumte. Merz fantasiere sich ein Deutschland herbei, das es so gar nicht gebe. Ein Deutschland ohne Kriminalität, kleine Paschas, Graffiti an den Fassaden, Shisha-Bars, dafür mit Fachwerkatmosphäre und ausschließlichem Verzehr von einheimischen Gerichten.

Merz hatte zwar kein Wort über Paschas, Graffiti und Shisha-Bars verloren. Wenn ich mir seinen Lebenszuschnitt anschaue, bezweifle ich auch, dass er ein Fan des Fachwerkhauses ist. Das alles fand ausschließlich im Kopf des „FAZ“-Autors statt. Der Text war auch nicht von einem der jungen Rücksichtsvollen verfasst, die inzwischen sogar die „Frankfurter Allgemeine“ bevölkern, sondern einem der Herausgeber, dem Feuilletonchef Jürgen Kaube.

Wenn Männer in gesetztem Alter nach links steuern, gibt es nach meiner Erfahrung zwei Erklärungen: Sie wollen sich qua journalistischem Draufgängertum ihrer Jugendlichkeit versichern. Oder sie haben eine deutlich jüngere Frau kennengelernt, der sie imponieren müssen.

Keine Ahnung, was bei Kaube zutrifft. Ich will ihm um Gottes willen nicht zu nahe treten. Vermutlich ist er seit Langem in erster Ehe glücklich verheiratet und hat noch nie einen Gedanken aufs Alter verschwendet. Ich habe nur beim Blick auf Wikipedia gesehen, dass er mein Jahrgang ist, was mir zu oben stehender Spekulation Anlass gab.

Treue Leser meiner Kolumne wissen, dass mich Zweifel plagen, was den Parteichef der CDU angeht. Das beginnt schon damit, dass ich sofort wegschalten muss, wenn ich ihn im Fernsehen reden höre. Bei meiner Frau stellen sich die Nackenhaare auf, wenn jemand mit dem Messer über den Teller kratzt. Bei mir haben Merz-Interviews diesen Effekt. Ich kann die Mischung aus Besserwisserei und unterdrücktem Beleidigtsein, die jeden seiner Auftritte durchzieht, nur schwer ertragen.

Dennoch halte ich die Aufregung für gaga. Kreuzberg ist nicht Deutschland? Na gottlob nicht, würde ich sagen. Die Aussichten sind ohnehin düster. Die EU-Kommission hat gerade festgestellt, dass Deutschland beim Wachstum das Schlusslicht in Europa ist. Alle legen zu, nur wir werden ärmer. Wenn Deutschland wie Kreuzberg wäre, könnten wir komplett einpacken.

Ich habe mal eine Kolumne geschrieben, die hieß: „Berlin, das Venezuela Deutschlands“. Das war als Gag gemeint. Dann musste ich feststellen, wie seherisch die Überschrift war. Sie müssen in Berlin keinen Hunger leiden. Aber sobald man auf den Staat angewiesen ist, und sei es nur, um ein Auto oder eine Wohnung anzumelden, ist es vorbei. Da ist es sogar in Südamerika besser. Da kann man wenigstens mit ein paar Scheinen nachhelfen, um die Sache zu befördern.

Wenn Berlin Venezuela ist, dann ist Kreuzberg unser Caracas. Das Epizentrum der organisierten Verantwortungslosigkeit, das schwarze Loch staatlichen Handelns.

Das perfekte Beispiel für das Versagen ist das Ringen um den Görlitzer Park. Der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner hat vergangene Woche zu einem Krisengipfel geladen, weil die Dinge selbst für Berliner Verhältnisse außer Kontrolle geraten sind.

Die Bürgermeisterin von Kreuzberg hatte allerdings bei einer Pressekonferenz vorsorglich deutlich gemacht, was alles nicht geht: also keine nächtliche Schließung, nicht mehr Polizei, auf keinen Fall Zäune oder Videoüberwachung. Selbst der Vorschlag, die Büsche zu beschneiden, damit die Dealer ihre Drogen nicht mehr so leicht verstecken können, scheint einigen im Rathaus irgendwie suspekt.

Man will schließlich niemanden ausschließen, auch nicht den Dealer. „Keine Gruppe soll ausgeschlossen werden“, gab die frühere Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann vor Jahren die Linie vor, der man sich in Kreuzberg bis heute verpflichtet fühlt. „Heute ist es die Dealergruppe, die rausgeschickt wird. Was ist morgen? Wer darf morgen nicht in den Park rein? Und wer darf übermorgen nicht in den Park rein? Und wer bestimmt das eigentlich.“ So läuft das: Ein unfreundliches Wort zum Dealer und schon landet man beim Gillamoos.

Ein Vorwurf an Merz lautete, dass sein Satz fremdenfeindlich gewesen sei, weil in Kreuzberg auch ganz viele Migranten leben würden. Es stimmt, ein Drittel der Einwohner kommt von außerhalb. Deshalb funktioniert das Viertel ja auch halbwegs. Wäre Kreuzberg auf die linken Hipster angewiesen, die erst um 11 Uhr aus dem Bett finden, gäbe es nicht mal den berühmten Latte macchiato. Ich fürchte allerdings, wenn man die Migranten fragen würde, für wen sie eher stimmen würden, für Friedrich Merz oder Monika Herrmann, dann fiele das Votum ziemlich eindeutig aus.

Sprechen wir für einen Moment vom normalen Deutschland. Ich weiß, „normal“ ist auch so ein Begriff, der mit Vorsicht zu genießen ist. Anderseits kommt nicht einmal der hipste Hipster umhin anzuerkennen, dass viele Deutsche anders leben, anders sprechen und anders denken als er. Wäre es anders, würde ja seine ganze linke Hipsterexistenz keinen Sinn ergeben.

Das normale Deutschland sind Orte wie Tuttlingen oder Oggersheim, jene als Provinz verspottete Welt, in der man zum Muttertag noch Blumen schenkt, Gendern für eine exotische Sportart hält und nichts Verwerfliches an Gardinen und Häkeldeckchen findet. In dieser Welt sagt übrigens auch niemand: Patchwork, das habe ich mir für meine Beziehung immer gewünscht.

Die Überraschung ist jedes Mal wieder groß, wenn sich das normale Deutschland zu Wort meldet. Im März waren die Berliner zur Klimawahl aufgerufen. Wochenlang war die ganze Stadt voller Plakate: Berlin klimaneutral bis 2030. Großes Konzert am Wahlwochenende am Brandenburger Tor mit allen Musikbands des guten Herzens. Es gab nicht einmal eine Gegenkampagne. Und was passierte dann? Dann wurde selbst das Mindestquorum von 25 Prozent der Wahlberechtigten verfehlt.

Die Randbezirke seien schuld, hieß es anschließend zur Erklärung. „Randbezirke“ ist der deutsche Bible Belt. Da, wo die Minderbemittelten leben, die ihr Herz noch an Autos, Grillfleisch und Schnittblumen hängen.

Die alten Linken verstanden noch etwas von Dialektik, also der Fähigkeit, in Gegensätzen zu denken. Ich habe kürzlich eine Geschichte über die beiden Erfinder des Partykrachers „Layla“ gelesen. Der eine ist Lagerist, der andere Elektriker. Das Geheimnis eines guten Partyhits sei ganz einfach, erklärten die Zwei: Eine eingängige Melodie und einen Text, den man auch mit zwei Promille noch mitsingen kann. Dass es Layla zum Protestsong des Jahres gebracht hat, hat allerdings auch die zwei jungen Männer aus Stuttgart überrascht.

Das Lied ist auf jeder Kirmes der Renner. Beim Oktoberfest wird es mit Sicherheit ganz oben auf der Wunschliste stehen. Ihren Riesenerfolg verdanken die Erfinder nicht ihrem umwerfenden Talent, sondern der Mithilfe der Grünen. Hätten sie sich in einer Reihe von Städten nicht in den Kopf gesetzt, die Aufführung des Songs zu untersagen, hätte „Layla“ vermutlich nie diese Popularität erreicht.

Ich mag mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, dass abseits des „Spiegel“ und des Feuilletons der „FAZ“ ein Umdenken begonnen hat. Bei der SPD gibt es an verantwortlicher Stelle wieder Leute, die sich fragen, ob es wirklich so schlau ist, jeden Unsinn mitzumachen, den man bei den Jusos oder der Grünen Jugend ersinnt. Dass man froh sein kann, dass Deutschland nicht Kreuzberg ist, ist ein Satz, den sie auch in vielen SPD-Ortsvereinen unterschreiben können.

© Sören Kunz

Trump beim Gillamoos

Es heißt, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur in Deutschland nachhaltig verändern werde. Das glaube ich auch – allerdings anders, als Aiwangers Kritiker meinen

 In einer Geschichte über Hubert Aiwanger stand, dass die Freien Wähler im Landtag nicht unbeliebt seien, auch er nicht. Mit Katharina Schulze, der Spitzenkandidatin der Grünen, würde er sich sogar duzen.

Wenn man liest, was seit Tagen über Aiwanger geschrieben wird, muss man denken, der Himmel über dem Freistaat sei eingestürzt. Von einer „Schande für Bayern“, spricht Florian von Brunn, der Vorsitzende der bayerischen SPD. Dass Markus Söder seinen Wirtschaftsminister in der Regierung belasse, sei ein „negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland“. An anderer Stelle las ich, dass die Affäre geeignet sei, der politischen Kultur nachhaltigen Schaden zuzufügen.

Ich glaube auch, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur verändern wird, nur anders als die Kritiker meinen. Bei vielen Menschen werden die vergangenen zwei Wochen die Vorbehalte verstärken, die sie ohnehin gegenüber Politik und Medien haben.

Viele Politiker meinen, dass es ihnen als Führungsstärke ausgelegt wird, wenn sie bei Verfehlungen anderer besonders markig auftreten. Ich habe da meine Zweifel. Wenn sich der Kanzler hinstellt und die Erinnerungslücken beim bayerischen Wirtschaftsminister geißelt, dann sagt sich doch der eine oder andere: Ziemlich dicke Backen für jemanden, der sich nicht einmal daran erinnern kann, was er vor sechs Jahren als Hamburger Bürgermeister mit dem wichtigsten Banker der Stadt besprochen hat, trotz Outlook-Kalender und Sekretariat.

Die Bereitschaft, jeden unter den Bus zu schubsen, sobald Vorteile winken, wird eher als eklig empfunden. Jeder kennt diesen Typus, der immer auf der Höhe der Zeit ist, zur Not auch zulasten anderer. Gut, kann man sagen: Wer ist schon Florian von Brunn, der SPD-Mann, der bei der Landtagswahl mit der Fünf-Prozent-Hürde kämpft? Andererseits: Seine Zitate stehen in jeder Zeitung.

Politik ist ein eigenartiges Geschäft. Die gleichen Leute, die das Blaue vom Himmel versprechen (bezahlbare Mieten! Kitaplatz für alle Kinder!) und auch sonst keine Gelegenheit auslassen, sich als Samariter zu inszenieren, kennen umgekehrt keine Gnade, wenn sie Schwäche wittern. Negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland? Da fällt mir aber aus den letzten 75 Jahren einiges ein, das noch infrage käme.

Die Bürger haben ein untrügliches Gespür für Verlogenheit. Das beginnt mit der Behauptung, nicht das, was einer als 17-Jähriger getan habe, sei entscheidend, sondern, wie er sich später dazu verhalte. Nehmen wir für einen Moment an, Aiwanger hätte zugegeben, das schreckliche Flugblatt geschrieben zu haben. Seine Karriere wäre augenblicklich zu Ende gewesen.

Auch am Wort Kampagne haben seine Gegner Anstoß genommen. So dürfe man nicht reden, das sei Rechtspopulismus. Nennen wir es Herdentrieb, wenn das besser klingt. Oder was wäre das angemessene Wort dafür, dass alle mehr oder weniger in dieselbe Richtung schreiben?

Die Wähler sind, anders als man in vielen Redaktionen denkt, nicht blöd, nicht einmal in Niederbayern. Die Leute verfolgen nicht alle Windungen des politischen Geschäfts. Aber ob einem übel mitgespielt wird, jedenfalls übler, als es angebracht wäre, das bekommen sie schon mit.

Dazu kommt, dass sie instinktiv zurückscheuen, wenn sich alle zu einig sind. Journalisten neigen dazu, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, wenn sich das Opfer ihrer Berichterstattung nicht in das ihm zugedachte Schicksal fügt. Damit befördern sie allerdings den Eindruck, parteilich zu handeln, was wiederum die Zweifel an ihrer Lauterkeit verstärkt.

Wir haben das auf dem Höhepunkt der Wulff-Affäre gesehen. Obwohl die Mehrheit der Deutschen der Meinung war, dass er sich falsch verhalten habe, fand eine ebenso deutliche Mehrheit, dass die Medien sich auf unzulässige Weise gegen den Bundespräsidenten zusammengerottet hatten. Es gibt im Volk eine viel größere Bereitschaft, zu verzeihen, als man sich das in den tonangebenden Kreisen vorstellen kann. Gott Lob, muss man sagen.

Mir ist die Verurteilungsbereitschaft in der Politik immer schon suspekt gewesen. Sie bleibt ja auch nicht auf eine politische Richtung beschränkt. Vor eineinhalb Jahren verlor eine junge Fernsehmoderatorin ihren Job, weil sie als 20-Jährige an einer antisemitischen Demo teilgenommen hatte. In dem Fall erhob sich der Empörungssturm im rechten Lager. Es wird leicht vergessen, dass es auch die eigenen Leute erwischen kann. Wer gestern den Kopf des politischen Gegners gefordert hat, kann morgen nicht auf Nachsicht hoffen, wenn es ihn selbst trifft.

Nemi El-Hassan, so heißt die junge Frau, sollte Moderatorin bei Quarks, der Wissenschaftssendung des WDR, werden. Dann tauchten Bilder auf, die sie mit Kopftuch bei einem Al-Quds-Aufmarsch zeigten. Die Bilder waren neun Jahre alt, die Frau hatte inzwischen Medizin studiert und das Kopftuch abgelegt. Sie versicherte glaubhaft, wie furchtbar sie inzwischen jede Form des Antisemitismus finde. „Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun“, sagte sie. Es half alles nichts: Erst verschob der WDR den Start der Moderation, dann zog der Sender sein Angebot zurück.

Mir hat die Moderatorin leidgetan. Es gibt für mich einen Unterschied zwischen Straftaten und Meinungsdelikten. Niemand sollte wegen Dingen, die er mal gesagt hat oder geschrieben hat, noch Jahre später erledigt werden können. Da sollten andere Verjährungsfristen gelten.

Aiwanger hat sich jetzt entschieden, den Trump zu geben. Bei seinen Auftritten im Bierzelt ist nicht mehr von den eigenen Verfehlungen die Rede, nur noch von den Feinden, die ihn beinahe erledigt hätten. Viele finden das degoutant. Sie erwarten, dass der Minister Reue zeigt.

Das wäre sicher wünschenswert. Aber es macht etwas mit Menschen, wenn man sie in die Enge treibt. Es verleitet sie selten zu Großmut und Einsicht. Aiwanger wird nie vergessen, wie sein politisches Überleben am seidenen Faden hing. Diese politische Nahtoderfahrung wird ihn im Zweifel kalt und hart machen, wenn das nächste Mal seine Duzkollegin von den Grünen, die fröhliche Frau Schulze, am Pranger steht.

Möglicherweise bin ich deshalb so nachsichtig, weil ich weiß, wie schnell man sich als Heranwachsender hinreißen lässt. Ich war in der zwölften Klasse, als ich mit zwei Spraydosen bewaffnet über den Zaun meiner Schule stieg, um ans Oberstufengebäude in mannshohen Lettern zu schreiben: „Isolationshaft ist Folter. Befreit die politischen Gefangenen der RAF“.

Das gab Ärger. Ich erinnere mich noch genau, wie mich der Schulleiter in sein Zimmer zitierte, um mich einem quälenden Verhör zu unterziehen. Wie er auf mich als Verdächtiger kam? Ganz einfach: Niemand hatte im Gemeinschaftskundeunterricht die Klappe so weit aufgerissen wie ich.

Was mich rettete, war der Umstand, dass mein Vater Elternratsvorsitzender war. Vor die Wahl gestellt, die Untersuchung mit kriminalistischen Mitteln voranzutreiben oder die Sache auf sich beruhen zu lassen, entschied sich die Schulleitung für Letzteres. Das ersparte mir nicht nur einen Verweis, sondern auch die Begleichung der Rechnung. Mit der Entfernung meiner Sprühparole war ein städtischer Reinigungstrupp eine Woche lang beschäftigt.

Wie wäre es aus gegebenem Anlass mit einer Amnestie für Jugendsünden, sozusagen als prophylaktische Anti-Trump-Maßnahme? In dem Zusammenhang könnte man auch Nemi El-Hassan eine zweite Chance geben. Wenn Aiwanger Wirtschaftsminister bleiben kann, warum dann nicht auch eine junge Frau, die sich für ihre spätpubertären Ansichten entschuldigt hat, als WDR-Moderatorin wieder aufnehmen?

© Silke Werzinger

Grüne Realitätsflucht

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik. Aktuelles Beispiel: Der Plan der Familienministerin zur Linderung der Kinderarmut

 Ein Vorteil, wenn man von der Realität weit weg ist: Es gibt keine Veranlassung, an seiner Vorstellung von der Welt zu zweifeln.

Nehmen wir, nur als Beispiel, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Frau Paus kommt vom linken Flügel der Grünen, wo man bis heute alle sozialen Fragen für eine Frage der Umverteilung hält. Sobald sich ein Problem auftut, nimmt man einfach die Subventionsgießkanne zur Hand und schüttet Geld drauf. Sollte sich das Problem halten, gießt man nach.

So ist auch der Plan für das größte Projekt der Ministerin, die sogenannte Kindergrundsicherung, entstanden. Um das Los armer Kinder zu erleichtern, möchte die Ministerin ein paar Milliarden in die Hand nehmen, die dann an die Eltern weitergereicht werden, die dafür all das kaufen, was sie sich bislang nicht kaufen konnten: also ganz viele Bücher und Spiele und Theaterkarten und überhaupt alles, was den Kleinen den Anschluss an die bürgerliche Welt erlaubt.

In der Welt, aus der Lisa Paus kommt, hat man vom Leben am unteren Ende der Gesellschaft eher vage Vorstellungen. Klar, man weiß, dass es arme Menschen gibt, die ihr Leben nicht richtig auf die Reihe bekommen. Schließlich ist ja in den Sozialprogrammen ständig davon die Rede, dass man die Armut in Deutschland lindern müsse.

Aber wie genau es in der Unterschicht aussieht, das entzieht sich der Anschauung. Da vertraut man auf die Vertreter der Sozialverbände wie das ehemalige Linksparteimitglied Ulrich Schneider, die einem sagen, wo man überall nachgießen muss. Wenn man als Ministerin vor die Tür tritt, dann in der Regel, um bei Parteiveranstaltungen vorbeizuschauen, wo man vornehmlich auf Leute trifft, die derselben Welt entstammen wie man selbst.

Politisch gesehen ist Kinderarmut ein Superthema. Das ist wie mit dem Einsatz für Wale und Delfine. Niemand klaren Verstandes will in den Verdacht geraten, kein Herz für Kinder zu haben. Haben Sie gesehen, was dem armen Christian Lindner passiert ist? Einmal darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder aus Einwandererfamilie betroffen sind, und schon sind sie hinter einem her wie hinter der armen Seele. „Bösartig“, „abgrundtief ekelhaft“, „perfide“ – und das sind nur die Kommentare der Konkurrenz.

Die Fakten sind eindeutig: Die Zahl der deutschen Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist seit 2015 um ein Drittel gesunken, ganz ohne die Anstrengungen der Grünen. Es gibt wenige gute Nachrichten aus dem Sozialstaat, das ist eine. Dass die Zahl der Leistungsempfänger dennoch bei zwei Millionen verharrt, liegt daran, dass immer mehr ausländische Kinder mit ihren Familien nachrücken.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es keinen Unterschied macht, welchen Pass ein Kind hat. Das scheint auch die Meinung der Ministerin zu sein, die davon spricht, dass man die Sozialleistungen von einer Holschuld in eine Bringschuld des Staates umwandeln müsse. Ich glaube allerdings, dass in diesem Punkt selbst treue Wähler der Grünen anderer Meinung sein dürften.

Wie genau der Plan zur Behebung der Kinderarmut funktionieren soll, ist eben so vage wie die Höhe der Mittel, die Lisa Paus für erforderlich hält. Erst war von 12 Milliarden die Rede, dann von fünf Milliarden. Im „Spiegel“ sprach die Ministerin neulich von „zwei bis sieben Milliarden“ als „neuer Hausnummer“, was sich nicht einmal die Deutsche Bahn bei ihren Kostenschätzungen trauen würde. Dennoch wird unverdrossen am Projekt festgehalten.

So ist das bei den Grünen. Man lässt sich seine Gesellschaftssicht nicht von der Wirklichkeit kaputtmachen. Probleme, die man nicht sehen will, werden ignoriert. Oder wegerklärt. Oder, wenn das nicht mehr geht, Populismus genannt. Ein wunderbares Symbol für diese Form der Realitätsbearbeitung ist der Görlitzer Park in Berlin. Bevor er seine Umwidmung zum größten Open-Air-Drogenumschlagplatz Europas erlebte, war der „Görli“ das Naherholungsgebiet für die Leute, die sich ein Wochenendhaus in der Schorfheide nicht leisten können.

Dann kamen die Dealer und teilten den Park in Zonen auf: Hier die Männer aus Guinea, bei denen man sein Gras beziehen kann, auf Nachfrage aber auch Heroin, Kokain oder Crack, dort die Gambier, daneben die Leute aus dem Senegal. In München hätten sie irgendwann einen Trupp berittener Polizei geschickt, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Aber so etwas verbietet sich in einem Viertel wie Kreuzberg von selbst. Kreuzberg ist das für die Grünen, was Kulmbach für die CSU ist: Herzkammer und Quellgebiet zugleich.

Statt auf Razzien setzte die grüne Bezirksbürgermeisterin auf Sozialpartnerschaft. An Stelle von Polizisten machten sogenannte Parkläufer die Runde, die den Drogenhändlern Lehrstellen und Sprachkurse anboten, um sie in die Legalität zu geleiten. Man kann sich das Gelächter des Dealers vorstellen, als ihm der Parkläufer einen Ausbildungsplatz in Aussicht stellte, wenn er sein schändliches Tun aufgebe.

„Keine Gruppe im Park sollte ausschließlich als Problemverursacher gesehen werden“, hieß es in einem Handlungskonzept des Bezirks. „Menschen, die derzeit den Park nutzen, sollen nicht verdrängt werden.“ Weil man die Drogendealer nicht loswird, erklärt man sie einfach zur schützenswerten Minderheit: So geht grüne Sozialpolitik.

Ende Juni fielen mehrere Männer über eine junge Frau her, die so unvorsichtig gewesen war, die Erklärungen vom Park für alle ernst zu nehmen. Eine Gruppenvergewaltigung am frühen Morgen: Damit ist die Realität auch im grünen Vorzeigebezirk angekommen – sollte man meinen.

Berlins neue Innensenatorin würde den Görlitzer Park gerne mit einer Umzäunung und Videoüberwachung an den Eingängen sicherer machen. Aber das lehnt das zuständige Bezirksamt als „populistisch“ ab. Nötig sei statt eines Zauns, Sie ahnen es, mehr Geld für Sozialarbeiter!

Ich hätte einen Vorschlag, wie man gegen Kinderarmut effektiv vorgehen könnte. Wir koppeln den Bezug von Bürgergeld an den Kitabesuch. Wer vom Staat Geld haben will, muss im Gegenzug einwilligen, dass seine Kinder ab dem ersten Lebensjahr eine staatliche Einrichtung besuchen. Keine Kita, keine Sozialhilfe.

Ist das stigmatisierend? Natürlich ist es das. Aber wer sich darauf verlässt, dass andere für einen geradestehen, muss auch akzeptieren, dass man ihm Vorschriften macht, die für Leute, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, nicht gelten.

Die Studienlage ist eindeutig: Wer in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, hat ein deutlich erhöhtes Risiko arm zu bleiben. Kinder aus der Unterschicht ernähren sich öfter falsch, sie hängen zu viel vorm Fernsehen und bewegen sich zu wenig. Sie haben größere Mühe, sich zu konzentrieren und Lerninhalte zu erfassen, und neigen später eher zum Alkohol- und Drogenmissbrauch. Je früher man diesem Milieu entkommt, und sei es nur für ein paar Stunden an Tag, desto besser.

Gibt es Hartz-IV-Eltern, die sich rührend um ihre Kinder kümmern? Natürlich gibt es die. So wie es auch Eltern geben wird, die sofort losziehen und mit dem Geld von Frau Paus Schulhefte und Buntstifte für die Kleinen kaufen. Dummerweise werden aber auch der Nichtsnutz von Vater und die labile Mutter zu den Erziehungsberechtigten gehören, die über die Verwendung der Kindergrundsicherung bestimmen. Man kann es abgrundtief ekelhaft finden, darauf hinzuweisen, aber so ist die Realität.

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so beständig durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik.

© Sören Kunz

Linke Tasche, tiefe Tasche

200 Millionen Euro zur Stärkung der Demokratie? Der Kampf gegen Rechts ist ein Geschäftsmodell, das den Beteiligten nicht nur Podiumsplätze und Professorentitel, sondern auch beträchtliche Subventionen sichert

Bin ich ein Rassist? Ich habe vor zwei Wochen über die Probleme mit Ausländern geschrieben. Beziehungsweise darüber, warum ich glaube, dass wir gar kein großes Integrationsproblem haben. Mit den allermeisten Leuten, die zu uns kommen, gibt es null Scherereien. „Wir haben kein Problem mit Chilenen. Oder Koreanern. Oder Vietnamesen“, schrieb ich. „Wir haben ein Problem mit Zuwanderern aus türkischen, afghanischen und arabischen Familien.“

Unter den Zuschriften, die mich erreichten, waren auch eine Reihe Mails von Deutsch-Türken, die es leid sind, dass sie ständig in Haftung genommen werden für Leute, die sich daneben benehmen. „Ich wollte Ihnen für den Text danken, den ich als ehrlich und unverfälscht empfunden habe“, erklärte eine Berliner Leserin, deren Name darauf schließen ließ, dass ihre Vorfahren aus der Türkei stammten.

Einer der wenigen, die dezidiert anderer Meinung sind, ist der Soziologe Oliver Nachtwey. Er sieht die Sache nicht nur anders, wie er mich via Twitter wissen ließ. Er findet, dass jeder, der die Sache so sieht wie ich, ein Rassist ist. Wörtlich schrieb er: „Es gibt ein Wort hierfür: Rassismus.“

Ich bin selten sprachlos. Hier war ich es für einen Moment. Wäre der Mann Anführer einer linken Hochschulgruppe oder Redakteur einer Postille wie der „Jungle World“ – meinetwegen. Aber Soziologe? Wenn es eine Wissenschaft gibt, die daran interessiert ist, was Kollektive voneinander unterscheidet, dann die Soziologie.

Warum die eine Gruppe mühelos den Aufstieg schafft, während die andere von Generation zu Generation weiter zurückfällt, ist eine Frage, die zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung zählt. Gut, Nachtwey ist Professor in Basel. Das erklärt einiges. Da versucht man sich besonders weit nach links aus dem Fenster zu lehnen, um nicht als rückständig zu gelten.

Für alle, die noch nie von Herrn Nachtwey gehört haben: Er ist der Star einer Szene, die überall rechte Umtriebe wittert. Für Oliver Nachtwey beginnt Rechtsradikalismus mehr oder weniger bei der FDP. Das hat ihn zu einem gefragten Podiumsgast gemacht.

Von Nachtwey stammt der Begriff des „libertären Autoritarismus“, in dem nicht zufällig Adornos „autoritärer Charakter“ als Wegbereiter des Faschismus anklingt. Der Begriff mag etwas akademisch klingen, aber dahinter steht die eingängige Idee, dass jeder, der findet, dass sich der Staat zu sehr ins Leben seiner Bürger einmischt, im Grunde ein Demokratieverächter ist.

Wir sind vermutlich das einzige Land der westlichen Welt, in dem das Wort Freiheit unter Totalitarismusverdacht fällt. Aber so sind die Verhältnisse. Wer seine Kinder gewähren lässt, wenn sie sich die Freiheit herausnehmen, Getränke mit zu hohem Zuckergehalt zu bestellen, gilt bereits als Nazi.

Wie geht man am besten gegen Rechts vor? Das ist die Frage der Stunde. Mit jeder Umfrage, in der die AfD einen weiteren Prozentpunkt zulegt, wird die Frage hysterischer.

Ich halte die AfD ebenfalls für eine ziemlich unappetitliche Partei. Wer Björn Höcke gut findet, hat sich aus dem Kreis derjenigen, die man ernst nehmen kann, verabschiedet. Ich weiß, das wollen viele Leute nicht hören. Ich sehe schon die enttäuschten Leserzuschriften vor mir. Aber so sehe ich die Dinge nun einmal.

Ein Politiker, der so redet, als ob er nachts Goebbels-Reden auswendig lernt, um sie anderntags in Versatzstücken auf thüringischen Marktplätzen auszuprobieren, ist für mich ein politischer Harlekin. Bestenfalls. Und nein, ich schreibe das nicht, weil mich mein Verlag dazu zwingt. Ich schreibe das aus Überzeugung. Dennoch sollten wir nach meiner Auffassung mehr Realismus walten lassen.

Wir geben Unsummen für den Kampf gegen Rechts aus. Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder hat unlängst in einem Beitrag für die „Welt“ darauf hingewiesen, dass sich die finanziellen Mittel seit ihrer Amtszeit verzehnfacht haben – von 20 Millionen Euro im Jahr 2013 auf aktuell 200 Millionen Euro.

Legt man die Wahlergebnisse der AfD zugrunde, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Bundesförderung gibt, die sinnloser ist. 2013 lag die AfD noch bei fünf Prozent, jetzt sind es laut Umfragen 20 Prozent. Aber das hindert die Befürworter selbstredend nicht, mehr Geld zu fordern.

Im Gegenteil, gerade die Erfolglosigkeit wird zum Argument, warum es mehr Unterstützung brauche. „Scheinbar haben 200 Mio ja nicht gereicht“, schreibt die ehemalige ARD-Korrespondentin Christiane Meier unter der Überschrift „Dümmer geht’s nimmer“ in einer Antwort auf Schröder.

So lautet auch die Begründung, wenn sich jemand traut, eines der unzähligen Programme infrage zu stellen. Als das Justizministerium vor vier Wochen ankündigte, die Unterstützung der Beratungsstelle „Hate Aid“ einstellen zu wollen, setzte sofort ein großes Wehklagen ein. „Was, gerade jetzt wird an Projekten gespart, die die Demokratie stärken?“, lautete der Tenor.

In Wahrheit ist der Kampf gegen Rechts ein einträgliches Geschäftsmodell, das einem nicht nur Professorentitel, sondern auch staatliche Subventionen in beträchtlicher Höhe sichert.

Noch hochtrabender als die Projekttitel („Firewall – Hass im Netz begegnen“, „Antifeminismus begegnen – Demokratie stärken“) sind nur die Selbstbeschreibungen. „Als #dafür Plattform bringen wir Menschen zusammen, die sich radikal konstruktiv gegen die politische Ideen- und Mutlosigkeit stellen und keine Lust mehr auf den eskalierenden gesellschaftlichen Diskurs haben“, hieß es auf der Webseite der „Initiative Offene Gesellschaft“, die aus dem Bundesfamilienministerium Fördermittel in Höhe von insgesamt 1,78 Millionen Euro erhielt.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Programme scheitern müssen. Nur ein paar Ministeriale, die seit Jahren nicht mehr den Weg vor die Tür gefunden haben, können ernsthaft glauben, dass man Menschen davon abhält, für die AfD zu stimmen, wenn man ihnen die Vorteile geschlechtergerechter Sprache nahebringt. Oder sie auffordert, bei der „Meldestelle Antifeminismus“ transfeindliche Äußerungen zu melden.

Es spricht viel für die Annahme, dass der gegenteilige Effekt eintritt. Je mehr Geld man Einrichtungen wie der „Amadeu Antonio Stiftung“ zuschanzt, desto mehr Menschen sagen sich: Vielleicht sollten wir es doch mal mit der AfD versuchen, damit der Quatsch ein Ende hat.

Der Washington-Korrespondent des „Spiegel“ René Pfister hat darauf hingewiesen, dass schon in Amerika die Idee, die aufgeklärten Kräfte müssten sich nur entschieden genug zusammentun, um die Gefahr von Rechts abzuwehren, krachend gescheitert ist. „Es grenzt an magisches Denken, wenn Journalisten glauben, die AfD werde geschwächt, wenn wir nur fleißig genug ‚Schutzsuchende‘ statt ‚Flüchtlinge‘ schreiben“, schrieb er in einem viel beachteten Artikel. „Gerade im Osten haben viele durch das Aufwachsen in einer Diktatur eine Aversion gegen die Kontrolle von Sprache.“

Aber wer weiß, möglicherweise ist ja genau das der eigentliche Zweck der Operation. Das Schlimmste, was einem Subventionsprogramm passieren kann, ist, dass es sich selbst überflüssig macht. Würde die Kampagne gegen Rechts so wirken wie versprochen, würden die Rechten ja an Zuspruch verlieren, sodass man auch die Förderung sukzessive zurückführen müsste. Was soll dann aber aus all den Antirassismus- und Antifeminismusexperten werden, die sich der Stärkung der Demokratie verschrieben haben?

Gottlob lässt die Ampel niemanden im Stich. Deshalb hat die Bundesregierung zum Jahreswechsel das sogenannte Demokratiefördergesetz auf den Weg gebracht, dessen wesentliches Ziel es ist, die Mittel zu „verstetigen“, wie es in der Beamtensprache heißt. Das ist geradezu genial: Man verzichtet nicht nur auf jede Evaluierung, was aus dem Geld wird, das man einsetzt. Man sichert den Empfängern auch noch zu, dass es bei der Finanzierung bleibt, egal, wie sich die politischen Verhältnisse entwickeln.

Die Menschheit hat lange vom Perpetuum mobile geträumt. Beim Kampf gegen Rechts ist diese Wundermaschine Wirklichkeit geworden.

© Silke Werzinger

Logik der Straße

Es heißt, wir hätten ein Integrationsproblem. Das stimmt nicht. Wir haben kein Problem mit Chilenen, die zu uns kommen. Oder Südkoreanern. Oder Vietnamesen. Auch nicht mit Finnen, Thailändern oder Chinesen.

 Der Hamburger Senat hat Auskunft zur Lage der afghanischen Flüchtlinge in der Hansestadt gegeben. Der Anlass war eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft, wie viele der Afghanen, die in den vergangenen Jahren nach Hamburg gekommen sind, einer regulären Arbeit nachgehen und wie viele von staatlicher Stütze leben.

Das ist die Auskunft des Senats: Von den insgesamt 28485 Afghanen, die Stand 2022 in Hamburg lebten, waren 6761 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 9027 bezogen Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld, wie Hartz IV jetzt heißt. 4124 erhielten Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz, 2071 Sozialhilfe.

Ich habe mir die Resonanz angesehen. SPD und Grüne, die in Hamburg die Regierung stellen, wollen es nicht so genau wissen. Und auch die CDU zeigt nur mäßiges Interesse. Es ist wie so oft in die Migrationsdebatte: Man verschließt lieber die Augen und hofft, dass sich die Probleme von selbst erledigen. Das Ganze funktioniert ein bisschen wie magisches Denken: aus den Augen, aus dem Sinn. Leider ist der Realität durch Magie nur schwer beizukommen.

Auch in Hamburg werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Jeder, der sich nützlich machen will, findet eine Beschäftigung. Es mag also gute Gründe geben, warum ein Großteil der afghanischen Flüchtlinge keinen Job hat. An mangelnden Angeboten liegt es allerdings nicht.

Es heißt, wir hätten ein Integrationsproblem. Dem würde ich entschieden widersprechen. Wir haben kein Problem mit Chilenen, die zu uns kommen. Oder Südkoreanern. Oder Vietnamesen. Auch nicht mit Finnen, Thailändern oder Chinesen. Wir haben ein Problem mit Zuwanderern aus türkischen, afghanischen und arabischen Familien.

Es gibt nicht nur deutliche Hinweise, dass hier die Zahl derjenigen, die von staatlicher Unterstützung abhängen, am höchsten ist. Fast immer, wo jemand mit einem sogenannten Migrationshintergrund über die Stränge schlägt, landet man ebenfalls in diesem Kulturkreis. Ich habe noch nie von den Deutsch-Chinesen gehört, die in Freibädern andere Badegäste belästigen. Oder den Deutsch-Malaien, die zu Silvester marodierend durch ihr Stadtviertel ziehen.

Was ist schiefgelaufen? Die erste Generation von Einwanderern, die vornehmlich aus der Türkei kam, bestand aus hart arbeitenden Menschen. Dass Deutschland zum Wohlstandsparadies wurde, verdanken wir auch dem Einsatz von Hatice, Ali und Mustafa. Es gab immer mal wieder die Idee, ein Denkmal des unbekannten Gastarbeiters zu errichten. Ich wäre sofort dafür. Diese Leute haben verdient, dass man sich ihrer Lebensleistung erinnert.

Aber irgendwann sind die Dinge aufs falsche Gleis geraten. Das Eigenartige ist, dass gerade in muslimischen Familien normalerweise viel Wert auf Respekt und Höflichkeit gelegt wird. Niemand in der Türkei oder Syrien oder Marokko käme auf die Idee, den Lehrer zu beschimpfen, weil er eine schlechte Note bekommen hat, oder sich mit den Ordnungskräften anzulegen, wenn ihn der Hafer sticht. Ich habe im Gegenteil bei meinen Reisen durch die muslimische Welt die Menschen dort immer als besonders freundlich und rücksichtsvoll erlebt.

Eine Erklärung wäre, dass aus Ländern wie Marokko vor allem die Troublemaker zu uns kommen. Die andere wäre, dass wir in Deutschland etwas falsch machen. Ich neige zu letzterer Erklärung. Ich glaube, dass wir falsch abgebogen sind, als wir den Leuten einzureden begannen, dass die Verhältnisse schuld sind, wenn sich der Sohnemann zum Tunichtgut entwickelt.

Ich war drei Jahre lang Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Keine Ahnung, wem ich die Einladung zu verdanken hatte, aber eines Tages rief ein freundlich klingender Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums an und fragte, ob ich Zeit und Interesse hätte, als Journalist meine Erfahrungen einzubringen.

Man muss sich die Islamkonferenz wie eine lange Therapiesitzung vorstellen, bei der jeder ausführlich beschreibt, welches Unrecht ihm als Mitglied einer ethnischen Minderheit in Deutschland widerfährt oder widerfahren kann. Der Dialog bestand darin, sich gegenseitig zu versichern, wie sehr Ausländer und ihre Nachfahren in Deutschland benachteiligt sind. So verliefen dann auch die Sitzungen eher einseitig. Die eine Hälfte schilderte das Migrantenschicksal, die andere Hälfte saß da und schaute betroffen.

Nur einmal kam es zu einem unschönen Zwischenfall, als eine junge Deutsch-Türkin das Wort ergriff, Professorin für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Anhalt in Bernburg, wie ich den Tagesunterlagen entnahm. Sie sei es leid, dass der kulturelle Unterschied ständig als Entschuldigung diene, morgens nicht mit den Kindern aufzustehen und nach der Schule die Hausaufgaben zu vernachlässigen. „Es gibt eine latente Akzeptanz in der türkischen Community für Eltern, die ihre Kinder schlecht erziehen, sie finden Verständnis, das sie nicht verdienen”, sagte sie.

Es wurde sehr still im Raum. Der Sitzungsleiter, ein Herr Frehse aus der Grundsatzabteilung des Innenministeriums, guckte betreten in seine Papiere und regte dann eine Kaffeepause an. Wie ich später erfuhr, stammte die Professorin aus einer Gastarbeiterfamilie aus dem Wedding, der Vater Arbeiter in einer Schokoladenfabrik, die Mutter ebenfalls am Band, vier Mädchen, alle Abitur, sie die jüngste Professorin, die bis dato in Deutschland einen Lehrstuhl erhalten hatte.

Ich hätte es spannend gefunden, mehr darüber zu erfahren, wie sie es geschafft hatte, sich nach oben zu kämpfen. Aber dazu kam es nicht. Beim nächsten Mal war sie nicht mehr dabei.

Was kann man tun? Es hilft nichts, fürchte ich, wir müssen noch einmal ans Bürgergeld ran. Solange wir Menschen in Aussicht stellen, dass sie genau so viel Geld haben werden, wenn sie nicht arbeiten, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie sich gegen Arbeit entscheiden.

Ich weiß, die armen Kinder! Das ist das Argument, das unweigerlich kommt, wenn man über die Höhe der Sozialhilfe redet: Wollt ihr denn die armen Kinder im Stich lassen?

Die Wahrheit ist: Die Zahl bedürftiger Kinder hat sich dramatisch reduziert, und zwar seit 2015 um ein Drittel. Dass die Zahl der minderjährigen Hartz IV-Empfänger dennoch bei zwei Millionen stagniert, liegt daran, dass die Ankunft von Flüchtlingsfamilien den Rückgang im Inland überlagert.

Es ist ohnehin ein Irrglaube, dass mehr staatliche Hilfe mehr Chancengleichheit bedeuten würde. Jeder Sozialarbeiter kann einem sagen, wo das zusätzliche Geld bleibt: Nicht in Büchern und Filzstiften. Ich weiß, das klingt furchtbar klischeehaft, aber das Klischee ist ja auch deshalb Klischee, weil es einen wahren Kern hat.

Wir erwarten Dankbarkeit. Wir denken, dass unsere Großzügigkeit mit Wohlverhalten vergolten wird. Wenn der arme Migrant schon nicht arbeitet, weil er sich durchgerechnet hat, dass es sich nicht lohnt, soll er sich im Gegenzug wenigstens unauffällig verhalten.

Aber so läuft das nicht. Wir braven Deutschen können uns nicht vorstellen, dass uns unsere Nachsicht als Dummheit ausgelegt wird. In der Welt zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße wird ein Staat, der sich an der Nase herum führen lässt, nicht bewundert, sondern verachtet.

Wer dem Faulenzer Geld gibt, obwohl der über zwei gesunde Hände verfügt, gilt nicht als vernünftig, sondern als deppert. Leute wie Katrin Göring-Eckardt sind hier eine Lachnummer, über die man den Kopf schüttelt. Wer sich ausnutzen lässt, hat es nicht besser verdient – das ist die Logik der Straße. Im Zweifel haut man ihm noch einen über den Kopp, weil Schwäche verachtet wird. Und definitiv als schwach gilt, wer sich an der Nase herumführen lässt.

Vielleicht sollten wir etwas arabischer werden. Wenn schon Einwanderung, dann richtig. Ich habe eine Vorstellung davon, wie ein Deutsch-Araber auf jemand reagieren würde, der ihn auszunutzen versucht. Sagen wir es so: Die Antwort wäre so handfest, die könnte man auf keinem Grünen-Parteitag posten.

© Sören Kunz

Der Fall Egon Flaig

Von der Cancel Culture behaupten einige Leute hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Was ist dann bloß an der Universität Erlangen passiert, wo gerade einer der bekanntesten Althistoriker des Landes ausgeladen wurde?

Die Alte Geschichte ist eine stille Wissenschaft. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind seit Langem tot. Tote Völker, tote Steine, tote Sprachen. Nichts, womit man Aufregung oder gar Empörung auslösen könnte. Sollte man meinen.

Wie man sich doch täuschen kann. Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen.

Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.

Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer. Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität. Dafür wird die akademische Welt vom Staat mit viel Geld ausgestattet. Dafür genießen Professoren eine materielle Absicherung, die ihresgleichen sucht.

Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.

Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle? In einem weiteren Schreiben aus dem Dekanat hieß es, das Meinungsbild innerhalb der Fakultät sei eindeutig. Die Gründe? Im Unklaren.

Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken. Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.

Der Kolumnist Harald Martenstein hat neulich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Cancel Culture wie mit der Stadt Bielefeld verhält, von der Spaßvögel auch behaupten, es gebe sie gar nicht. Parallel zur Praxis der Cancel Culture hat sich ein regelrechter Wissenschaftszweig etabliert, der die Cancel Culture als Hirngespinst betrachtet. Wäre der Begriff nicht schon anderweitig vergeben, würde man von Cancel-Culture-Leugnern sprechen.

Der bekannteste Vertreter der neuen Profession ist der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Daub hat ein ganzes Buch vorgelegt, dass die Cancel Culture zu einem Missverständnis erklärt. Es wollten heute halt auch Leute mitreden, die bis eben noch ausgeschlossen gewesen seien, Frauen, Schwarze, Transmenschen. Das führe bei den etablierten Diskursanführern zu einem Störgefühl, das sie mit Cancel Culture verwechselten. Alles also Einbildung? Ich neige in der Sache eher zu Martenstein. Dafür laufen da draußen, wie er sagen würde, nicht nur zu viele Bielefelder, sondern auch Gecancelte herum.

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte.

Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt? Oder war es am Ende eine einsame Entscheidung des Dekans, der schlechte Presse fürchtete? All das liegt im Unklaren. Es gibt noch nicht einmal eine Begründung, weshalb Flaig in Erlangen unerwünscht ist.

Publik gemacht hat den Fall der ehemalige SPD-Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb. „Akademischer Suizid?“ lautete die Überschrift seines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Aber auch Brodkorb gegenüber wollte die Universität nicht sagen, warum sie ihren Gast wieder ausgeladen hat. Der Dekan beruft sich auf Vertraulichkeit. Das ist nicht nur feige – dem Betroffenen wird so jede Möglichkeit genommen, sich gegen die Rufschädigung zur Wehr zu setzen. Wie soll man sich gegen einen Vorwurf verteidigen, den man nicht kennt?

Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen. „Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“ Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.

Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt. Es versteht sich von selbst, dass alles im Namen der Meinungsfreiheit geschieht. Die Suspendierung der Freiheit, um die Freiheit zu garantieren, das ist der eigentliche Twist.

Vor Jahren erhielt ich einen Anruf meines Freundes Henryk M. Broder, ob ich am nächsten Tag in London sein könne. Die „German Society“ an der London School of Economics hatte Broder, den langjährigen „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek und den gerade als Bestsellerautor hervorgetretenen Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Eigentlich hätte die damalige ZDF-Korrespondentin die Diskussion moderieren sollen, aber die hatte plötzlich kalte Füße bekommen.

Also saß ich am kommenden Tag im Flugzeug. Am Nachmittag fand ich mich mit dem gut gelaunten Broder und seinen beiden Mitstreitern vor Ort ein. Doch dann trat ein Vertreter der Universität an uns heran. Die „Free Speech Group“ der London School of Economics hatte Protest angemeldet. Sarrazin und Broder seien „Provokateure“, deren „Unwissenschaftlichkeit“ dem freien Diskurs schade. Dem Argument folgend, dass die Ausübung der freien Rede nachteilige Folgen haben könne, hatte die Verwaltung die Nutzung des Hörsaals untersagt.

Die Diskussion fand dann doch noch statt, im Ballsaal des nahe gelegenen „Waldorf Hilton“. Der Vorsitzende der German Society Marc Fielmann, Sohn des bekannten Brillenhändlers, verfügte über die nötigen Kontakte. So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

Der deutsche Professor war noch nie ein großer Kämpfer für die Freiheit. Man soll mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber an dieser Stelle muss man es vielleicht doch erwähnen: Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. Der eine war der Theologe Karl Barth, der war allerdings Schweizer. Der andere war Kurt von Fritz, Professor für Altgriechisch an der Universität Rostock.

Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.

 Illustration: © Silke Werzinger 

 

Klimaapokalypse

Todesbäche in Spanien! Klimatote in Würzburg! Der Klimajournalismus setzt auf die Wirkung der aufscheuchenden Nachricht. Doch was, wenn die Schockmeldungen das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken sollen?

Karl Lauterbach ist zum Urlaub in der Toskana. Am Donnerstag vor einer Woche kam er in Bologna an. „Die Hitzewelle ist spektakulär hier“, schrieb er nach Ankunft. „Wenn es so weitergeht, werden diese Urlaubsziele langfristig keine Zukunft haben. Der Klimawandel zerstört den Süden Europas. Eine Ära geht zu Ende.“ Sozialdemokraten sind beim Thema Toskana naturgemäß besonders sensibel. Einer ganzen Generation ist die Gegend so ans Herz gewachsen, dass sie als „Toskana- Fraktion“ sprichwörtlich wurde. Und nun macht ausgerechnet die Sonne dieser fidelen Truppe den Garaus? Ich habe sofort auf meiner Wetter-App nachgeschaut. Freunde von mir halten sich derzeit ebenfalls in Italien auf, die hatten nichts gesagt.

Die App meldete für den 13. Juli, Lauterbachs Ankunftstag, 29 Grad als Höchsttemperatur. Das ist warm, keine Frage, aber weit entfernt von dem, was den Italiener ins Schwitzen bringt. Am Dienstag stand das Thermometer dann kurz bei 39 Grad, auch das in Italien im Sommer keine Seltenheit.

Anderseits: Der „Spiegel“ meldete 48 Grad für den Süden. Das klang schon ganz anders. Ich habe vor acht Jahren einmal 45 Grad erlebt, in Sandpoint, Idaho, und das in einer Juniwoche. Bis 42 Grad ist alles okay, das hält man aus. Danach wird’s sehr anstrengend. Ab 45 Grad verlässt niemand mehr freiwillig das Hotelzimmer.

„Ärzte warnen schon jetzt vor vielen Hitzetoten“, verkündete das Nachrichtenmagazin aus dem kühlen Norden in dem erwartungsfrohen Ton der Klimaapokalypse. Gut, im Kleingedruckten stand dann, dass nicht die Lufttemperatur gemeint war, sondern die „Bodentemperatur“, was immer das ist. Vermutlich legt man einfach bei voller Hitze ein Thermometer in die Sonne und schaut, was passiert.

Ach Italien, könnte man sagen. Aber dann fiel mir ein, dass ich neulich über einen Klimaforscher gelesen hatte, der darüber referierte, wie sich die Region Unterfranken durch den Klimawandel verändern wird. Es ging, natürlich, um Klimatote und dass die Innenstadt von Würzburg zur Mittagszeit einer Gespensterstadt gleichen werde, mit absolut ruinösen Folgen für den Handel. Würzburg werde in wenigen Jahrzehnten ein Klima wie Bologna haben, lautete das Fazit des Experten. Da habe ich noch gelacht, als ich das las, da kannte ich den Erlebnisbericht unseres Gesundheitsministers noch nicht.

Der eine oder andere wird jetzt einwenden, dass auch die Innenstadt von Bologna trotz der Warnungen des Bundesgesundheitsministers nicht verwaist ist. In Italien halten sie einfach um die Mittagszeit eine ausgedehnte Siesta, dafür öffnen die Geschäfte am Abend länger. Aber das wäre für eine deutsche Stadt vermutlich zu praktisch gedacht.

Mit dem Klimawandel verhält es sich ein wenig wie mit der Angst vor dem messerschwingenden Muslim. In die Furcht vor dem Untergang mischt sich die Lust am möglichst fatalen Ausgang des Angstszenarios. „Angstlust“ hat Immanuel Kant in seiner Ästhetik diese merkwürdige Verbindung widerstreitender Gefühle genannt.

Wenn man wollte, könnte man auch zu dem Schluss gelangen, dass die Zunahme an Extremwetterereignissen eine Folge der medialen Vernetzung ist. Irgendwo auf der Welt regnet es immer gerade zu viel oder zu wenig. Man wird auch stets einen Ort finden, an dem es zu heiß oder zu kalt für die Jahreszeit ist. Aber das will niemand hören. Wenn es nicht wie aus Kübeln schüttet, dann brennt es!

Selbst Leute, von denen man annehmen sollte, dass sie einen kühlen Kopf bewahren, lassen sich dazu hinreißen, Unsinn zu verbreiten. Unzählige Tweets zeigten vor zwei Wochen eine Straße im spanischen Saragossa, die sich nach Starkregen in einen Sturzbach verwandelt hatte. „Gibt es noch jemandem, der nicht mitbekommen hat, dass wir in einer eskalierenden Klimakrise sind?“, schrieb der Klimaforscher Stefan Rahmstorf dazu.

Hätte sich Herr Rahmstorf mitder Topografie in Saragossa vertraut gemacht, hätte er gewusst, dass die Straße schon vorher als „Todesschlucht“ bekannt war. Sie liegt am tiefsten Punkt der Stadt. Die Stadtplaner haben links und rechts einen Wall errichtet, sodass bereits ein längerer Platzregen langt, um alles unter Wasser zu setzen. Aber es gibt ein unstillbares Verlangen nach Bestätigung. Das ist wie bei den Klimawandelleugnern, denen ein zu nasser Mai oder Schnee im November ausreichen, um triumphierend zu rufen: Seht ihr, alles gelogen!

Ich fürchte, die Leute, die jede Woche Alarm rufen, erreichen das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollen. Beim ersten Mal, an dem man hört, dass in Europa 48 Grad vorhergesagt wurden, denkt man: Krass, jetzt wird es wirk- lich eng. Beim zweiten Mal ist der Neuigkeitswert verflogen und man ist froh, dass man es selbst kühler hat. Beim dritten Mal zuckt man nur noch mit den Achseln.

Ich finde es erstaunlich, dass dieser Gewöhnungseffekt vor allem von Experten des Mediengeschäfts kaum bedacht wird. Gerade Journalisten sollten doch wissen, wie Leser mit Schreckensnachrichten umgehen. Doch eigenartigerweise sind es vor allem die Medienleute, die auf Schockwirkung vertrauen. Wenn sie ausbleibt, wird halt die Dosis erhöht.

Dass sich der Planet aufheizt, daran kann kein Zweifel bestehen. Vermutlich nehmen auch die sogenannten Extremwetterereignisse zu. Wobei schon das nicht ganz so einfach zu beurteilen ist. Witzbolde hatten vergangene Woche sofort eine Titelseite der Wochenzeitschrift „La Domenica del Corriere“ vom 12. Juli 1952 zur Hand, auf der vor „außergewöhnlich heißen Tagen“ in Italien gewarnt wurde („40 Grad im Schatten in Novara, 42 in Reggio Emilia“).

Was ist die angemessene Geisteshaltung angesichts der Krise? Einfach so weitermachen, ist auch kein überzeugendes Konzept. Nachdenklichere Zeitgenossen versuchen es mit angewandtem Protestantismus. Also Verzicht auf alles, was den Klimawandel befördert, wozu in dieser Jahreszeit zuallererst der Ferienflug gehört. Die „SZ“-Redakteurin Vera Schroeder berichtete aus dem Bekanntenkreis, dass man sich dieses Jahr mit dem Zug nach Süditalien durchschlagen werde.

Ich bewundere so viel Einsatz für die Sache, ernsthaft. Mit drei kleinen Kindern ist schon ein längerer Flug eine Herausforderung. Aber 22 Stunden mit den schreienden Blagen in einem stickigen Bahnabteil? Da würde ich mir die Kugel geben.

Ich glaube ohnehin nicht, dass der individuelle Verzicht uns retten wird. Schreiben Sie es meinem fortgeschrittenen Alter zu, aber wenn ich lese, dass angeblich 68 Prozent in Umfragen sagen, ass sie die grüne Energiewende befürworten, denke ich mir: Mal schauen, wie sie reagieren, wenn es ernst wird.

Ich hoffe einfach auf den Einfallsreichtum unserer Spezies. Der Mensch ist zum Glück ein ungemein findiges Wesen, mit widrigen Bedingungen umzugehen, wie die Besiedlung der Niederlande zeigt. Ein Viertel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Natürlich beschleicht auch mich manchmal der Gedanke: Was, wenn wir zu spät kommen? Aber ich sehe keine vernünftige Alternative.

Wenn ich etwas zu sagen hätte, wäre meine Empfehlung an die Leute, die ihre Berufswahl noch vor sich haben: Raus aus dem Postkolonialismus- oder Genderseminar und rein in die Ingenieurwissenschaften, die Physik und Chemie. Das Studium der Genderwissenschaften ist eine feine Sache. Aber wenn es darauf ankommt, die Welt zu retten, ist es leider völlig nutzlos.

Um wirklich etwas gegen den Klimawandel zu tun, reicht Protest nicht aus. Was uns definitiv helfen würde, wäre ein Verfahren, das CO2 wieder einzufangen, das wir in die Atmosphäre blasen. Oder eine Technik, die unseren Planeten auf ein Maß herunterkühlt, dass wir auch mit den vielen Kohlekraftwerken fertig werden, die China jeden Monat ans Netz bringt.

Anfang der Woche war Lauterbach in Siena angekommen. Als Urlaubsgruß schickte er ein Bild aus der menschenleeren Basilica di San Domenico, verbunden mit der Empfehlung, die Kirche als Kälteraum zu nutzen. Die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche Deutschlands meldeten sich umgehend. Herr Lauterbach renne offene Türen ein. In der Kirche seien alle willkommen, zum Gebet, zur Andacht und auch zum Schutz vor Hitze.

Vielleicht ist das der Weg angesichts des drohenden Endes: innere Einkehr. Wenn gar nichts mehr hilft, bleibt immer noch das Gebet.

© Michael Szyszka

Das Deutschland-Experiment

Wir wollen keine Autoindustrie mehr, die Finanzindustrie sehen wir mit Skepsis und Gentechnik halten wir für Teufelswerk. Die Bürokratie gedeiht, immerhin. Aber ob sich damit eine Industrienation am Leben halten lässt?

 Einer der größten Erfolge der Medizin ist der Kampf gegen Diabetes. Es ist noch nicht so lange her, da bedeutete die Krankheit Siechtum und Tod. Ich bin beim Surfen im Netz auf ein Bild gestoßen, das Kinder auf einer Krankenstation in Toronto 1922 zeigte. Die Kinder lagen regungslos in ihren Betten, weil sie die Überzuckerung ins Koma versetzt hatte.

Dann kamen die beiden Mediziner Frederick Banting und Charles Best. Die Wissenschaftler gingen von Bett zu Bett und injizierten den Kindern eine Dosis Insulin, das sie aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden gewonnen hatten. Als sie beim letzten Kind angelangt waren, erwachte das erste aus dem Stupor. „Was eben noch ein Bild der Verzweiflung gewesen war, wandelte sich in eine Szene der Freude“, heißt es unter dem Foto.

Haben Sie eine Idee, wie Insulin heute hergestellt wird? Ich möchte sie nicht erschrecken, aber der lebensrettende Stoff wird durch genveränderte Bakterien produziert. In Zukunft könnten gentechnisch veränderte Pflanzen den Job übernehmen. Wenn Sie also Angst vor Gentechnik haben, sollten Sie definitiv kein Diabetiker sein.

Es gibt gute Nachrichten, nicht nur für kranke, sondern auch für arme Menschen: Die EU-Kommission will die Genehmigungsverfahren für genetisch veränderte Lebensmittel verkürzen. Allein über das Ausfüllen der Anträge vergehen bisher Jahre. Jede gentechnisch veränderte Sorte muss außerdem auf speziellen Feldern streng getrennt von anderen Pflanzen angebaut werden, wo sie dann regelmäßig von Gentechnikgegnern zertrampelt wird. Die Forschung ist deshalb in Europa praktisch zum Erliegen gekommen. Das soll wieder anders werden.

Für den Vorstoß der EU-Kommission spricht, zum Beispiel, der Klimawandel. Ohne Pflanzen, die Dürre und schlechten Böden trotzen können, wird es nicht gelingen, die Weltbevölkerung zu ernähren. Aber das überzeugt die Kritiker nicht. Wenn es um Genfood geht, endet der Blick am heimischen Gartenzaun.

Auch unsere Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze hat zu dem Thema eine Meinung. „Die Gentechnik hat in ihrer Geschichte noch keinen wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherung geleistet“, schrieb sie auf Twitter. „Ihr gesellschaftlicher Nutzen wird in der Theorie oft behauptet, aber in der Praxis zielt die Gentechnik auf Patente und Profite.“

Nun gut, Frau Schulze hat wie ich Germanistik studiert. Ich war in Biologie auch keine Leuchte. Aber gibt es in ihrem ganzen Ministerium niemand, der sie von diesem Unsinn hätte bewahren können? Die Deregulierung der Gentechnik sei nicht die Antwort auf den Welthunger, erklärte die Ministerin. „Wir helfen den Hungernden am besten, wenn wir weiter in nachhaltige, klimaangepasste Landwirtschaft vor Ort investieren.“ Ob Frau Schulze Sri Lanka kennt?

Die Insel hat es mit der Wende zur Nachhaltigkeit versucht, und zwar nachhaltig. Vor zwei Jahren stellte Sri Lanka komplett auf biologische Landwirtschaft um. Jeder Einsatz von Pestiziden oder synthetischem Dünger war fortan verboten. Ein Traum jedes Grünen – und ein Albtraum für die Einwohner. Die Reisproduktion fiel binnen sechs Monaten um 20 Prozent, die Tee-Ernte erlitt ebenfalls dramatische Einbußen. Das Land, das eben noch Nahrungsmittel im großen Stil exportiert hatte, erlitt eine beispiellose Hungersnot.

Auch Ängste lassen sich national zuordnen. Der Deutsche fürchtet sich vor allem, was mit Strahlung verbunden ist, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in politisch bewussten Haushalten lange ein Thema war (glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede). Die Strahlenangst wird dicht gefolgt von der Furcht vor Giftstoffen, die man unwissentlich zu sich nimmt.

Die Angst vor dem Genfood verbindete diese beiden Motive Mutation und Vergiftung. Deshalb reicht schon der Verdacht, irgendwo in der langen Nahrungskette, die am Ende zu einem Schnitzel führt, könnte ein genverändertes Korn verborgen gewesen sein, und die Leute verlassen laut schreiend den Supermarkt.

Ich erinnere mich an einen Demonstrationszug in Berlin, bei dem jemand ein Plakat mit dem Satz: „Gegen Gene, für das Leben“ hochhielt. Wenn sich die Bildungskatastrophe irgendwo offenbart, dann hier. Acht Jahre Biologie-Unterricht – und man hält Gene immer noch für eine Substanz, auf die man lieber verzichtet. Sie lachen? Aber wenn schon der Frischkäse damit wirbt, „garantiert gentechnikfrei“ zu sein, dann weiß man, dass die Sache die Nische verlassen hat.

Das Urteil der Wissenschaft fällt eindeutig aus. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina preist die „Vorteile für die Ernährung sowie eine produktive, pestizidarme und ressourcenschonende Landwirtschaft“. Aber was interessiert schon der Konsens der Wissenschaft? Auch 98 Prozent können sich irren, wie wir wissen. War es nicht das, was uns während der Corona-Krise dauernd eingeschärft wurde: Traut nicht dem Konsens, es könnten auch die zwei Prozent Abweichler recht haben? Kleiner Scherz. Der Wissenschaftsfeind steht immer im anderen Lager, wie man sieht.

Ich hatte gedacht, dass sie allerdings in der Bundesregierung weiter wären. Svenja Schulze gehörte bereits dem Kabinett Merkel an und damit einer Regierung, die alles daran setze, die Bürger von den Vorteilen der Gentechnik zu überzeugen. Auch die Corona-Impfstoffe verdanken sich ja nicht der natürlichen Kreuzung im Labor. Aber selbstverständlich hat das eine (Impfen) rein gar nichts mit dem anderen (Essen) zu tun. Das ist die letzte Verteidigungslinie: Biontech ist etwas völlig anderes als Gentechnik!

Der härteste Widerstand kommt von der Generation Gorleben, das ist wie bei der Atomkraft. Bei der Grünen Jugend sieht man die Sache mit Blick auf den Klimawandel inzwischen pragmatischer. Aber so wie man aus Rücksicht auf Jürgen Trittin und die Seinen nicht am Atomausstieg rühren wollte, will man nun aus Rücksicht auf Renate Künast und die Ihren auch die Haltung zur Gentechnik nicht überdenken.

Als der bekannte Pflanzenbiologe Ralf Reski der Entwicklungshilfeministerin zu widersprechen wagte („mit Verlaub, das ist dummes Zeug“), wies ihn Künast scharf zurecht: „Ich blockiere so einen Tonfall.“ Zu seinen Argumenten? Kein Wort. Das ist der Stand der Diskussion.

Es gibt auch eine wirtschaftliche Komponente, das sollte man nicht ganz außer Acht lassen. In der „Frankfurter Allgemeinen“ fand sich dieser Tage ein Interview mit der Biochemikerin Emmanuelle Charpentier, die 2020 den Nobelpreis für ihre Entdeckung der Genschere erhielt.

Seit ein paar Jahren lebt sie in Berlin, wo sie die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene leitet, aber in ihrem Labor ist die Arbeit an CRISPR/Cas9 weitgehend eingestellt. Es gebe in Deutschland schlicht keine Wissenschaftler mehr, die man für die Arbeit begeistern könnte, berichtet sie in dem Interview. Deutschland sei einfach nicht mehr wettbewerbsfähig in dem Feld. Auch was die grüne Gentechnik angeht, zieht die Nobelpreisträgerin ein düsteres Fazit. „Inzwischen sind viele Unternehmen mit dem wichtigsten Teil der Entwicklung in die USA abgewandert.“

Wir wollen keine Autoindustrie mehr und die Chemieindustrie eigentlich auch nicht. Die Finanzindustrie sehen wir mit Skepsis, und für den Aufbau einer Softwareindustrie waren wir nie clever genug.

Gut, die Bürokratie gedeiht. Man weiß aus Umfragen auch, dass die Grünen ihre treuesten Anhänger im Staatsdienst haben. So schließt sich der Kreis. Aber ob auf Dauer ein Land funktioniert, in dem niemand mehr produktiv tätig ist, weil alle nur noch einander verwalten? Das wäre das Deutschland-Experiment. Wer weiß, vielleicht geht das ja besser aus als das grüne Experiment in Sri Lanka.

Illustration Foto: Sören Kunz für FOCUS-Magazin © Sören Kunz

 

Jetzt wird’s richtig teuer

Falls Sie dachten, mit der Verschiebung des Gasheizungsverbots kehre Ruhe ein: zu früh gefreut. Der wirkliche Energie-Hammer kommt erst. In Brüssel haben sie da etwas Schönes für Sie vorbereitet

 Beginnen wir mit einem Witz. Auch die Grünen bekommen jetzt eine Wärmepumpe. Also fast. Im Herbst soll es soweit sein. Nach vier Jahren Bauzeit.

Am Objekt lag’s nicht. Wir reden von einem klassischen Altbau, wie er in Deutschland tausendfach vorkommt. 1997 haben die Grünen das Haus als Parteizentrale erworben. Im Keller: eine Gastherme. Wie sieht das denn aus, dachten sie sich. Dem ganzen Land die große Heizwende verordnen und dann selbst mit Gas heizen? Also erfolgte der einstimmige Beschluss zur ökologischen Wende.

Ende 2019 begannen die Bauarbeiten. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, heute Staatssekretär bei Robert Habeck im Wirtschaftsministerium, führte die Presse persönlich durchs Haus in Berlin-Mitte. Dann wurde es schwierig. Handwerker fehlten, die Bausubstanz ist halt etwas älter. Und es brauchte Genehmigungen. Ohne die richtige Genehmigung läuft in Deutschland nichts.

Damit die Pumpe die warme Luft im ganzen Haus verteilen kann, muss ein tiefes Loch für eine Erdwärmesonde gebohrt werden. Beim Bohren haben die Behörden ein Wort mit zu reden. Zwei Jahre hat es allein gebraucht, bis die Antwort vorlag.

Im Herbst soll die Pumpe nun in Betrieb gehen. Kosten bis dahin: fünf Millionen Euro. So steht es in einem Bericht des „Spiegel“-Redakteurs Serafin Reiber, der zur Freude der Leser eine Ortsbegehung vornahm. Möglicherweise haben die Grünen der Verschiebung des Gasheizungsverbots auch deshalb zugestimmt, weil sie so Zeit gewinnen. Die Austauschfrist ist auf 2028 verlängert. Bis dahin sollte die Pumpe angeschlossen sein.

Nun zum weniger komischen Teil. Wenn Sie dachten, mit der Entschärfung des Gebäudeenergiegesetzes sei die Sache erst einmal ausgestanden, dann haben sie sich zu früh entspannt. Der wirkliche Energie-Hammer kommt noch.

In Brüssel beraten sie gerade über neue Richtlinien zur energetischen Sanierung. Dagegen ist der Einbau einer Wärmepumpe ein Spaziergang. Bis 2030 muss jedes Haus mindestens die Energieklasse E erfüllen, aber 2033 dann sogar die Klasse D. Damit ist in Deutschland auf einen Schlag die Hälfte der Bausubstanz sanierungsbedürftig.

Reden Sie mal mit ihrem Energieberater, was der Spaß kostet. Um ein Haus auf die geforderte Norm zu bringen, sind Sie schnell 100000 Euro los. Ausnahmen? Nicht mit uns. Natürlich wollen wir Deutsche es besonders gründlich machen, das ist Ehrensache. Ein Haus, das in den Niederlanden die Energieeffizienzklasse C erhält, bekommt in Deutschland gerade mal ein G. Ähnliches gilt für Frankreich: in Straßburg B, in Offenburg C. Und wir reden von der exakt gleichen Immobilie, getrennt nur durch ein paar Kilometer Luftlinie.

Es ist möglicherweise nicht allen klar, aber die Baubranche ist für die deutsche Volkswirtschaft noch wichtiger als die Automobilindustrie. Wenn es hier zum Einbruch kommt, dann schlittern wir ungebremst in die Rezession.

Ich will niemandem Angst machen, aber es sieht nicht gut aus. Die Bauaufträge sind um 25 Prozent eingebrochen, das Vermittlungsgeschäft ist praktisch zum Erliegen gekommen. Was jetzt noch angefangen wird, ließ sich nicht mehr verschieben – oder nur zu solch horrenden Kosten, dass man auch gleich weiterbauen kann.

Ich habe nicht den Eindruck, dass in der Bundesregierung alle verstanden haben, was das bedeutet. Ich war vor zwei Wochen zu Gast auf dem Deutschen Immobilientag. Zum Auftakt trat der Staatssekretär im Bauministerium Rolf Bösinger ans Mikrofon, um ein paar beruhigende Worte zu sagen. Normalerweise sind bei Verbandstagen alle glücklich, wenn ein Mitglied der Bundesregierung auftritt. In dem Fall konnten einige Zuhörer nur mit Mühe davon abgehalten werden, ihrem Unmut lautstark Ausdruck zu verleihen.

Für die Zinsen kann die Regierung nichts, über die wird bei der Europäischen Zentralbank entschieden. Auch an der Inflation trägt die Koalition wenig Schuld. Aber für die vielen Regeln und Bauvorschriften, die das Bauen immer teurer machen, für die kann sie was. Dass viele Neubauten so unfassbar trostlos aussehen, liegt auch an den DIN-Normen, die den Wohnriegel begünstigen.

Die Rolle der SPD, die immerhin den Kanzler stellt, ist mir rätselhaft. Möglicherweise hält man im Willy-Brandt-Haus jeden für einen Ausbeuter, der über Wohneigentum verfügt. Überraschung: Auch unter Sozialdemokraten sollen sich Eigenheimbesitzer befinden. Auf jeden Hauseigentümer kommen außerdem Mieter.

Natürlich wird aus den großspurigen Neubauplänen der Regierung ebenfalls nichts. 400000 Wohnungen pro Jahr waren angekündigt. Jetzt sind sie im Bauministerium schon froh, wenn es in den nächsten Jahren 200000 werden. Aber anstatt gegenzusteuern, indem man mehr Kreativität ermöglicht, wird bei den Vorschriften immer weiter draufgesattelt, nun eben im Namen des Klimaschutzes.

In der „Süddeutschen Zeitung“ fand sich dieser Tage ein Bericht über den Einbruch am Immobilienmarkt. In Großstadtlagen wie Frankfurt oder München hält sich der Rückgang in Grenzen: minus ein bis zwei Prozent. Ganz anders die Lage in ländlichen Gebieten. Wegen der energetischen Sanierung werden bei Altbauten Preisabschläge von 1000 Euro den Quadratmeter verlangt. Viele Immobilen seien damit praktisch unverkäuflich, hieß es in der „Süddeutschen“. Die Vernichtung der Altersvorsorge einer ganzen Bevölkerungsschicht in einem Halbsatz, das ist die Lage.

Wenn es ans Eigenheim geht, hört der Spaß auf. Die Menschen nehmen hin, dass die Fliegerei teurer wird und das Autofahren. Sie akzeptieren, dass es nur noch einmal im Jahr in den Urlaub geht. Notfalls verzichten sie auch auf das Nackensteak. Aber wenn man sie zwingt, das Haus aufzugeben, weil sie in Brüssel unter den Anfeuerungsrufen der Grünen weltfremde Sanierungspläne schmieden, dann kommt es zur Revolte. Und das sage ich nicht leichtfertig.

Bevor es zu traurig wird noch ein Witz: Diesen habe ich von dem Kollegen Alexander Wendt, der lange für den FOCUS geschrieben hat und heute die Webseite „Publico“ betreibt.

Der Erfinder Jeremiah Thoronka aus Sierra Leone hat den diesjährigen „Green Award“ des Greentech-Festivals erhalten. Am 14. Juni wurde er in Berlin für zwei bahnbrechende Stromerzeugungsanlagen in seinem Heimatland ausgezeichnet.

„Jeremiah war 17, als er ein spezielles Gerät erfand, das die Vibrationen von Fußgängern und Verkehr an belebten Straßen auffängt und in Elektrizität umwandelt”, heißt es in der Begründung der Jury. „Mit nur zwei Geräten versorgt sein Start-up Optim Energy mittlerweile mehrere Schulen und Haushalte in Gemeinden in seinem Heimatland Sierra Leone kostenlos mit Strom.“

Bei dem Greentech-Festival handelt es sich auch nicht um irgendeine Veranstaltung, sondern um „Europas größtes Nachhaltigkeitsfestival”. Das Bundeswirtschaftsministerium ist als Unterstützer dabei und das Bundesaußenministerium. Die ehemalige Greenpeace-Funktionärin und heutige Staatssekretärin Jennifer Morgan ließ es sich nicht nehmen, persönlich einen der Preise zu überreichen.

Das Dumme ist nur: Das Gerät, für das Jeremiah Thoronka den „Green Award“ erhielt, hat noch nie jemand gesehen. Es gibt keinen Beleg, dass es funktioniert, es existiert nicht mal ein Foto oder wenigstens eine nähere technische Information.

Macht nichts. Nachdem Alexander Wendt die Posse aufdeckte, erklärte die Festivalleitung: Die Geräte würden, leider, nicht mehr existieren. Aber man habe den Preisträger als „Vorbild“ kennengelernt, der viele Menschen „für das Thema der Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen sensibilisieren und begeistern“ könne.

Ich finde, das ist ein sehr schönes Symbol für den Stand der deutschen Energiepolitik. Von außen betrachtet sieht alles wunderbar aus. Man darf nur nicht so genau nachfragen, wie es sich mit den Details verhält.

© Michael Szyszka

Die Verachtung des Spießers

Durch Deutschland geht ein Riss: Hier das progressive Deutschland, in dem man zur Not sogar auf Papa und Mama verzichtet. Dort das „Arschloch-Deutschland“, in dem man nicht einsehen will, was an traditionellen Werten falsch ist. Wer wohl gewinnt?

 Wie sah das Dritte Reich 1940 aus? Unter anderem so: weiblich, sportlich, ordentlich gekleidet im Blau der Polizei. Und selbstverständlich hat man sich vor allem Sorgen gemacht, ob die Menschen noch so reden können, wie sie denken. Denn das weiß ja jedes Kind: Das größte Thema der Nazis war der Kampf gegen das Gendern.

Okay, ich habe mir zugegebenermaßen eine der dämlichsten Reaktionen zum Auftritt der Olympiasiegerin Claudia Pechstein auf dem Konvent der CDU herausgesucht. Diese stammt von Aurel Mertz, einem der komödiantischen Nachwuchstalente des ZDF: „Mir gerade angeschaut, wie eine Polizeibeamtin unter tosendem Applaus der CDU-Führung ein Deutschland-1940-Mindset schlecht abliest. Die CDU labert sich so hart Richtung AfD unter Merz.“ Geschichte ist erkennbar nicht die Stärke des jungen Mannes, aber für eine Karriere beim Jugendprogramm Funk reicht es trotzdem.

Was hat Claudia Pechstein gesagt? Dass sie sich wünschte, die CDU würde sich weiter für die traditionelle Familie einsetzen. Dass Kinder sich wünschen, dass sie Mama und Papa haben, und dass es Wichtigeres gebe, als den Genderstern korrekt auszusprechen oder das Zigeunerschnitzel zu verbieten.

Wohlgemerkt: Claudia Pechstein war bei der CDU zu Gast, nicht bei den Grünen. Sie hat also vor Leuten gesprochen, die gefragt nach ihrer Vorstellung vom Glück nicht sagen: „Ja, Patchwork, das ist genau das, wovon ich träume.“ Aber das ist natürlich keine Entschuldigung!

Außerdem hat Frau Pechstein, die heute bei der Bundespolizei ihren Dienst tut, Uniform getragen. Schlimmer Verstoß gegen die Neutralitätspflicht von Beamten! Komischerweise gilt die Neutralitätspflicht nie beim Hissen von Regenbogenflaggen oder anderen Bekundungen einer progressiven Gesinnung. Im SPD-Land Rheinland-Pfalz machen sie sogar in Uniform Wahlkampf für die Ministerpräsidentin.

Wäre ich Spötter, würde ich hinzufügen: Immer noch besser, im Blau der Polizei aufzutreten, als zu leicht bekleidet. Erinnert sich noch jemand, wie Heiner Geißler auf dem Parteitag 1979 Revuetänzerinnen auf die Bühne schickte? Das kann bei Friedrich Merz nicht passieren.

Manchmal denke ich, es läuft ein großes Experiment, wie man die Leute so aufbringt, dass sie die Partei mit dem größten Empörungsfaktor wählen, um es mal allen zu zeigen. Nach Lage der Dinge ist das die AfD. Wenn man dem hellen Deutschland einen Schlag versetzen will, sagt man bei Umfragen einfach, dass man sich gut vorstellen könne, für die hellblaue Truppe zu stimmen.

Ich bin politisch gefestigt. Eher würde ich mir den Arm abhacken lassen, als mein Kreuz bei der AfD zu machen. Wer einen Mann wie den Joseph-Goebbels-Spätimitator Björn Höcke wählt, ist aus meiner Sicht politisch nicht ganz zurechnungsfähig. Aber gar nicht so wenigen Leuten ist es egal, ob einer jeden Abend im Keller noch einmal die Panzerschlacht von Kursk gewinnt – Haupt-sache, er steht für Provokation. Wenn man den Wählern außerdem den ganzen Tag sagt, dass das, was sie bisher für normal hielten, in Wahrheit rechtes Gedankengut sei, dann sagen sie sich irgendwann: Dann bin ich eben ein Rechter, dann kann ich die auch wählen. Da gilt der Nietzsche-Satz: „Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“

Haben die Leute, die Claudia Pechstein für eine Rassistin halten, eine Vorstellung, wie es im normalen Deutschland aussieht, also in dem Teil, der nicht auf gewachster Altbaudiele in durchgrünter Innenstadtlage mit Lastenfahrrad vor der Tür lebt? Ich war über Pfingsten auf Mallorca. Am Strand kommt man nicht umhin, sich Gedanken über Normalität zu machen, das fängt beim Körperschmuck an und hört bei Ernährungsgewohnheiten nicht auf.

Die CDU überlegt, wie sie den Anschluss an dieses Durchschnittsdeutschland behalten kann. Auch deshalb war die fünfmalige Olympiasiegerin eingeladen. Im Adenauer-Haus hat man noch eine Ahnung davon, dass jemand wie Pechstein tausendmal mehr das normale Deutschland verkörpert als jeder grüne Bundestagsabgeordnete. Die SPD hat den Versuch aufgegeben, den Kontakt zu halten, deshalb liegen die Sozialdemokraten auch nur noch bei 18 Prozent. Bei den Grünen ist man seit jeher stolz darauf, nichts mit der Spießerwelt zu tun zu haben. So sagt man es nicht, aber so denkt man.

Spießerverachtung hat in Deutschland Tradition. Für jede gesellschaftliche Gruppe finden sich Fürsprecher, selbst der Faulenzer kann noch mit einer Verteidigung rechnen. Nur auf den Kleinbürger sehen sie sowohl von unten als auch von oben herab.

Es ließe sich viel Gutes über den Spießer sagen, seine Arbeitsethik, die Umsicht und Gewissenhaftigkeit, mit der er für ein sozial stabiles Umfeld sorgt. Nur Spießer gehen regelmäßig zum Blutspenden, sammeln Altkleider und sind bei der freiwilligen Feuerwehr. Was wäre der deutsche Sozialstaat ohne die spießige Steuerehrlichkeit? Oder Greenpeace ohne sein Herz für Delfine und Wale?

Es nützt nichts: Seine Beharrlichkeit wird ihm als Pedanterie ausgelegt, seine Sparsamkeit als Geiz. Zur Abwertung des Milieus kommt die seiner Gedankenwelt. Sein Alltag wird durchgängig als banal und sinnentleert beschrieben, das Gefühlsleben als schal und abgestanden, seine politischen Überzeugungen als gefährlich.

Friedrich Merz hat sich in seiner Rede bei dem CDU-Konvent mehrfach auf Helmut Kohl bezogen. Er wird wissen, warum er das tat. Denn auch das ist wahr: Normalität kommt von Mehrheit.

Kein Politiker wurde so verspottet wie Kohl. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Mann ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Über alles wurde sich lustig gemacht: die Liebe für einfache Hausmannskost, die dialektale Färbung der Sprache, in der noch Worte wie Heimat, Volk und Vaterland vorkamen, die Betonung des familiären Lebens, die in aufreizendem Gegensatz zur persönlichen Lebensgestaltung stand.

Was all die neunmalklugen Journalisten allerdings übersahen, war, dass sich ganz viele Leute im Spott über den Mann aus der Pfalz mitverspottet fühlten. Und so begab es sich, dass Kohl einfach weiter neben seinem Aquarium und der Münzsammlung im Bonner Kanzleramt saß und sich durch die Welt telefonierte, bis niemand im Land sich mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.

Tatsächlich war Kohl ein sehr gebildeter Mann. In der Bundestagsbibliothek stand er auf der Ausleihliste ganz oben, es gab kaum eine Buchmesse, die er ausließ. Seine Berater haben ihn angefleht, doch auch diese Seite zu zeigen, um das Feuilleton milde zu stimmen.

Aber erst sah Kohl keinen Vorteil, sich den fortschrittlichen Kreisen zu empfehlen, dann wollte er nicht mehr. Also wurde auf Parteitagen weiter die Hammondorgel angeschmissen und zur Demonstration eine Extraportion Saumagen verzehrt, obwohl der Kanzler in Wahrheit Pasta bevorzugte. Er wusste genau, dass das, was seine Verächter zur Raserei trieb, die Anhänger an ihn band.

Das wahre Vergehen von Claudia Pechstein ist, dass sie so schrecklich durchschnittlich ist. „Claudia Pechstein ist Deutschland pur“, merkte der Dramatiker Juri Sternburg in der „taz“ nach Durchsicht ihres Instagram-Kanals an und listete dann penibel die Verfehlungen auf: Videos von Helene-Fischer-Konzerten, Fotos von Radausflügen, Werbung für ein Nackenkissen. „Nichts unterscheidet sie vom Grillfest in sächsischen Schrebergärten, von der Strandbar auf Sylt oder einem Volkswagen 6-Zylinder VR6. Deutschland, einig Arschloch-Land.“

Besser kann man es nicht sagen. Wie dumm nur, dass es mehr Helene-Fischer-Fans als Sternburg-Fans gibt.

© Sören Kunz

Im Spiegelkabinett

Das Wort der Stunde lautet „Machtgefälle“. Ob Herkunft, Bildung oder Persönlichkeit: Wo immer ein Unterschied besteht, droht angeblich Missbrauch. Der Fall Rammstein dient auch dazu, ein MeToo-Strafrecht jenseits der Norm zu etablieren

 Die „Spiegel“-Redakteurin Ariane Fries hat geschrieben, dass es durchaus denkbar sei, dass sie Till Lindemann ebenfalls zum Opfer gefallen wäre. So lautete die Überschrift eines Textes, den der „Spiegel“ am Wochenende veröffentlichte: „Auch ich hätte eines von Lindemanns Mädchen werden können.“

Soweit man das beurteilen kann, gibt es nichts, was Fries mit der Band verbindet. Wie viele junge Frauen in ihrem Metier fühlt sie sich stark dem Feminismus verpflichtet. Sie hat Politikwissenschaften in Bonn studiert und dann Digitalen Journalismus an der Hamburg Media School. Alles weist darauf hin, dass sie ihr Leben in einem Milieu verbracht hat, dem Rammstein immer schon suspekt war. Im Zweifel hat sie zum ersten Mal im Zuge der Recherchen von der Existenz einer Row Zero gehört und was diese bedeutet.

Wie kommt eine eindeutig links eingestellte Social-Media-Redakteurin, deren Welt von der Rammstein-Welt so weit entfernt ist wie der Mars von der Venus, dazu, zu sagen, sie hätte es ebenfalls Backstage erwischen können?

Weil es um Generalisierung geht, darum. In jedem Kerl steckt ein Till Lindemann mit der Peniskanone, das ist die Botschaft. Und jede Frau ist in Gefahr, in eine Situation zu geraten, in der sie hätte Nein sagen wollen, es aber nicht konnte.

Es ist wie mit dem Rassismus: Wo das ganze System auf Unterdrückung und Ausbeutung ausgelegt ist, kann sich niemand selbst freisprechen. So wie der aktuellen Theorie zufolge jeder Weiße Rassist ist, ob er will oder nicht, ist auch jeder Mann Täter. Das macht die Rammstein-Geschichte so groß. Ginge es nur um eine ostdeutsche Rockband, so berühmt sie sein mag, gäbe es keinen Rammstein News-Ticker bei FOCUS Online und keine Dauerberichterstattung in Ihrer Tageszeitung.

Das Wort der Stunde lautet „Machtgefälle“. Wie vieles, was heute unsere politische Kultur bestimmt, stammt es aus den USA. „Power Imbalance“ heißt der Begriff dort, und er hat im Zuge der MeToo-Debatte eine beachtliche Karriere hingelegt, weil er sehr unterschiedliche Tatbestände zusammenfasst und damit einen neuen Raum des Strafbaren jenseits des Justiziablen eröffnet.

Wo das Machtgefälle beginnt? Im Prinzip überall dort, wo Ungleichheit herrscht. Das kann der Bildungsgrad sein. Oder die soziale Herkunft. Oder die persönliche Ausstrahlung. Der eine wirkt charmant und eloquent und tut sich leicht mit Menschen, der andere ist eine verschlossene Auster, dessen Wert erst auf den zweiten Blick erkannt wird.

So schreibt es auch die Spiegel-Redakteurin Ariane Fries: „Egal, ob durch beruflichen Status, Geld, Charisma, Intelligenz oder physische Stärke: Wer einer anderen Person überlegen ist, muss sich dessen bewusst sein und hat die Pflicht, seine Position nicht auszunutzen.“ Und noch einmal, damit es auch jeder versteht: „Wer Macht hat, hat die Pflicht, diese Macht nicht zu missbrauchen. Ganz einfach.“

Die Autorin geht nicht so weit, jede ungleiche Beziehung als missbräuchlich zu bezeichnen. Aber jede Beziehung, in der ein Machtgefälle besteht, ist missbrauchsgefährdet. Weshalb man, so die Logik, am besten ein Machtgefälle vermeidet. Wenn also der Feuilletonredakteur zur Social-Media-Redakteurin sagt, dass er sie leider nicht daten könne, weil er fürchte, dass bei ihm eine schreiberische Überlegenheit bestehe, handelt er nicht arrogant, wie man denken könnte, sondern im Gegenteil verantwortungsbewusst.

Die Missbrauchsdebatte ist ein Spiegelkabinett, in dem man sich leicht verirrt. Schon bei MeToo war nie ganz klar, was genau einen MeToo-Fall konstituiert. Ist es eine Anmache, eine unerwünschte Berührung, oder bereits ein zu langer Blick, der als unangemessen empfunden wird? Einige Beobachter haben angemerkt, dass ein Problem entsteht, wenn man alles in einen Topf wirft: die versuchte Vergewaltigung und den blöden Spruch. Aber genau das Diffuse verschaffte der Bewegung ihre Breitenwirkung. Wo sich jede als Opfer fühlen kann, ist auch jede betroffen.

Damit geht ein radikaler Perspektivwechsel einher. Der moderne Rechtsstaat fußt auf der Annahme, dass sich in einem mühsamen Prozess der Wahrheitsfindung etablieren lasse, was tatsächlich vorgefallen ist. Deshalb die sorgfältige Kodierung der Verfahrensschritte und Straftatbestände. Da ist das MeToo-Strafrecht deutlich weiter: Wo immer sich eine Frau unwohl fühlt, weil der Mächtigere seiner Verantwortung nicht gerecht geworden ist, liegt im Zweifel ein Missbrauch vor.

Die Rammstein-Mitglieder haben in einer Mitteilung darauf hingewiesen, dass die Sachlage ungeklärt ist und sie ein Recht darauf hätten, nicht vorverurteilt zu werden. Das ist formal richtig, aber im Grunde nebensächlich. Die Tatsachenerhebung ist wie die Unschuldsvermutung ein Relikt aus einer Zeit, als man noch dem Rechtsstaat vertraute. Wenn allein das Gefühl zählt, braucht es keine Tatsachenerhebung mehr. Wenn eine Frau sagt, sie habe sich aber missbraucht gefühlt, ist der Fall abgeschlossen. Nichts anderes meint der Satz: Believe the Women, glaube den Frauen.

So sind die meisten Artikel auch als Anklageschrift formuliert. Die Vorwürfe sind notdürftig mit Fragezeichen versehen, weil das Presserecht der aktuellen Entwicklung hinterherhinkt. Aber es besteht kein Zweifel, wem man glaubt. Wenn von „mutmaßlichem Machtmissbrauch“ die Rede ist, dient die Einschränkung „mutmaßlich“ nur noch als Hinweis, dass man sich in einer Welt bewegt, in der die Gesetze von Männern gemacht wurden.

Es ist nicht so, dass Frauen nicht lügen können, das weiß auch die Bewegung. Die Missbrauchsklage der TV-Persönlichkeit Gina-Lisa Lohfink endete mit einer Verurteilung wegen falscher Verdächtigung. Der „Spiegel“ ist wegen seiner Berichterstattung im Fall Luke Mockridge schon zweimal vor Gericht unterlegen. Auch bei Julian Reichelt gibt es starke Zweifel, ob sich die Dinge so zugetragen haben, wie berichtet wurde. Die Angaben der Hauptbelastungszeugin haben sich in weiten Teilen als unplausibel erwiesen.

Aber das ändert nichts an der Sachlage. Wenn Frauen in Missbrauchsverfahren lügen, dann, weil sie sich keinen anderen Rat wissen, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Die Meinungschefin des „Spiegel“, Anna Clauß, hat das neue Rechtsverständnis sehr schön auf den Punkt gebracht. „Selbst wenn Opfer missbräuchlich Tränen und Lügen benutzen, um aus dem strafrechtlich bedeutungslosen Machtmissbrauch einen juristisch besser verfolgbaren sexuellen Missbrauch zu konstruieren, entschuldigt das den Boss nicht.“

Das größte Problem der Bewegung sind nicht starrköpfige Juristen oder uneinsichtige Kolumnisten wie ich. Das größte Problem ist die Trägheit der Masse. Aus der Annahme, dass jede Frau betroffen sei, wird geschlossen, dass sich auch jede Frau betroffen fühlen müsse. Dem ist aber nicht so.

Es war schon immer ein Missverständnis, das voyeuristische Interesse mit dem politischen Interesse zu verwechseln. Als eine Reihe feministischer Gruppen auf dem Höhepunkt der MeToo-Debatte zu einer Großdemo in Berlin aufrief, kamen nicht einmal tausend Menschen.

So ist es jetzt wieder. 240000 Tickets hat Rammstein für vier Konzerte in München verkauft. Die Zahl der rückgegebenen Karten: ein paar Hundert. Und es sind beileibe nicht nur radauhungrige Männer, die ihrer Band die Treue halten. Ein Kollege erzählte mir, dass seine Schwester, Zahnarzthelferin aus Augsburg, samt 18-jähriger Tochter ein Konzert in München besucht habe. Als er sie auf die Vorwürfe gegen Lindemann ansprach, erhielt er zur Antwort, dass ja nichts bewiesen sei.

Auch die Zahnarzthelferin weiß, was Machtgefälle bedeutet. Sie weiß instinktiv, dass ihre Lebenswirklichkeit nichts, aber rein gar nichts gemein hat mit der Redakteurin aus dem Hauptstadtbüro, die ein Rammstein-Auftrittsverbot verlangt. Viele in der arbeitenden Mitte der Gesellschaft haben außerdem eine Ahnung, dass eine Welt, in der es auf die richtigen Kontakte ankommt, um Gehör zu finden, keinen Deut gerechter ist.

Der Rechtsstaat mag langsam sein, aber er steht jedem offen. Er verlangt keinen Instagram-Account und keinen Tik-Tok-Kanal, auf dem man seine Erlebnisse so schildert, dass sie zum Fall werden. Das ist einer seiner Vorteile.

© Silke Werzinger

„Ihr spinnt ja wohl völlig?“

Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Was Sie tun und sagen, ist ohnehin falsch und kann gegen Sie ausgelegt werden

Wie nennt man einen Deutschen, dessen Familie seit Urzeiten in Deutschland lebt? Eingeborener, Kartoffel, Biodeutscher? Die „Zeit“ hat sich für „Urdeutscher“ entschieden. Riesenfehler!

Lange hat es nicht mehr so bei den Kollegen in Hamburg reingeregnet. Was sie sich nicht alles anhören mussten: Sie seien von allen guten Geistern verlassen. Sie würden rechte Strömungen befeuern. Typischer Entsetzensschrei: „Ihr spinnt ja wohl völlig!“

Was die „Zeit“ geschrieben hatte? Diese drei Zeilen auf Twitter: „Integration war gestern: Deutschland ist das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt und die Urdeutschen dürften auf absehbare Zeit zu einer numerischen Minderheit unter vielen werden. Und nun?“

Okay, es war nicht nur das Wort „Urdeutsche“. Es war auch die Bebilderung des Tweets: drei junge, bärtige Männer im BMW-Cabrio, erkennbar nichtdeutschen Ursprungs, der Mann am Steuer mit Handy in der Hand. Wobei: Was heißt schon „erkennbar nichtdeutschen Ursprungs“? Da beginnt das Problem. Irgendwie sind wir ja alle Zuwanderer. Kaum jemand wird seine Ahnenreihe auf Arminius zurückführen können. Und kamen nicht sogar die Vorfahren von Arminius aus Afrika? Eben.

So schallte es jetzt auch den Redakteuren in Hamburg entgegen. Und überhaupt: Die Übernahme der deutschen Gesellschaft durch junge Migranten, das sei doch exakt der Plot jeder rechten Verschwörungstheorie.

Krisensitzung beim Social-Media-Team der „Zeit“. Dann Korrektur: Statt der drei jungen Männer nun das Foto von zwei ukrainischen Frauen. Sieht doch gleich viel freundlicher aus, haben sie sich vermutlich in Hamburg gedacht. Nix da, das Netz kann erbarmungslos sein: „Was zur Hölle, ‚Zeit‘?“, lautete die Reaktion.

Also neuer Versuch. Dieses Mal ein anderer Text. „Früher vertraute Heimat – dann kamen die Anderen. Die Homogenität der 1950er ist bis heute Fixpunkt vieler Einwanderungsdebatten. Dabei gehört Migration seit Jahrhunderten zu Deutschland.“ Welche Homogenität die Redakteure denn meinten, wurde daraufhin gefragt: „Millionen ermordeter Juden, Millionen Displaced Persons, Millionen Vertriebene. An welche ‚vertraute Heimat‘ denken Sie?“

Dritter Anlauf, Kniefall. „Die Wortwahl war missverständlich. Der Text handelt davon, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland statistisch bald nicht mehr in der Minderheit sein könnten.“ Also habe man sich entschieden, den Tweet zu löschen. Kommentar der aufgebrachten Mitleser dieses Mal: „Es wird nicht besser. Jeder hier in Deutschland hat eine ‚Einwanderungsgeschichte‘. Bei den einen liegt sie zwei, bei den anderen zweihundert Jahre zurück.“

Wir sind beim Thema Migration auf der Stufe des „Mindfuck“ angelangt. Wenn schon eine Redaktion, in der nur Leute arbeiten, die garantiert die besten Ansichten und Absichten haben, in Teufelsküche kommt, weil sie sich nicht korrekt genug ausdrückt, wie sollen sich dann erst Leute zurechtfinden, die nicht den lieben langen Tag darüber nachdenken können, wie sich das Verhältnis von Urdeutschen, sorry, von Kartoffeln zu Nichtkartoffeln am besten beschreiben lässt?

„Kartoffel“ geht übrigens, falls Sie jetzt stutzen, das ist von höchster Stelle geklärt. Als die Beauftragte der Bundesregierung für Antidiskriminierung Ferda Ataman noch Kolumnistin beim „Spiegel“ war, hat sie einen Text geschrieben, warum das Wort in Ordnung sei. Auch das gehört zu den überraschenden Wendungen der Debatte.

Manchmal habe ich den Verdacht, es geht bei allem darum, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Migrationsexperten am Laufen zu halten. Ich habe neulich mit einem Kollegen darüber gesprochen, womit all diese Nervensägen ihr Geld verdienen, die offenbar nichts anderes zu tun haben, als andere bei einem Fehltritt zu erwischen. Täusch dich nicht, sagte er, der Bedarf an Beratern, die einem sagen können, wie man durch die Untiefen der neuen Willkommenskultur kommt, ist riesig. Ich würde mir keine Vorstellungen machen, wie groß der Markt für sogenannte Diversity-Trainings sei.

So gesehen trifft es sich gut, dass alles, was man eben gelernt hat, morgen schon obsolet sein kann. Das ist wie mit dem eingebauten Verfallsdatum bei Glühbirnen: Nach dem Diversitätskurs ist vor dem Diversitätskurs.

Waren wir uns nicht zum Beispiel einig, dass man Menschen nicht mehr fragt, wo sie herkommen? Ich erinnere mich, wie sich über Elke Heidenreich ein Empörungssturm entlud, weil sie in einer Talkshow erzählt hatte, dass sie selbstverständlich Taxifahrer, die so aussähen, als kämen die Eltern nicht aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, danach fragen würde, wo sie herkämen. Tagelang tobte das Twitter-Gewitter.

Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman hat selbst ein Buch dazu geschrieben, wie leid sie es sei, immer wieder auf ihre Herkunft angesprochen zu werden. „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!“, heißt es. Und nun? Nun empfiehlt dieselbe Frau Unternehmenschefs, eine „Bestandsaufnahme“ bei den Angestellten zu machen, wo wer herkomme.„Häufig wird Diversität noch mit Frauenförderung gleichgesetzt“, erläuterte sie ihren Vorschlag im „Handelsblatt“. „Vielfalt heißt aber auch, Menschen mit unterschiedlicher sexueller Identität, Religion oder Herkunft in den Blick zu nehmen.“

Der kleine Text in der „Zeit“ hat auch deshalb so viel Empörung ausgelöst, weil er auf eine Wirklichkeit hinwies, die normalerweise ausgeblendet wird. Wenn die Grünen an Einwanderung denken, dann denken sie an die junge Frau mit Migrationshintergrund, die eine Kolumne in der „taz“ unterhält und bei der Böll-Stiftung beredt über den latenten Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft referiert.

„Deutschland wird sich ändern, und zwar drastisch, und ich freue mich darauf“, lautet ein berühmter Satz von Katrin Göring-Eckardt. Ich frage mich inzwischen, für wen die Veränderung wohl drastischer ausfällt: für die deutsche Mehrheitsgesellschaft oder für die Grünen. Ob Katrin Göring-Eckardt schon mal einen Fuß nach Neukölln gesetzt hat? Oder an den Ku’damm, wo sich die Jugend trifft, für die das Auto nicht Untergangssymbol, sondern Freiheitsversprechen ist?

Peter Richter hat in der „Süddeutschen“ gerade eine Meditation über die jungen Männer mit Vollbart angestellt, deren Maskulinität mit der muskulösen Silhouette ihrer Sportwagen korrespondiert. „Immer lautet die Regel nach dem Einparken: erst mal zehn, zwanzig Meter mit breiten Beinen weggehen, dann umdrehen, mit hoch erhobenem Schlüssel, klick, unter Auforgeln aller Lampen den AMG per Funk abschließen, anschließend noch ein wenig mit seligen Blicken über Kotflügel und Diamond-Grill streicheln.“

Auch Bräuche wie das Wagenrennen oder das lustvolle Drehen hochtouriger Boliden auf der Autobahn zum Auftakt einer Hochzeitsfeier sind kaum mit den strengen CO₂-Vorgaben der „Letzten Generation“ vereinbar. Richter schließt seine Betrachtung mit der zutreffenden Beobachtung ab, dass die Autoenthusiasten vom Ku’damm um einiges diverser aufgestellt sein dürften als die recht homogen rötlich blonden Vertreter der Klimaszene.

Ich bin viel in arabischen Ländern unterwegs gewesen, ich mag die Menschen dort. Man findet noch einen Familienzusammenhalt, eine Höflichkeit gegenüber Fremden und einen Respekt vor dem Alter, die bei uns weitgehend verloren gegangen zu sein scheinen. Ich habe auch kein Problem mit offensiv zur Schau gestellter Männlichkeit. Ich fürchte nur, dass in Deutschland nicht alle auf diese eher traditionelle Welt vorbereitet sind.

Mein Rat: Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Die meisten Menschen, die nicht im Diversity-Geschäft sind, finden nichts dabei und geben gerne Auskunft.

Fleischhauer Kolumne Heft 24 2023

© Michael Szyszka

Klassenkampf gegen die da unten: Die Elite-Kinder der „Letzten Generation“

Früher wurde die Arbeiterklasse noch als revolutionäres Subjekt bewundert. Heute steht sie dank der Klimabewegung für alles, was man zu verachten gelernt hat: billiges Essen, billige Witze und billigen Sprit

 Oliver Pocher war neulich bei „Stern TV“. Es ging um Klimaschutz. Die „Stern TV“-Redaktion hatte Bilder vorbereitet, auf denen der Entertainer entweder aus einem teuren Auto ausstieg oder lässig an einem lehnte. Es entspann sich eine Diskussion, ob Pocher ein besonders inniges Verhältnis zu Autos pflege (was er bestritt) und ob solche Fotos auch bei Grünen möglich wären (wie er behauptete).

Es war ein Auftritt, weshalb man Talkshows schaut: ein wenig irre, aber auch irre lustig – bis sich Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“, die zwei Stühle weiter saß, in die Diskussion einschaltete und mit bebender Stimme sagte: „Ich kann nicht glauben, dass wir in diesen Shows sitzen und 2023 diese Debatten führen. Ich kann es nicht mehr aushalten.“

Normalerweise ist an diesem Punkt die Diskussion vorbei. Wenn ein Klimaaktivist an das Weltende erinnert, herrscht spontan Betroffenheit. Nicht so bei „Stern TV“. Was antwortete Pocher? „Dann musst du gehen.“ Ich bin in dem Moment aus dem Stand zum Pocher-Fan geworden. Ich weiß, dieses Bekenntnis wird mein Ansehen in bestimmten Kreisen noch weiter ruinieren (sofern das überhaupt möglich ist). Aber ich bin an dieser Stelle nun einmal zur Wahrheit verpflichtet.

Von Frau Hinrichs war dann erst mal nichts mehr zu vernehmen. Wer Indigniertheit zu seinem Markenzeichen gemacht hat, dem bleibt nur indigniertes Schweigen, wenn ihm pochermäßig in die Parade gefahren wird. Darauf ist man bei der „Letzten Generation“ nicht eingestellt. Schmerzgriffe der Polizei, Beschimpfungen von Autofahrern, Wutattacken – auf all das werden die Mitglieder in Seminaren vorbereitet. Aber nicht auf Pocher bei „Stern TV“. „Dann musst du gehen“ – ein solcher Satz liegt außerhalb der Vorstellungskraft einer Klimaretterin.

Es ist aus der Mode gekommen, die Welt als Welt von Klassengegensätzen zu sehen. Nicht einmal in der SPD ist davon noch die Rede. Lieber spricht man über die Gendergerechtigkeit, der es zum Sieg zu verhelfen gelte, den Kampf gegen den Rassismus und Kolonialismus in unseren Köpfen, den Weg zum Klimafrieden. Auch deshalb ist der Disput zwischen Pocher, dem Trash-Comedian, der nie über den Realschulabschluss hinausfand, und der höheren Tochter aus Bremen, die für die Sache ihr Jurastudium (Berufsziel: Richterin) unterbrach, so aufschlussreich.

Der Klassenkampf ist zurück. Wenn sich die „Letzte Generation“ auf die A 100 setzt, um die Verkehrswende zu erzwingen, treffen zwei Welten aufeinander, die normalerweise streng getrennt sind. Hier die Bürgerkinder, für die das Auto alles verkörpert, was in dieser Gesellschaft falsch läuft – dort das Proletariat, das den in die Jahre gekommenen Volkswagen sofort gegen einen ordentlich motorisierten BMW eintauschen würde, wenn es denn könnte.

Man sieht es schon an den Namen. Eine Mandy oder Charlene sucht man unter den Aktivisten vergeblich. Dafür ist der Raphael dabei und die Aimée und ganz viele Carlas natürlich. Die wenigen Arbeiterkinder, die man im Zweifel bei den Blockaden trifft, finden sich in den Reihen der Polizisten, die mit der Aufgabe betraut sind, die Straße wieder frei zu bekommen, auf die sich Raphael, Aimée und Carla geklebt haben.

Vor zwei Monaten war der große Ver.di-Streik in München. Also „Letzte Generation“ plus öffentlicher Dienst im gemeinsamen Bemühen um die Lahmlegung der Stadt. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt und war extra eine Stunde früher aufgestanden, um das Kind in die Schule zu fahren. Und dann? Die Straßen waren weitgehend leer, nur an den Bushaltestellen standen mehr Menschen als üblich.

Wer konnte, war einfach im Homeoffice geblieben. So ist es auch bei den Sitzblockaden: Gekniffen sind diejenigen, die aufs Auto angewiesen sind, weil sich ihre Arbeit nicht remote erledigen lässt. Also Verkäufer, Handwerker, Servicepersonal, die moderne „Working Class“ eben, die das alte Proletariat ersetzt hat. Das erklärt zum Teil auch die Ruppigkeit der Auseinandersetzung. Eines der ersten Videos dokumentierte einen Lastwagenfahrer, der in so unmissverständlicher Form seinen Unmut über die Blockade zum Ausdruck brachte, dass die Flüche anschließend überblendet werden mussten.

Mit der Klimakrise hat sich auch der Blick auf die da unten verändert. In den siebziger Jahren stand die Arbeiterklasse den Vertretern der Intelligenz nicht näher, aber sie war wenigstens als revolutionäres Subjekt anerkannt. Heute ist sie nur noch ein Residuum verlorener Kämpfe, deren Angehörige für alles stehen, was man in den besseren Kreisen zu verachten gelernt hat: billiges Essen, billige Witze, billigen Sprit.

Der Protestantismus des Weniger funktioniert nicht ohne entsprechende Ausstattung. Um verzichten zu können, braucht es eine materielle Grundlage, die Verzicht erstrebenswert macht. Es ist nicht ganz zufällig, dass mit Luisa Neubauer und Carla Reemtsma zwei Cousinen aus der berühmten Zigarettendynastie an der Spitze der Bewegung stehen. Leute, die schon mit 19 Jahren Urlaubsbilder vom Machu Picchu verschickt haben, sehen anders auf die Welt als Menschen, für die bereits zwei Wochen Malle Luxus sind.

Ist die „Letzte Generation“ eine kriminelle oder gar terroristische Vereinigung, wie manche meinen? Sie ist jedenfalls eine ziemlich verwöhnte Generation. Mit zwei kleinen Kindern und einem schlecht bezahlten Vollzeitjob hat man schlicht keine Zeit, sich in Angst vor dem Klimatod zu verzehren. Manche Obsessionen erledigen sich dadurch, dass man ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt. Deshalb empfiehlt der Psychiater ja dem depressiven Patienten auch viel Bewegung, um die Spirale des Grübelns zu durchbrechen.

Die Wortführer der Linken haben sich immer schwergetan mit dem Volk, dem großen Lümmel. Einerseits waren sie lange von einer sentimentalen Hinwendung erfasst. Vor allem der Arbeiter stand bei ihnen im Ansehen, der ehrliche Malocher, der am Hochofen schwitzt und Eisen biegt. Anderseits waren sie immer wieder erschrocken, wenn sie ihm leibhaftig begegneten. Er ist so roh, so ungelenk, so anders, als man ihn sich vorgestellt hat.

Schon in der Französischen Revolution mussten die Revolutionsführer erkennen, dass zwischen dem Volk, wie sie es sich erdachten, und dem Volk, wie es tatsächlich als revolutionäres Subjekt auf die Bühne trat, ein gravierender Unterschied bestand. „Ich sage nicht, dass sich das Volk schuldig gemacht hat“, erklärte Maximilien de Robespierre im Februar 1793 nach Hungerunruhen und Plünderungen im Pariser Großmarktviertel. „Aber wenn das Volk schon aufsteht, sollte es dann nicht ein seiner Bemühung würdigeres Ziel haben, als es sich nur nach jämmerlichen Nahrungsmitteln gelüsten zu lassen?“

So ist es seitdem immer gewesen: Die Avantgarde macht hochherzige Pläne, die Menge will sich erst einmal den Bauch vollschlagen. Das ist hochgradig enttäuschend, keine Frage.

Auf LinkedIn äußerte sich ein Professor der Hochschule für Fernsehen und Film München dieser Tage folgendermaßen über die Vertreter der „Letzten Generation“: „Es stimmt. Die sind privilegiert. Privilegierte Familien lernen beim Abendessen, über die Gesellschaft zu reflektieren und zu debattieren. Danach wird Cello geübt. Ist das schlimm? Nein. Tiefe Erkenntnis kommt durch stundenlanges Philosophieren. Das ist tatsächlich ein Luxus, dafür Zeit zu haben. Das kann man den KlimaaktivistInnen aber nicht zum Vorwurf machen. Sie werden sich ihrer Verantwortung einfach bewusst. Ich habe größten Respekt für diesen Mut.“

Lässt sich Klassenbewusstsein von oben schöner formulieren? Dank an alle Carlas, dass sie den Luxus ihrer freien Zeit nicht für sich behalten, sondern mit der Gesellschaft teilen!

© Sören Kunz

Die Tücken des Lagerdenkens

Putins Chefpropagandist ein „russischer Woody Allen“ – die Frau, die für Putin die Entführung ukrainischer Kinder organisiert, eine „kümmernde“ Mutter: Was ist mit dem Journalisten Roger Köppel geschehen?

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ Damit ist eine Malaise deutscher Publizistik benannt.

Es wird jeden Tag unerhört viel geschrieben. Wir stehen vor einem unübersehbaren Angebot an Zeitungen und Zeitschriften. Dazu kommen die sozialen Kanäle, die ebenfalls gefüllt werden wollen. Man sollte einen Jahrmarkt der Meinungen erwarten, aber viele Journalisten sind sich in der Beurteilung der Themen erstaunlich einig.

Boris Palmer ist ein Hetzer, Markus Söder ein furchtbarer Populist. Die Freidemokraten sind ein Haufen verantwortungsloser PS-Freunde, und der Klimawandel ist ein Thema, bei dem es keine Neutralität mehr geben darf. Habe ich etwas vergessen? Ach so, ja, selbstverständlich müssen wir uns vor Männern in Acht nehmen, die eine toxische Arbeitsatmosphäre verbreiten.

Til Schweiger ist stark alkoholisiert zum Dreh erschienen (Stress für die anderen!). Außerdem hat er nachts einfach Drehbücher umgeschrieben, sodass die Crew am nächsten Tag die Drehpläne über den Haufen werfen musste (noch mehr Stress!!). Lückenlose Aufklärung hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth verlangt. Schade, dass ihr so etwas immer nur einfällt, wenn sie ausnahmsweise mal nicht selbst für einen Skandal in der Kulturwelt verantwortlich ist.

Es ist ein Labsal, wenn man zwischendurch einen Text findet, der nicht zum hundertsten Mal wiederkäut, was schon an anderer Stelle zu lesen stand. Man könnte ja zum Beispiel darauf hinweisen, dass auch Rainer Werner Fassbinder und Billy Wilder ihren Ideen zum Entsetzen der Produktionsleitung freien Lauf ließen. Aber das findet sich allenfalls als Zweispalter im Feuilleton der „FAZ“, und auch das nur, weil dort mit Claudius Seidl ein Kulturjournalist beschäftigt ist, der noch weiß, was Fassbinder für ein Ungeheuer war.

In gewisser Weise verstehe ich die Wut auf Schweiger. Dass ein Film wie „Manta Manta“ die Kinocharts anführt und nicht das sensible Dokudrama über lesbische Liebe in Somalia, macht alle guten Menschen fertig. Aber kleiner Trost: Wenn sie mit Schweiger durch sind, schlägt endlich die Stunde von Nora Tschirner, dem großen Nachwuchstalent des deutschen Films. Dann werden die deutschen Arbeitsschutzbestimmungen so mustergültig eingehalten, dass Änderungen am Drehbuch nur noch nach basisdemokratischer Abstimmung möglich sind.

Sorry, ich habe mich hinreißen lassen. Eigentlich wollte ich über die Gefahren des Lagerdenkens schreiben. Als ich im Journalismus anfing, dachte ich, ein gewisser Widerspruchsgeist sei Voraussetzung für den Beruf. Da habe ich mich getäuscht, wie ich schnell feststellen konnte. Der Herdentrieb macht auch vor Redaktionsräumen nicht halt. Manchmal habe ich den Eindruck, hier ist er sogar besonders ausgeprägt.

Ich mochte immer Leute, die sich nicht um die Meinung anderer scheren. Beziehungsweise diese zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, ob man die Dinge nicht auch ganz anders sehen könnte. „Letters to a Young Contrarian“, heißt ein Buch des britischen Autors und Über-Contrarian Christopher Hitchens, das ich allen ans Herz legen kann, die sich mehr Streitlust wünschen.

Das Dagegensein hat allerdings seine Tücken. Wenn man aus Prinzip immer die andere Seite vertritt, läuft man Gefahr, an einer Biegung herauszukommen, an der man nie herauskommen wollte.

Ich will ein Beispiel nennen, das mich sehr beschäftigt hat. Ein Bekannter von mir ist Roger Köppel, der Chefredakteur der „Weltwoche“ aus Zürich. Wir haben uns 2005 in Berlin kennengelernt, als er für kurze Zeit die „Welt“ leitete. Für mich war Köppel immer die Schweizer Ausgabe von Christopher Hitchens: maximale Provokationsfreude, gepaart mit einem Schalk, der selbst Feinde entwaffnen konnte.

Vor drei Wochen war Köppel in Moskau. Er hat dort eine Reihe von Putin-Getreuen getroffen, darunter Marija Lwowa-Belowa, die Frau, die für die Entführung und Zwangsadoption Tausender ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Die Kinderverschleppung ist eines der schrecklichsten Verbrechen in diesem Krieg, der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Lwowa-Belowa erlassen.

Das Interview in der „Weltwoche“ beginnt so: „Frau Lwowa-Belowa, Sie sind eigentlich Musikerin, Dirigentin. Was hat Sie bewogen, sich hauptberuflich um Kinder zu kümmern?“ Wenn man unterstellt, dass sich auch Kinderschänder um Kinder kümmern, ist „kümmern“ das passende Wort. Der internationale Haftbefehl? Eine Farce. Putin? Ein herzensguter Mensch, ein echter Vater Russlands.

Anschließend war Köppel noch bei dem Chef-Propagandisten und Talkshow-Star Wladimir Solowjow, der den Lesern als „blitzgescheit“ und „lustig“ vorgestellt wird, ein „russischer Woody Allen“. Zufälligerweise habe ich ein paar Programme von Solowjow gesehen. Wenn Solowjow der russische Woody Allen ist, dann war Joseph Goebbels der erste deutsche Stand-up-Comedian mit Millionenpublikum. „Wollt ihr den totalen Krieg?“: eine herrliche Persiflage auf den Fanatismus der Zeit – so wie Solowjows Ausfälle gegen „unwertes Leben“ ganz sicher nur die russische Propaganda demaskieren sollen.

Was ist mit meinem Freund Köppel geschehen? So wie er es sieht, hassen die Linken Putin, weil er für alles steht, was sie verachten: Familie, Religion, Männlichkeit, Machtpolitik. Hinzu kommt, dass seit Beginn des Krieges bei keiner Partei die Unterstützung für die Ukraine so ausgeprägt ist wie auf dem ehemals pazifistischen Flügel. Wenn die Leute, die man politisch ablehnt, sich für Waffen starkmachen, kann daran etwas nicht stimmen, also ist man dagegen – das ist die Logik dahinter.

Auch für mich waren die ersten Monate der Ampel nicht einfach. Ich schreibe lieber darüber, welchen Unsinn die Grünen anstellen, als ihnen zuzustimmen. Aber es hilft nichts: Es waren nun einmal die Grünen, die als Erste erkannten, welche Gefahr Putin für Europa bedeutet. Hätte ich darüber hinwegsehen sollen, um mein Feindbild zu bewahren?

Ich habe auch alle Angriffe auf Annalena Baerbock eingestellt. Es ist mir nicht leichtgefallen, wie Sie sich vorstellen können. Ich will meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass es so bleibt. Wenn ich lese, dass der nigerianische Staatspräsident die Benin-Bronzen, die eben noch mit großer Geste zurückgegeben wurden, zum Privatbesitz erklärt, spüre ich ein leichtes Zucken. Dennoch: Es ist unter anderem der Beharrlichkeit der Außenministerin zu verdanken, dass die Bundesregierung am Ende die Panzer herausgerückt hat, die sie in Kiew so dringend brauchen.

Ich glaube, es zahlt sich aus, einen Standpunkt zu haben und den auch dann beizubehalten, wenn es Überwindung kostet. Aus Prinzip dagegen zu sein führt erst in den Zynismus und dann in den moralischen Bankrott. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit der Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Wer seine Haltung davon abhängig macht, wer einem zustimmt, ist genauso unfrei wie derjenige, der immer die Gegenposition einnehmen muss.

Mir wird oft unterstellt, dass ich provozieren wolle. Aber das ist ein Missverständnis. Ich würde nie etwas schreiben, hinter dem ich nicht stehen kann. Wenn man schon verprügelt wird, dann doch lieber für Dinge, die man auch so meint – jedenfalls zu 51 Prozent.

Es gibt zwei Grundsätze, an die ich mich halte, seit ich diesen Job mache. Die eine Regel lautet: Kein böses Wort über Leute, die ohnehin schon am Boden liegen. Wenn sich alle im Verdammungsurteil einig sind, braucht es nicht noch einen Kommentar von mir. Im Zweifel ergreife ich für den in Bedrängnis Geratenen lieber Partei, wenn es sonst keiner tut.

Die andere Regel habe ich von Harald Schmidt übernommen: Keine Witze über Leute, die weniger als 10 000 Euro im Monat verdienen. In dem Fall kann ich nicht garantieren, dass ich meinem Anspruch immer gerecht werde. Als Kevin Kühnert noch nicht SPD-Generalsekretär, sondern lediglich Juso-Vorsitzender war, musste ich eine Ausnahme machen. Aber ich bemühe mich. Sie sehen, auch bei mir ist noch nicht alles verloren.

© Sören Kunz

Partei des Establishments

Die Grünen leben vom Anspruch, Interessenvertreter der Jugend zu sein. Jetzt stellt sich heraus: Viele junge Menschen wählen lieber FDP. Es lässt sich kaum in Worte fassen, welche Schock- wellen dies durch die grüne Gemeinde schickt.

Vor ein paar Wochen hat der Deutsche Beamtenbund seine Mitglieder befragen lassen, wo sie politisch stehen. 32 Prozent der Beamten erklärten ihre Sympathie für die Grünen. Spitzenwert. Hätten Deutschlands Beamte am Sonntag die Bundestagswahl zu entscheiden gehabt, wäre jetzt Annalena Baerbock auf dem Weg ins Kanzleramt und nicht Olaf Scholz.

Wäre ich ein Spötter, würde ich sagen, die Zahl erklärt das enorme Ruhebedürfnis, das aus grünen Programmen spricht. Die Grünen reden ständig davon, wie fortschrittlich sie seien. Am laufenden Meter ist von dem progressiven Bündnis die Rede, das zu schmieden sie beabsichtigen. Tatsächlich ist allerdings nicht Veränderung ihr Ziel, sondern der weitreichende Schutz davor.

Der Fluchtpunkt aller Bestrebungen ist die dörfliche Idylle, in der nichts mehr raucht und lärmt. Wenn die Grünen von Stadt reden, meinen sie den Kiez und seine Bewahrung – vor dem Ausbau der Stadtautobahn, vor zu vielen Touristen und natürlich vor allen Großprojekten, wozu schon ein Riesenrad am falschen Platz gehört. Dass sich viele beim Betrachten der grünen Wahlkampagne an die repressive Heimeligkeit der 50er Jahre erinnert fühlten („Du willst etwa nicht mitmachen bei uns? Du denkst, du bist etwas Besseres?“), war kein Versehen, sondern Ankündigung.

Kann man es der Jugend verdenken, wenn sie sich nach Alternativen umsieht? Die beliebteste Partei unter Erstwählern ist die FDP, wie eine Nachwahlbefragung am Sonntag ergab. Das war natürlich ein Schock für alle Freunde der grünen Sache: Was, nicht Robert und Annalena sind die Helden der jungen Menschen, sondern Christian und Wolfgang?

Keine Umfrage hat für so viel mürrische Kommentare gesorgt. Die gleichen Leute, die eben noch wortreich erklärten, warum man mehr auf die Jugend hören müsse, waren nun dabei, über den Egoismus derselben herzuziehen. Selbst bessere Damen wie die in Feuilleton-Kreisen geschätzten Schöngeisterinnen Teresa Bücker oder Jago- da Marinic hoben indigniert den Zeigefinger, um die Freigeister zu belehren, dass Klimawandel kein Spaß sei.

Es ist etwas, was die Grünen nicht gerne hören, weil sie bis heute von dem Image zehren, irgendwie wild und ungebärdig zu sein: Aber wenn es eine Bewegung des Establishments gibt, dann die Ökobewegung. Selbst in den Führungsetagen der Wirtschaft erfreut sich die Partei inzwischen großer Beliebtheit. Die „Wirtschaftswoche“ veröffentlichte im April eine Umfrage, wonach sich ein Viertel der deutschen Führungskräfte Annalena Baerbock als Kanzlerin wünschte.

Was ich an den Grünen aufrichtig bewundere, ist ihre Fähigkeit, immer dabei zu sein, aber nie beteiligt. Sie sind mittlerweile in zehn von 16 Landesregierungen dabei. Sie haben die Mehrheit des medial-publizistischen Apparats hinter sich. Wenn Fridays for Future zum Klimastreik aufruft, gibt selbst der freundliche „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni jede Zurückhaltung auf und trommelt für eine Teilnahme. Dennoch gehen die Grünen bis heute als Oppositionspartei durch.

Schon aus diesem Grund bin ich dafür, dass sie endlich in die Bundesregierung einziehen. Wer anderen dauernd sagt, wo es längsgeht, sollte endlich auch mal nach außen Verantwortung übernehmen für das, was daraus folgt. Wobei: Sicher bin ich mir nicht, dass es so laufen wird. Wenn sie bei den Grünen eine Kunst perfektioniert haben, dann die, auch gegen eigene Entscheidungen Opposition zu betreiben, ohne dass ihnen das verübelt wird.

Viele Menschen denken, ich sei aus Prinzip gegen die Grünen. Ich habe die Grünen über Jahre gewählt, am Anfang aus Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Ich kann nicht sagen, wann ich der Partei untreu wurde. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass mir die Selbstzufriedenheit auf die Nerven ging, die aus dem Bewusstsein erwächst, auf der richtigen Seite zu stehen, ja, eigentlich immer recht zu haben.

Wenn ich sagen soll, was mich an den Grünen am meisten stört, dann ist es der passiv-aggressive Ton, mit dem sie Andersdenkenden begegnen. Vermutlich schlägt hier meine linke Erziehung durch. Der Widerspruch gegen Autoritäten wurde bei mir früh angelegt. Wenn mir jemand pädagogisch kommt, suche ich das Weite.

Ich kann auch mit dem unbedingten Glauben an das segensreiche Wirken des Staates wenig anfangen. Es heißt oft, Grüne und Freidemokraten seien verwandt, weil sie aus demselben bürgerlichen Milieu stammten. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein.

Ein Mantra von Robert Habeck lautet, der Staat, das seien doch wir alle. Wo er geht und steht, fällt dieser Satz. Ich will dem grünen Parteivorsitzenden nicht zu nahe treten, aber die englischen Klassiker scheinen in seinem Philosophiestudium allenfalls am Rande vorgekommen zu sein. Hätte er sie gelesen, wüsste er, dass Staatsskepsis am Beginn der Aufklärung steht. Die Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens ist die Freiheit, sich der Obrigkeit zu widersetzen.

Es war immer ein Gedankenfehler der Linken, dass sie Staat und Gesellschaft verwechseln. Das hängt möglicherweise mit ihrer Herkunft zusammen. Ich habe mir vor Jahren mal den Spaß gemacht, die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Westdeutschland anzusehen. Keine Generation ist so restbestandsfrei in den Staatsdienst gewechselt wie die erste Generation von Bewegungslinken, die berühmten Achtundsechziger. Zwischen 1968 und 1978 stieg die Zahl der öffentlich Beschäftigten um fast 40 Prozent. Das hat es vor- und nachher nie wieder gegeben.

Der öffentliche Dienst ist eine wunderbare Sache – lebenslange Beschäftigung, 13. Monatsgehalt, überschaubare Arbeitszeit, nichts dagegen zu sagen. Nur, waren die Linken nicht angetreten, den Staat aus den Angeln zu heben, statt sich in ihm einzurichten, fragte ich mich beim Blick auf die Zahlen. Wollten sie nicht Gegenmacht entfalten, Widerstand aufbauen? Es gibt von Kurt Tucholsky den schönen Satz: „Vor einem Schalter stehen: Das ist das deutsche Schicksal. Hinter dem Schalter sitzen: Das ist das deutsche Ideal.“ Meine Lehrer wussten schon, warum sie Tucholsky verehrten.

Den Grünen hängt der Ruf an, sie seien eine Verbotspartei. Aber das trifft es nur zur Hälfte. Die Liste der Dinge, auf die man besser verzichten sollte, ist bei ihnen lang, schon wahr. In einer Diskussion machte mich neulich eine Mitarbeiterin von Annalena Baerbock darauf aufmerksam, dass einige ihrer Bekannten glaubten, die Parteivorsitzen- de wolle jetzt Haustiere verbieten. Sie war erschüttert, wie viele Leute, die sie kannte, das für bare Münze nahmen. Aus meiner Sicht zeigt es, wie tief das Image als Verbotspartei verankert ist.

Mehr als Verbote zeichnet die Grünen allerdings der anstrengende Optimismus des deutschen Pfarrhauses aus. Im Grunde gibt es kein Problem, das man nicht mit gutem Willen und Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann. Was andere als Verbot bezeichnen, sehen die Grünen eher als Anleitung zu einem besseren Leben. Deshalb reagieren sie auch mit solchem Unverständnis, dass manche Menschen einfach nicht erkennen wollen, wie einfach es wäre, wenn alle sich ein wenig mehr am Riemen rissen.

Der Reporter Bent Freiwald vom Digital-magazin „Krautreporter“ hat sich die Tage die Mühe gemacht, mal nachzufragen, warum so viele Junge FDP wählen. „Der Wille nach Veränderung und das Ablehnen des Status quo ist der treibende Faktor“, lautete eine Antwort. „Ganz besonders während Corona ist uns einfach immer wieder gezeigt worden, dass der Staat kein Ermöglicher ist, sondern Verhinderer“, eine andere.

Man kann auch ohne Philosophiestudium zur Staatsskepsis finden, wie man sieht. Nicht für jeden jungen Menschen ist die beruhigte Welt ein Sehnsuchtsziel.

©Michael Szyszka

Der verpanzerte Mann

Seine Fans erklären die seltsame Reglosigkeit von Olaf Scholz zum Zeichen von Verlässlichkeit. Man kann sie aber auch unheimlich finden. Was ist von einem Politiker zu halten, der sich jede Regung wie Zorn oder Wut abtrainiert hat?

Ich habe mir in der Mediathek der ARD die Dokumentation von Stephan Lamby über den Wahlkampf angesehen. Zehn Monate ist der Dokumentarfilmer den Spitzenkandidaten gefolgt. Der Film hat viel Beachtung gefunden. Lamby ist dafür bekannt, dass ihm Aufnahmen gelingen, die sattsam Bekanntem Unbekanntes hinzufügen.

Es gibt auch in diesem Film wieder aufschlussreiche Nahaufnahmen. Eine Szene ragt dabei heraus.

Der Kanzlerkandidat der SPD sitzt an einem hellen Konferenztisch. Er trägt ein dunkles Jackett, ein weißes Hemd ohne Schlips, die linke Hand ruht auf dem rechten Unterarm.

Lamby fragt, wie es zu einem Wahlkampffilm kam, den die SPD der Hauptstadtpresse vorgeführt hatte und in dem Vertraute des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet auf sehr persönliche Weise angegangen wurden. Der Spot war auf scharfe Kritik gestoßen und daraufhin von der SPD wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Kannte der Kandidat das Video?

„Der Kampagnenleiter hat mir be-richtet, dass er nicht ausgesendet wird und genau einmal gezeigt worden ist“, antwortet Olaf Scholz in die Kamera.

„Und warum?“, hört man Lamby aus dem Off fragen.

„Es ist so, dass die Kampagne sich konzentriert auf die Dinge, die für die Zukunft unseres Landes wichtig sind.“ An dieser Stelle schwenkt die Kamera auf den Dokumentarfilmer, sodass man ihn ausnahmsweise in Person sieht.

„Es tut mir leid, ich muss da nach-fragen. Es gibt doch einen Grund, warum dieser Spot jetzt nicht mehr gezeigt wird. Eine ganz einfach Frage: Warum?“ Wieder antwortet Scholz, ohne zu antworten, in dieser eigentümlich flachen, leblosen Stimme, die ihn kennzeichnet und die jetzt noch etwas flacher und lebloser ist.

Lamby, nun wieder aus dem Off: „Nur, dass ich es verstehe: Kannten Sie den Spot?“

„Das ist ein…“, setzt Scholz an. „Diese.“ Pause. Dann: „Die Maßnahmen, die ich gebilligt habe, sind diejenigen, über die wir hier miteinander gesprochen haben und die ich richtig finde, das sind die Plakate, über die wir hier reden, manches, was noch keiner kennt und demnächst kommt.“

Es ist ein bizarrer Moment. Hat Scholz die Frage nicht verstanden? Das ist kaum anzunehmen, schließlich wird sie ihm im Laufe des Interviews mehrfach vorgelegt. Treibt er ein Spiel mit dem Journalisten? Auch das lässt sich ausschließen.

Man versteht die Reaktion nicht. Es wäre so einfach: Scholz müsste nur sagen, dass er den Clip gesehen und dann beschlossen hat, dass er nicht mehr gezeigt wird. Aber er entscheidet sich dafür, wie ein Mann zu reden, der im Hotel Lux in Moskau sein Ohr an der Wand zum Flur hat.

In Lambys Film „Wege zur Macht“ nimmt die Szene eine knappe Minute ein. Tatsächlich dauerte die Befragung mehr als fünf Minuten, wie der Journalist berichtete. Insgesamt achtmal fragte er nach, ohne eine Antwort zu erhalten. Das vielleicht bizarrste Detail dieses durch und durch seltsamen Auftritts: In der ganzen Zeit bewegt Scholz nicht einmal seinen Körper. Er verzieht auch nicht das Gesicht oder gibt durch eine Geste zu erkennen, dass ihm die Situation unangenehm oder lästig ist.

Olaf Scholz hat sich durch seine Reglosigkeit den Spitznamen „Scholzomat“ erworben. In vielen Porträts wird auf seine Sprödigkeit abgehoben. Wasser beim Kochen zuzusehen sei aufregender, hieß es in einer Wahlkampfbeschreibung in der „New York Times“.

Aber das trifft es aus meiner Sicht nur unzureichend. Die Langeweile, die Scholz verbreitet, verdeckt eine tiefer reichende Leerstelle. Sie ist Ausdruck einer grundsätzlichen Disposition.

Man vermutet bei jemandem wie dem Finanzminister automatisch, dass es sich bei der Beherrschtheit um eine besondere Form der Disziplin handelt, eine spezielle Gabe, Gemütsaufwallungen wie Zorn, Furcht oder Wut unter Kontrolle zu halten. Aber was, wenn er diese emotionalen Zustände gar nicht kennt (oder wenn, dann in nur sehr abgeschwächter Form)? Wer nie von Wut oder Zorn heimgesucht wird, der muss sich auch nicht disziplinieren.

Seine Leute versuchen, die Reglosigkeit als Zeichen von Verlässlichkeit und Seriosität auszugeben. Auf mich wirkt dieses Maß an Selbstbeherrschung eher unheimlich.

Man hat das im Wahlkampf ja nicht ausreichend gewürdigt: Aber es ist gerade mal anderthalb Jahre her, dass ihm seine Partei eine schlimme Niederlage zufügte.

Über Wochen warb Scholz für sich als Parteivorsitzender mit dem Programm, das ihm jetzt im Bundestagswahlkampf Umfragewerte von 25 Prozent bescherte. Bis zum Schluss war er fest davon überzeugt, dass es zwingend auf ihn zulief. Stattdessen entschieden sich die SPD-Mitglieder mehrheitlich für ein Pärchen, dessen Versprechen lautete, anders und vor allem linker zu sein als Scholz.

Ich glaube, man macht sich keine Vorstellungen, was es bedeutet, wenn man auf offener Bühne gedemütigt wird. Wenn man als Minister erleben muss, wie einen ein Juso-Jüngelchen aus Berlin-Schöneberg, das in seinem Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat außer einem abgebrochenen Studium der Kommunikationswissenschaften, jeden Tag über die Medien wissen lässt, man sei ein Politiker von gestern.

Wer Kanzler werden wolle, müsse für den Wahlkampf die Nerven haben, sagt Scholz gleich zu Anfang von Lambys Film. Das ist natürlich wahr. Auch Helmut Kohl hat Intri-gen und Rückschläge verkraften müssen. Bei Angela Merkel erinnere ich mich an den Satz, sie fühle sich wie ein nacktes Hühnchen in der Tiefkühltruhe. Da war sie noch Fraktionsvorsitzende der CDU und gerade schwer in Bedrängnis, weil die Männer im Klub ihr den Platz an der Spitze streitig machten.

Aber beide haben ihren Weg gefunden, die Frustrationen und Demütigungen zu kanalisieren – Kohl, indem er die Getreuen um sich scharte und dann Trost im Essen suchte, Merkel, indem sie später als Kanzlerin alle abservierte, die ihr in die Quere gekommen waren.

Nicht einmal zu einem ordentlichen Racheakt scheint Scholz in der Lage. Das hat natürlich seinen Vorteil. Die Emotionslosigkeit ermöglicht es ihm, sich auch mit den Leuten wieder zusammenzutun, die eben noch in Talkshows in Zweifel zogen, ob er überhaupt ein richtiger Sozialdemokrat sei.

Dass die SPD kurz davor steht, ins Kanzleramt einzuziehen, verdankt sie ganz wesentlich der Fähigkeit des Kandidaten, seinen innerparteilichen Gegnern die Angst zu nehmen, er würde sich nach einem Wahlsieg schadlos halten. Das ist keine geringe Leistung. Auch hier fragt man sich allerdings: zu welchem Preis?

Ich bin kein Psychologe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gesund ist, wenn man sich so weit von sich selbst entfernt, dass man selbst bei heftigsten Attacken keine Regung zeigt. Ganze Bibliotheken sind über das Unglück des verpanzerten Mannes geschrieben worden, an dem alles abprallt. Legionen von Therapeuten haben dargelegt, wie verhängnisvoll es für den Seelenhaushalt ist, wenn man Zorn und Wut so weit einkapsele, dass man nicht einmal mehr spüre, wenn man zornig sei.

Es ist eine Pointe dieses seltsamen Wahlkampfs, dass die Deutschen bereit sind, sich einem Mann anzuvertrauen, über den sie so wenig wissen wie wohl über keinen Kanzlerkandidaten zuvor. Wir kennen die Stationen seines Aufstiegs; wir wissen, welche Passagen im SPD-Programm ihm besonders am Herzen liegen. Aber welche Gefühle ihn begleiten, wenn er an den Sieg denkt, welche Hoffnungen und Ängste, all das liegt im Dunkeln.

Dass Olaf Scholz zu einer erstaunlichen Doppelbödigkeit in der Lage ist, darauf geben die Skandale Hinweis, die man ihm zulasten legt. Viele Wähler denken, sie wählen mit Olaf Scholz die Verlässlichkeit. Vielleicht sollten sie sich auf eine Überraschung einstellen. Mit einer gewissen Gefühlskälte geht ja mit-unter auch eine verblüffende Unberechenbarkeit einher.

©Sören Kunz

Eine Frage der Herkunft

Eine Studie sagt, dass Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder sowie ausländische Wurzeln haben. Auch wenn es tabu ist: Wer die Impf- bereitschaft steigern will, kommt nicht umhin, nach dem Migrationshintergrund zu fragen.

Warum lassen sich so viele Menschen nicht impfen? Mich beschäftigt die Frage. Viele Argumente sprechen fürs Impfen. Die Zahl der Infektionen steigt wieder, auch die Krankenstationen füllen sich. Auf den Intensivstationen liegen jetzt 1500 Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind. Über 90 Prozent der Patienten sind ungeimpft. Die Impfung verhindert eine Ansteckung nicht vollständig. Aber dass man so erkrankt, dass man beatmet werden muss, ist extrem unwahrscheinlich.

Ich gehöre zu den Menschen, denen es schon Anfang des Jahres nicht schnell genug gehen konnte. Kaum hatte in Bayern das erste Impfzentrum eröffnet, stand ich auf der Warteliste. Mein Impfpass hat keine freie Seite mehr. Tetanus, Typhus, Tollwut, Gelbfieber, japanische Enzephalitis – bei mir ist alles abgedeckt. Wenn mir der Arzt sagt, er würde eine Impfung empfehlen, rolle ich schon den Ärmel hoch.

Vielleicht bin ich zu sorglos. Ich komme aus einer Generation, die noch die Schluckimpfung kannte. Von einem Kind in der Nachbarschaft hieß es, es sitze seit der Polio-Prophylaxe im Rollstuhl. Ein sogenannter Impfschaden. Immer wenn der Junge an uns vorbeifuhr, schlugen wir ein Kreuz, dass dieses Schicksal an uns vorbeigegangen war. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass jemals davon die Rede gewesen wäre, dass man Impfungen misstrauen müsse. Wenn es in den siebziger Jahren schon Impfgegner gab, dann kann ihre Zahl nicht größer gewesen sein als die der Zeugen Jehovas.

Letzte Woche kam ich vor der Kita mit einem Vater ins Gespräch, der gerade aus dem Frankreichurlaub zurückgekehrt war. Wir unterhielten uns über die Quarantäne-Bestimmungen. Wie sich herausstellte, hat er sich bis heute nicht impfen lassen. Ich glaube, es ist der Widerwille, bei einer Sache Anordnungen Folge zu leisten, von der er findet, dass sie Privatsache sei. Eigentlich ist mir die Haltung sympathisch. Ich mag es auch nicht, wenn man mich bedrängt. Andererseits: Lieber einen Stich in den Arm als künstlich beatmet, denke ich mir.

Ab Oktober muss er jetzt jeden Test selbst bezahlen. Es wird ein Ringen. Je schwerer es ihm die Regierung macht, desto größer sein Widerwille. Ich vermute, dass er am Ende nachgeben wird, weil er es leid ist, jedes Mal einen Test zu machen, wenn er zum Friseur oder ins Restaurant will. Aber sicher bin ich mir nicht. Bayern können sehr stur sein.

Ich glaube, die Zahl der echten Impfgegner wird überschätzt. Die meisten denken wie der Vater aus meiner Kita. Oder sie sind sich unsicher, was die Nebenwirkungen angeht. Interessanterweise scheint die Zahl der Impfskep-tiker unter Krankenschwestern besonders hoch zu sein. Hier hat sich hier das Gerücht verbreitet, die Impfung mache unfruchtbar. Schwer zu sagen, wer das aufgebracht hat, aber es ist unter den Pflegekräften wie ein Lauffeuer herumgegangen.

Es gibt offenbar auch eine Menge Leute, die einfach die Dringlichkeit nicht sehen. Ich habe dazu ein aufschlussreiches Interview mit einem Lungenarzt gelesen, auf dessen Station viele Covid-Fälle liegen. Wenn er die Patienten bei der Aufnahme fragt, warum sie sich nicht rechtzeitig haben impfen lassen, sagen viele, sie seien organisatorisch noch nicht dazu gekommen. Oder: Sie hätten gedacht, mit einem guten Immunsystem sei man geschützt. Der Arzt spricht es nicht direkt aus, aber die Impfbereitschaft scheint auch eine Frage des sozialen Hintergrunds zu sein. Zu dem gleichen Schluss kommt auch eine diese Woche veröffentlichte Studie der Uni Erfurt, wonach Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder großziehen sowie öfter einen niedrigen Bildungsstand und ausländische Wurzeln haben.

Ich fühlte mich an ein Gespräch erinnert, das ich auf dem Höhepunkt der dritten Welle mit einem Bekannten hatte, der ein großes Klinikum in Deutschland leitet und der erzählte, dass eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen auf der Intensivstation über einen Migrationshintergrund verfügten. Es sei in der Ärzteschaft ein offenes Geheimnis, dass die Zahl der Patienten mit ausländischen Wurzeln viel höher sei, als das ihrem Anteil an der Bevölkerung entspreche. Sollte man darüber nicht berichten, fragte ich. Wird schwierig, sagte mein Bekannter. Wenn du offiziell bei der Klinik anfragst, werden sie dir sagen, dass man keine Daten zu sozialer Herkunft oder ethnischem Hintergrund erhebt.

Herkunft ist ein Tabu, weshalb man ja auch nicht mehr sagen soll, ob der Handtaschenräuber aus Deutschland oder Rumänien stammt. Ich halte das für einen Fehler. Die Leute machen sich auch ohne Hilfestellung der Medien ihren Reim auf die Dinge. Wenn von einer Großhochzeit die Rede ist, die außer Kontrolle geraten sei, gehen die meisten stillschweigend davon aus, dass es sich nicht um eine typisch deutsche Festgemeinschaft gehandelt haben wird.

Es macht es auch schwerer gegenzusteuern. Wenn man wüsste, dass die Zahl von Menschen, die noch nicht geimpft sind, in migrantischen Vierteln besonders hoch ist, könnte man gezielt dort hingehen und für die Impfung werben. In Berlin boten sie Impfwilligen diese Woche einen Döner dazu an. Ich habe sonst wenig Vertrauen in die politischen Künste des Berliner Senats, aber das halte ich ausnahmsweise für eine gute Idee. Man kann sich darüber lustig machen, dass man Menschen mit Gutscheinen zum Impfen lockt. Aber wenn es hilft, Schwankende zu überzeugen, warum nicht?

Wir neigen dazu, von uns auf andere zu schließen. Das lässt sich durch die ganze Pandemie beobachten. Wenn die Politik den Bürgern Homeschooling empfiehlt, scheitern nicht wenige Bürger schon am Wort. Jetzt hat die Regierung eine Impfwoche ausgerufen. Dass es Menschen gibt, die keinen Hausarzt haben, weil ihnen ihre Gesundheit mehr oder weniger egal ist, können sich viele Politiker schlechterdings nicht vorstellen. So wie sie sich ja auch nicht vorstellen können, dass es Leute gibt, die sich morgens nicht einmal in der Lage sehen, ihren Kindern die Zähne zu putzen, geschweige denn ihnen ein vernünftiges Frühstück zuzubereiten.

Wir haben uns abgewöhnt, genauer hinzusehen, weil es nicht als opportun gilt. Wenn vom Leben am anderen Ende der Gesellschaft die Rede ist, dann in merkwürdiger verklärter Form. Wo jemand scheitert, sind immer die Verhältnisse schuld oder das System oder irgendeine höhere Macht, die man verantwortlich machen kann. Deshalb gibt es ja heute im Prinzip auch keine soziale Frage mehr, die sich nicht mit finanziellen Zuwendungen oder gutem Zureden lösen ließe.

In der „New York Times“ fand sich neulich ein langes Stück über die geringe Impfquote unter Schwarzen. Normalerweise lässt die „Times“ kein gutes Haar an den Hillbillys auf dem Lande, die auf Maske und Impfen pfeifen. In dem Fall war die Redaktion voller Verständnis. Die lange Geschichte der Diskriminierung lasse Schwarze skeptisch auf das Gesundheitssystem blicken, lautete der Tenor. Dass sich viele nicht impfen lassen wollen, sei so gesehen eine Bestätigung des latenten Rassismus der Gesellschaft.

Ich warte auf den Tag, wo auch in Deutschland jemand behauptet, dass die geringe Impfquote unter Migranten auf ihre Stigmatisierung zurückzuführen sei. Da ist mir der normale Impfgegner lieber, muss ich sagen. Der glaubt vielleicht an Quark. Aber er macht wenigstens andere nicht für seinen Quark verantwortlich.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin auch in der Frage des Impfens ganz liberal eingestellt. Wenn sich jemand nicht impfen lassen will, sollte man ihn nicht dazu zwingen. Zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehört das Recht, Risiken einzugehen, die Leute wie ich unbedingt vermeiden wollen. Ich sehe auch nicht, dass die Gefahr, dass Kinder ernsthaft erkranken, so groß ist, dass sie einen Impfzwang rechtfertigen würde.

Es sollte nur niemand erwarten können, dass wir alles noch einmal abschließen, wenn die Krankenhäuser wieder überlaufen. Wer dann keinen Platz auf der Intensivstation bekommt, weil das Immunsystem doch nicht stärker als das Virus war, hat Pech gehabt. Bislang drücken sich Politiker um eine klare Aussage herum, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass sie sich auch hier deutlich äußern.

©Michael Szyszka (mit Christianie Biniek)

Jetzt wird es ernst

Während in den Zeitungen steht, dass Rot-Grün-Rot ein Schreckgespenst aus der Mottenkiste sei, bereiten sie bei der Linkspartei schon ein Sofortprogramm für den Tag nach der Wahl vor. Bürger, bringt euer Geld in Sicherheit!

Erinnern Sie sich noch an den Auftritt von Gerhard Schröder in der Wahlnacht 2005? Wie er im Fernsehstudio saß und die Öffentlichkeit im Schröder-Brummton wissen ließ, dass ja eigentlich er die Wahl gewonnen habe?

„Herr Bundeskanzler“, setzte der Moderator an, worauf Schröder ihn sogleich unterbrach: „Is’ ja schön, dass Sie mich so ansprechen.“ „Sind Sie jetzt schon zurückgetreten?“ Schröder: „Nein, überhaupt nicht. Ich wundere mich nur.“ „Also ich sage noch mal, Herr Bundeskanzler, das sind Sie ja noch.“ „Das bleibe ich auch, auch wenn Sie dagegenarbeiten.“ Damit war der Ton gesetzt.

Die 45 Minuten in der sogenannten Elefantenrunde gingen als Krawallauftritt in die Geschichte ein. Schröder selbst nannte sein Auftreten später suboptimal. Das Verrückte dabei ist: Er hatte recht. Wenn er gewollt hätte, hätte er Kanzler bleiben können.

Ein Bekannter hat mich neulich darauf hingewiesen, dass die Sitzverteilung locker für eine dritte Amtszeit gereicht hätte. Ich wollte es zunächst nicht glauben, aber es stimmt: Hätte Schröder die Linkspartei ins Boot genommen, wäre Angela Merkel nie zum Zug gekommen. Rot-Grün-Rot verfügte nach Auszählung aller Stimmen über eine Mehrheit von 20 Abgeordneten.

Wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Franz Müntefering führte die SPD als Juniorpartner in die Große Koalition. Gemeinsam regieren mit den Irren von der Linken? Dann lieber den Vizekanzler als den Kanzler stellen. In der Hinsicht war auf die alte SPD Verlass. Deshalb holte ja Schröder auch noch in seiner schlechtesten Verfassung mehr Stimmen als jeder Bewerber nach ihm.

Der Vernunftgrad der Linkspartei hat sich nicht verbessert. Die Zahl der Irren in ihren Reihen ist eher größer als kleiner geworden. Aber die SPD ist heute eine andere. Was für Leute wie Schröder und Müntefering ein Verrat an der Sozialdemokratie gewesen wäre, ist jetzt Teil von Planspielen und Sondierungen im Parteivorstand.

Uns wird versichert, dass es nach dem 26. September niemals zu einem Bündnis mit der Linken kommen werde. Das sei ein Schreckgespenst aus der Mottenkiste. Außerdem: Wer habe schon Angst vor Rot-Grün-Rot? Also: alles total unrealistisch und der Aufregung nicht wert. Im Netz werden Bildchen herumgereicht, die Olaf Scholz an Bord eines eleganten Motorboots im Golf von Venedig zeigen. Hahaha, so sehen also Linksradikale aus, heißt es dazu.

Je mehr ich lese, dass ich mich vor etwas fürchte, was ich mir nur einbilde, das aber ganz und gar ungefährlich ist, desto misstrauischer werde ich. Ich gehöre zu den Leuten, die gerne wissen, wen sie eigentlich wählen, wenn sie ihre Stimme abgeben. Nennen Sie mich old fashioned. Für mich macht es einen gewaltigen Unterschied, ob neben Olaf Scholz und Annalena Baerbock auch Gregor Gysi und Janine Wissler am Kabinettstisch sitzen oder Christian Lindner und Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Die Linkspartei ist nicht der nette Mann aus Thüringen, der jeden Morgen mit seinem kleinen Hund Gassi geht und auf dem Schreibtisch die Bibel liegen hat. Den stellen sie immer ins Schaufenster, wenn sie die Welt von ihrer Harmlosigkeit überzeugen wollen. Die Linkspartei, das sind neben Altkadern und Jungtrotzkisten wie Frau Wissler die Versprengten diverser Weltrevolutionen, die bis heute davon träumen, das System aus den Angeln zu heben.

Es ist eine Partei, in der man sitzen bleibt, wenn der israelische Staatspräsident im Bundestag spricht, weil man findet, dass sich die Juden ohnehin seit Langem wieder zu mopsig machen. In der man der Meinung ist, dass jeder, der an der Mauer erschossen wurde, im Grunde selbst schuld ist, da er ja nicht über die Mauer hätte flüchten müssen. In der man den Taliban gratuliert, dass sie dem afghanischen Volk „seine Freiheit und Souveränität“ zurückgegeben hätten, und Glückwunschtelegramme an die letzten verbliebenen Diktatoren des ehemaligen sozialistischen Weltreichs schickt.

Vor einem Jahr tauchten im Netz versehentlich Videoausschnitte aus einer Strategiekonferenz auf, zu der die Parteiführung geladen hatte. Wer wissen will, mit wem er es bei der Linken zu tun hat, sollte die Clips ansehen, in denen Witzchen darüber gerissen werden, ob man die Reichen nach dem Machtwechsel gleich erschießt oder erst mal ins Lager steckt. Wo man sich an der Enteignung der deutschen Industrie berauscht und darüber feixt, dass man ja nur im Bundestag sei, um Staatskohle abzugreifen. Das sind die Leute, die uns jetzt als ganz normale Partei verkauft werden.

Ich habe die Woche mit jemandem zu Abend ge- gessen, der sein Ohr auf den Fluren der politischen Macht hat. Erst wird man in einem Linksbündnis die Schuldenbremse aussetzen, sagte er, Klimaschutz ist das neue Sesam-öffne-Dich, das alle Finanztüren aufschließt. Dann wird die große Umverteilungsmaschine angeworfen – Vermögensabgabe, Steuererhöhungen, Erbschaftssteuer, das volle Programm. Dann werde man sich Gedanken machen, wie man ans Eigenheim herankomme, die größte Quelle des Reichtums in Deutschland.

Immobilienbesitz gilt links der Mitte ohnehin als suspekt. Der Panda des deutschen Sozialstaats ist der Mieter. Warum also nicht über eine Vermögens- oder Hypothekenabgabe abschöpfen, was sich bei den Privathaushalten über die letzten Jahren an Vermögen angesammelt habe? Bevor Politiker eingestehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind, finden sie immer einen Weg, das Geld fremder Leute einzusammeln, sagte mein Gewährsmann lächelnd.

Will Scholz eine Koalition mit der Linkspartei? Das glaube ich nicht. Der Mann ist Realist. Er weiß genau, welchen Höllenritt ein Bündnis mit den Genossen am linken Rand bedeuten würde. Aber ohne Fraktion, die ihn stützt, kann kein Kanzler auf Dauer regieren.

Soll Scholz damit drohen, die Brocken hinzuschmeißen, wenn ihm Kevin Kühnert erklärt, dass Rot-Grün-Rot das Bündnis der Erneuerung sei, auf das Deutschland gewartet habe? Wie schwer es ein Kanzler hat, wenn er gegen seine eigene Partei regiert, hat Helmut Schmidt erlebt. Und der hatte immerhin noch Haudegen wie Hans Apel oder Hans-Jürgen Wischnewski an seiner Seite.

Die SPD von heute ist nicht mehr die SPD, in die meine Mutter 1963 eingetreten ist. Es ist auch nicht mehr die SPD von Leuten wie Klaus von Dohnanyi, Franz Müntefering oder Helmut Schmidt. Jeder der drei würde einen Brief von Saskia Esken wegen Rechtsabweichlertum erhalten. In der SPD von heute reicht es, dass man einen nichtbinären Schauspieler namens Heinrich arglos als Mann anspricht, um knapp an einem Parteiausschlussverfahren vorbeizuschrammen.

Es scheint über die Olaf-Euphorie irgendwie in Vergessenheit geraten zu sein: Aber vor anderthalb Jahren wurde er von seiner eigenen Partei als Vorsitzender abgelehnt, weil er ihr zu mittig war. Gewählt wurde stattdessen ein Pärchen, das den Mitgliedern versprach, aus der Großen Koalition auszutreten, um sie in eine rote Zukunft zu führen.

Und das soll alles nicht mehr gelten, weil die SPD jetzt auf die Plakate schreibt: „Wer Olaf will, muss SPD wählen“? Nun ja, es soll auch Menschen geben, die an Wunderheilung glauben. Oder daran, dass ein gutes Immunsystem ausreicht, um Covid in Schach zu halten.

Bei der Linkspartei entwerfen sie bereits fleißig ein „Sofortprogramm“ für die Machtübernahme. „Klar haben wir ein Problem mit der Person Olaf Scholz“, zitierte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ einen Parteivorstand der Linken. „Wir er-leben aber, dass es in der SPD ganz andere Ausrichtungen gibt.“

Was die Wahrscheinlichkeit einer Bundesregierung mit sozialistischem Einschlag angeht, glaube ich mehr den Funk-tionären als den Journalistenkollegen, die beteuern, sie würden eine Zeitungsseite aufessen, wenn es nach dem 26. September zu einem rot-grün-roten Bündnis komme. Was die Vorhersage von Wahlergebnissen angeht, liegt man in meiner Branche oft erstaunlich weit daneben.

©Silke Werzinger

Einer von uns?

Beliebter Ministerpräsident der CDU will Kanzler werden und auf den Redaktionsetagen biegen sie sich vor Lachen? Wir hatten das Stück schon mal auf der politischen Bühne. Der Kandidat hieß damals Helmut Kohl.

Armin Laschet sieht nicht so aus, wie die Leute sich einen Kanzler vorstellen. Das ist sein größter Nachteil. Das Gesicht ist zu verwaschen, der Mund zu weich. Die Gesichtszüge werden mit dem Alter auch nicht härter und kantiger, sondern allenfalls knittriger.

Die Deutschen sind, wenn es um Männer an der Macht geht, an klar geschnittene Gesichter gewöhnt, die Führung und Entschlossenheit ausstrahlen. Der ideale Kanzler war in der Hinsicht Helmut Schmidt mit dem akkuraten Seitenscheitel über dem Offiziersgesicht. Er war nicht von ungefähr für viele der Überkanzler, der dann einen einzigartigen Spätruhm genoss.

Helmut Kohl, der gerade in den Anfangsjahren ebenfalls zu sehr nach dem Genuss von Riesling und Siedewürstchen und zu wenig nach Arbeit aussah, konnte den Nachteil durch seine imposante Größe wettmachen. Laschet ist auch noch ziemlich klein. Er misst 1,72 Meter, wie ich Google entnommen habe.

Der andere Nachteil des Kanzlerkandidaten: Er ist ein fröhlicher Mensch. Bei Begegnungen lockert er die Atmosphäre oft mit einer ironischen oder selbstironischen Bemerkung auf. Ironie ist in der Politik ganz schlecht. Der fröhliche Mensch steht immer im Verdacht der Unernsthaftigkeit.

Besser ist es, man verkneift sich jedes Lachen. Wie weit man damit kommen kann, wenn man keine Miene verzieht, hat Olaf Scholz bewiesen. „Kompetenz für Deutschland“, steht auf den Plakaten. Man hätte auch draufschreiben können: Olaf Scholz, der Kanzler, der nie lacht. Was Leute wie ich als Drohung empfinden, gilt im politischen Establishment als Empfehlung.

Ich habe Armin Laschet zwei Mal getroffen. Einmal am Rande einer Veranstaltung in Berlin und einmal in einem Flieger nach München. Das Erste, was mir auffiel: Er ist wirklich nicht sehr groß. Das andere: Er hat wache, listig funkelnde Augen. Man sieht förmlich, wie er die Umgebung mustert und sich dann seinen Reim darauf macht. Beim Skat würde man ihn zu den Spielern zählen, bei denen man auf der Hut sein muss, weil sie oft noch ein Ass im Ärmel haben.

Glaubt man den Umfragen, dann ist der Wahlkampf praktisch gelaufen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Umfrageinstitut Zahlen verkündet, wonach die CDU noch tiefer gefallen ist. Es ist ein Wettbewerb. Bis vor Kurzem war es schick, die SPD herunterzuprügeln, jetzt die Union.

Laschet kann machen, was er will, es wird ins Lächerliche gezogen. Er wird als Karnevalsprinz und Funkenmariechen verspottet. Wenn er im Flutgebiet mit Halbschuhen unterwegs ist, heißt es: Warum trägt er keine Gummistiefel? Trägt er Gummistiefel, lautet der Vorwurf, er wolle sich in Szene setzen. Halbschuhe hätten es auch getan.

Vor drei Wochen stand er neben Elon Musk, dem Tesla-Milliardär aus Amerika. Als er eine Journalistenfrage zum Wasserstoff als Energieträger der Zukunft vom Deutschen ins Englische übersetzte, damit Musk darauf antworten konnte, lachte Musk.

Wie ich einem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Auftritt entnommen habe, ist Musk offenbar schwer verhaltensauffällig. Es gab praktisch keinen Augenblick, in dem er nicht das Gesicht verzog und herumhampelte. Anschließend hieß es dann, Musk habe Laschet wegen seiner Frage zum Wasserstoff ausgelacht. Der Kandidat habe sich vor aller Welt zum Gespött gemacht.

Mir kommt das seltsam bekannt vor. Wir haben das bereits einmal erlebt, als schon mal ein beliebter Ministerpräsident der CDU Kanzler werden wollte. Der Bewerber hieß damals Helmut Kohl.

Was haben sie sich auf den Redaktionsetagen nicht vor Lachen gebogen, als Kohl für die CDU als Kandidat antrat. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Politiker ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Einen „Gimpel“ nannte ihn Gerhard Schröder, da war der noch Juso-Vorsitzender und Kohl lag gerade mit Strauß im Clinch.

Auch die Rivalität mit dem großen Kurfürsten in München ist nicht ganz neu. Im Konrad- Adenauer-Haus echauffiert man sich sehr über die Querschläge aus dem Süden. Dazu kann ich nur sagen: Verglichen mit Franz Josef Strauß befleißigt sich Markus Söder geradezu vorbildlicher Zurückhaltung. Charakterlich und geistig ungeeignet, das war das Verdikt von Strauß über Kohl. Dagegen ist jede heutige Stichelei aus der CSU eine Umarmung.

Für die Linke war es immer ein Rätsel, wie Kohl so weit kommen konnte. Aus Sicht der Intellektuellen fehlte ihm alles, was einen Kanzler ausmacht: zu provinziell, zu bieder, ein Mann ohne Welt- und Weitsicht. Was die Kritiker übersahen, war, dass sich viele in dem Spott über die vermeintliche Borniertheit mitverspottet sahen. Die meisten Menschen haben nichts gegen Häkeldeckchen oder Zierfische oder Tassen mit lustigen Aufschriften, über die man in den vornehmeren Kreisen nur den Kopf schütteln kann. Die Mehrheit hält die Begonie auch nicht für eine verachtenswerte Pflanze.

Wir werden sehen, wie es dieses Mal ausgeht. Historische Vergleiche tragen immer nur begrenzt. Aber wenn man aus der Vergangenheit eines lernen kann, dann, dass eine Mehrheit der Bürger anders denkt als die Experten mit ihrem Faible für große Pläne. Hahaha, hieß es, als Laschet am Sonntag Standfestigkeit versprach gegen den Wind der Veränderung, der vielen ins Gesicht blase. Welcher Mensch sei denn gegen Veränderungen, hieß es hohnlachend. Wie gestrig, wie unfreiwillig komisch!

Auf der Linken ist ständig vom Politwechsel die Rede, dem Neustart, den es brauche, dem entschiedenen Neuanfang. Dass dies für viele keine Verheißung bedeutet, sondern eine Heimsuchung, kommt ihnen nicht in den Sinn. Es ist halt ein Unterschied, ob ich als Germanistikstudent den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft erwarte oder als Facharbeiter, dessen Job unter die Räder kommt.

Auch Scholz verkörpert das normale Deutschland, das ist seine Stärke – allerdings in seiner protestantischen Version. Während Laschet etwas dezidiert Anti-Asketisches hat, einen Hang zur Gemütlichkeit, wo das nächste Glas Wein nie weit entfernt steht, ist bei Scholz alles Arbeit.

Scholz erinnert an den Abteilungsleiter, der einen noch nachts um eins auf der Betriebsfeier zur Seite nimmt, dass man ja nicht vergessen solle, die Hard Plugs aus dem Excelsheet zu entfernen, bevor es morgen an den Kunden geht. Dieser Mann geht erst schlafen, wenn die Vorgangsmappe abgearbeitet ist. Merkel, aber in männlich. Wenn er mit der Raute posiert, ist das keine ironische Geste, sondern ein Versprechen.

Das Problem am SPD-Kandidaten sind die Leute um ihn herum. Scholz als Kanzler, das können sich viele vorstellen. Aber der ewige Juso Kevin Kühnert als Fraktionschef und Saskia Esken, die selbsterklärte Alterspräsidentin der Antifa, als Innenministerin? Da nehmen viele lieber wieder Abstand.

Annalena Baerbock wiederum würde gerne volkstümlich wirken, es will ihr einfach nicht gelingen. Sie bemüht sich wahnsinnig, ganz normal und geerdet zu erscheinen, weshalb sie ständig auf ihre Mutterschaft und ihre Kinder zu sprechen kommt. Doch die Beispiele, die sie aus ihrem Alltag nennt, wirken seltsam konstruiert und zurechtgebogen.

Soll man wirklich annehmen, dass in Potsdam, also dort, wo sie lebt, jedes fünfte Kind so arm ist, dass es morgens kein Frühstück gibt? So hat sie es berichtet, am Sonntag während des ersten Triells: Wie sie auf dem Spielplatz sitzt und die Kinder durchzählt. Eins, zwei, drei, vier – und dann jedes Mal bei einem Kind ankommt, das sich keinen Schulranzen leisten kann und kein Knäckebrot.

Ihr Wohnort, das zur Ergänzung, zählt zu den wohlhabendsten Orten Deutschlands. Wenn es stimmt, was sie berichtet, sollte vielleicht Günther Jauch, der gleich nebenan wohnt, ein paar Millionen für die Armenspeisung in die Hand nehmen, statt mit seinem Geld ständig irgendwelche Gebäude und Kirchen zu sanieren.

Ich habe die These vom Kanzlergesicht einmal bei „Maischberger“ vertreten, zum großen Gelächter der Runde. Das zeige, wie oberflächlich ich Politik betrachten würde, hieß es. Aber ich bin überzeugt, die meisten Wähler denken so wie ich. Sie schauen auf den Mann oder die Frau an der Spitze und fragen sich: Ist das jemand von uns? Versteht dieser Mensch mich und meine Welt? Dann machen sie ihr Kreuz.

©Michael Szyszka

Der Fluch der Phrase

Die Taliban haben eine „inklusive Regierung“ angekündigt. Wenn es sein muss, gendern sie sogar. Das Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion bedeutet ja nicht, dass man auf Auspeitschungen und Enthauptungen verzichten muss

Fangen wir mit den guten Nachrichten an. Auch die Taliban möchten jetzt zur Weltgemeinschaft gehören.

Wenn nicht noch etwas Überraschendes passiert, werden sie den Sitz in der Unesco einnehmen, der UN-Organisation, die für die Bewahrung des Weltkulturerbes zuständig ist. Die Aufnahme in den Sozial- und Wirtschaftsrat der Vereinten Nationen steht ebenfalls kurz bevor. Der Sozial- und Wirtschaftsrat ist das UN-Gremium, das „Menschen und Themen zusammenbringt, um gemeinsames Handeln für eine nachhaltige Welt zu fördern“, wie es auf dessen Webseite heißt.

Sie schütteln den Kopf? Ausgerechnet die Leute, die tausend Jahre alte Buddhastatuen in die Luft sprengen, als Unesco-Mitglied? Die größten Frauenfeinde als Hüter von Menschen- und Kinderrechten? Wir wollen nicht vorschnell urteilen! Der koloniale Blick auf die islamische Welt zeugt von Hochmut, wie wir wissen. Außerdem: In einer der ersten Erklärungen haben die neuen Machthaber in Kabul die Bildung einer „inklusiven Regierung“ angekündigt. Und ist es nicht das, was uns besonders am Herzen liegt: die Inklusion?

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Taliban den Bogen raushaben und so reden, als hätten sie vor der Erstürmung des Präsidentenpalastes schnell noch ein Diversity-Training belegt. Ich bin sicher: Wenn es sein muss, gendern sie sogar. Dass sich dadurch an ihren Praktiken nichts ändert, steht auf einem anderen Blatt. Das Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion bedeutet ja nicht, dass man auf Auspeitschungen und Enthauptungen verzichten muss. Genderstern und Scharia gehen wunderbar Hand in Hand, wie wir möglicherweise schon bald sehen werden.

Allenthalben herrscht nun Händeringen, wie man sich bei der Einschätzung der Lage in Afghanistan so vertun konnte. Die Erklärung ist relativ einfach, würde ich sagen: Wer den lieben langen Tag von der Stärkung der Zivilgesellschaft redet, von nachhaltigen Entwicklungszielen, vernetzten Ansätzen und gendersensiblen Konzeptionen, der hält Fortschritt für etwas Unausweichliches. Das ist der Fluch der Phrase: Irgendwann verwechselt man das, was man daher- und dahinplappert, mit der Wirklichkeit.

Wenn man heute liest, wie Heiko Maas den Taliban erklärt, dass sie verstehen müssten, dass die Konflikte in Afghanistan nur politisch und nicht militärisch gelöst werden könnten, lacht man sich tot. Aber noch lachhafter ist es ja, dass dieser Quatsch verkündet werden konnte, ohne dass sich die Zuhörer (oder die Redakteurin, die Maas das Mikrofon hinhielt) vor Lachen bogen.

Ich gebe zu, es hat einen perversen Reiz, sich noch einmal die Statements des Außenministers aus diesem Jahr anzusehen. „Menschenrechte sind heute in der afghanischen Verfassung fest verankert, und daran darf auch niemand rütteln“, liest man dort. Oder, eine andere Perle der Weisheit: „Die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, dass es kein Zurück ins Jahr 2001 geben wird.“ Die Rhetorik des Dürfens und Müssens kommt dummerweise schnell an ihr Ende, wenn auf der anderen Seite jemand mit einer AK-47 steht.

Großes Gelächter herrschte vergangene Woche über das ZDF, weil es von den „Islamist*innen“ schrieb, die Kabul eingenommen hätten. Dass die Redaktion von „ZDF heute“ auch bei Nachrichten über die Taliban eisern daran denkt, Transmenschen und Queerpersonen einzubeziehen, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Andererseits: Was nach einer Petitesse klingt, ist alles andere als das. Wäre es eine Petitesse, wären nicht so viele Leute so versessen, auch im Angesicht des Schreckens ja die richtige Ausdrucksform zu wählen.

In der Sondersendung bei „NDR Info“ zum Fall von Kabul ist selbstverständlich noch im größten Trubel von „Ausländern und Ausländerinnen“ die Rede. Und auch der Bundespräsident findet, trotz aller bestürzenden Nachrichten, die Zeit, „Afghanen und Afghaninnen“ gesondert zu adressieren. Ich warte auf den Tag, an dem das Bundespräsidialamt von „Deutschen und Deutschinnen“ spricht. Denken Sie an meine Worte: Der Tag ist nicht mehr fern.

Die Vorstellung, dass man anders über die Wirklichkeit reden müsse, damit sie eine andere werde, durchzieht auch das diplomatische Geschäft. Wer meint, es sei ein Zufall, wenn im Haushaltstitel zur Afghanistanhilfe mehrere Millionen Euro für „Gender Mainstreaming“ auftauchen, um endlich auch am Hindukusch zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft vorzustoßen, kennt die Mentalität des Entwicklungshelfers nicht.

Die Rückkehr der Taliban ist die unangenehme Erinnerung daran, dass es da draußen eine Welt gibt, der man nicht mit Sprachregelungen und rhetorischen Verrenkungen beikommt. Deshalb ist die Erschütterung in der Szene nun auch so groß.

Vielleicht muss man wieder zur Sprachkritik zurück. Nicht weil Sprache Wirklichkeit konstruiert, wie es heute heißt, sondern weil der Sprachgebrauch Auskunft über die Zurechnungsfähigkeit des Sprechenden gibt. Man muss dabei ja nicht gleich so weit gehen wie der Autor Maxim Biller, der sich bei dem Wokeness-Vokabular an die Sprache des Dritten Reichs erinnert fühlt. Aber als Gradmesser der Verblödung funktioniert es allemal.

Wer durchgängig gendert, macht sich zum Trottel. Auf diese knappe Formel lässt sich die Sache bringen. Der besinnungs- und planlose Gebrauch von „Kämpfenden“ statt „Kämpfern“ respektive „Studierenden“ statt „Studenten“ oder „Zufußgehenden“ statt „Fußgängern“ ist ein nahezu hundertprozentig zuverlässiges Mittel, um Einfaltspinsel und -pinselinnen zu erkennen.

„Geflüchtete“ statt „Flüchtlinge“? Ich bin sicher, wenn man die ZDF-Redaktion fragen würde, warum sie in einem Bericht über Demonstrationen für die Aufnahme von mehr Afghanen die Partizipkonstruktion wählt, könnte sie es nicht sagen. Falsch ist es obendrein. Wer geflüchtet ist, den muss man streng genommen nicht mehr aufnehmen, denn er befindet sich, anders als der Flüchtling, ja nicht länger auf der Flucht.

Wobei: Was heißt hier schon falsch? Mit dem Gendern verhält es sich wie mit dem sogenannten Deppenapostroph: Was „Lisa’s Friseurstübchen“ das Trennungszeichen, das ist dem Rundfunkredakteur die kleine Pause zwischen Hauptwort und „innen“.

Wie selbst die eifrigsten Adepten ins Schleudern kommen, kann man nahezu täglich beobachten. Annalena Baerbock spricht brav vom „Kanzlerinnenamt“, wenn sie bei Maybrit Illner ihre Vorstellungen zur Lösung der Afghanistan-Krise darlegen soll – aber schon bei Staatsbürgerinnen, Amerikanerinnen, Botschafterinnen und Französinnen versagt sie kläglich. „Spitzenkandidatin macht Frauen unsichtbar. Shame!“, merkte ein Spötter zu Recht an. Ganz so einfach, wie immer behauptet wird, scheint das diskriminierungsfreie Sprechen doch nicht zu sein.

Erst kommt die richtige Sprache, dann das Geld. So funktioniert es auch jetzt wieder. Die ersten 100 Millionen Euro hat die Bundesregierung dem neuen Regime vergangene Woche in Aussicht gestellt. Die Zusage über weitere 500 Millionen folgte Mitte dieser Woche. Das Geld ist selbstverständlich ausschließlich für humanitäre Projekte bestimmt.

Auch beim Umgang mit Entwicklungshilfe wird sich der Taliban als lernwillig erweisen. Die neue Regierung ist klamm bei Kasse. Die Hälfte des afghanischen Staatshaushalts stammt aus dem Ausland. Großzügigster Einzelspender sind, wie sollte es anders sein, die Deutschen. Wenn es die Bedingung für die Fortzahlung sein sollte, akzeptiert der Islamist auch eine Neuauflage des Gendermainstreaming-Programms. In der Hinsicht ist er ganz zeitgemäß.

©Sören Kunz

Merkels Lachen

„Sie kennen mich“, lautet der Satz von Angela Merkel, mit dem sie viele Jahre erfolgreich regierte. Aber stimmt das? Beziehungsweise: Gibt es ein Stadium der Kanzlerschaft, in dem einem alles egal ist?

Unter den vielen Bildern dieser aufwühlenden, schrecklichen, traurigen Woche gibt es ein Bild, das so rätselhaft ist, dass ich mich bis heute frage, was es uns sagt.

Das Bild ist am Montagabend aufgenommen, 24 Stunden nach dem Fall von Kabul, am Ende eines Tages, an dem sich zwei A400M der Bundeswehr auf dem Weg nach Afghanistan befanden, um das hastig zusammengezogene Botschaftspersonal zu evakuieren. An dem sich Menschen an startende Flugzeuge klammerten, um dann aus 100 Meter Höhe zu Boden fallen. An dem kein Zweifel mehr bestand, dass die Rückkehr der Taliban für Tausende den Tod bedeuten wird und für Millionen das Ende jeder Hoffnung auf ein freies Leben.

Man sieht auf dem Foto die Bundeskanzlerin in einem dottergelben Blazer, leicht gebräunt nach dem Sommerurlaub, in der Hand hält sie eine schwarze Atemmaske. Sie blickt direkt in die Kamera und lacht. Sie wirkt so entspannt und gut gelaunt, dass man denken könnte, hinter ihr läge ein Wellness-Wochenende am Tegernsee und nicht ein Tag der Krisendiplomatie im Kanzleramt.

Wie man dem Begleittext entnehmen konnte, zeigt das Bild die Kanzlerin anlässlich der Premiere von „Die Unbeugsamen“, einem Film über die ersten Politikerinnen der Bundesrepublik. Die Kanzlerin hat im Kinosaal ein paar Worte dazu gesagt, wie man ebenfalls erfuhr. Dass auch in Deutschland bei der Gleichstellung von Frauen und Männern noch einiges zu tun sei und viele Politikerinnen bis heute Drohungen und Angriffen ausgesetzt seien.

„Sie kennen mich“, hat Angela Merkel im Wahlkampf 2013 erklärt. Das war das Versprechen, auf dessen Grundlage sie viele Jahre erfolgreich regierte. So wird sie uns auch in den Biografien und Sonderausgaben präsentiert, die anlässlich ihres Abschieds in den Zeitschriftenregalen liegen. Eine Frau wie das Land, dem sie vorsteht – unprätentiös, umsichtig, fleißig, stets darum bemüht, dem Vernünftigen zum Durchbruch zu verhelfen.

„Sie kennen mich“, das hieß auch: keine Überraschungen, keine Kapriolen, keine emotionalen Aussetzer. Einmal ist sie über sich hinausgewachsen, das war 2015 während der Flüchtlingskrise. Da verkörperte sie so sehr das helle Deutschland, dass man im rot-grünen Lager bis heute jede Kritik an der Kanzlerin als Kritik an sich selbst versteht.

Die „Bild“-Zeitung hatte das Bild der lachenden Merkel am Dienstag auf der Titelseite. Ich habe nachgesehen, ob es noch ein anderes Medium abgedruckt hat. Aber ich habe nichts finden können. Auch in den sozialen Medien, die normalerweise jeden Fehltritt und jede missverständliche Äußerung unnachsichtig ahnden, herrschte Schweigen.

An Laschets Lachen konnte man sich tagelang delektieren. Möglicherweise ist es verwerflicher, im Angesicht der Flutkatastrophe zu lachen als im Angesicht des Talibanterrors. Vielleicht zählen deutsche Opfer einfach mehr als ausländische. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, ich bin hier auf Vermutungen angewiesen.

Allenthalben ist jetzt vom Versagen der Bundesregierung die Rede. Aber das finde ich etwas arg allgemein. In der Welt, in der ich lebe, führt immer noch die Kanzlerin die Regierung an. Es ist auch die Bundeskanzlerin, die die Richtlinien der Außenpolitik bestimmt.

Kennen wir sie? Sie habe zweimal die zuständigen Minister zusammengeholt, um über die Situation der afghanischen Ortskräfte zu beraten, konnte man lesen, einmal im Juni und einmal im Juli. Der Hinweis war als Entlastung gemeint, in Wahrheit ist es das Eingeständnis der Untätigkeit.

Das Grundgesetz räumt dem Bundeskanzler nicht von ungefähr eine Richtlinienkompetenz ein. Jeder Minister leitet seinen Geschäftsbereich nach dem Ressortprinzip selbstständig und eigenverantwortlich – es sei denn, der Kanzler sieht es anders. Dann bleiben dem Minister zwei Möglichkeiten: sich zu fügen oder sein Amt niederzulegen.

Niemand wird daran Anstoß nehmen können, dass man nicht weiterkämpfte, nachdem die Amerikaner die Segel strichen. Aber dass man nicht wenigstens die Übersetzer rettete, die einem in all den Jahren treu dienten, die Fahrer, die Köche, die Zuarbeiter? War das zu viel verlangt? Am Wochenende richtete auch ein Bündnis großer Medienhäuser eine flehentliche Bitte an die Regierung, alles zu tun, um die Helfer aus dem Land zu schaffen, aber da war es zu spät.

Angeblich gab es Unstimmigkeiten zwischen Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium, wie man mit den Ortskräften verfahren sollte. Was hat die Kanzlerin davon abgehalten, die Sache zu entscheiden? Die Zeitungen waren seit Anfang Juli voll mit Berichten, welchen absurden Bürokratieparcours man aufgebaut hatte, um afghanische Vertragskräfte an der Passage nach Deutschland zu hindern. Im „heute-journal“ berichtete ein Bundeswehroffizier Anfang der Woche in beklemmender Nüchternheit, wie alle Hilferufe in Berlin verhallten. 80 Prozent würden zurückgelassen, denen könnte man nicht mehr helfen, sagte er.

Man habe die Entwicklung der Ereignisse falsch eingeschätzt, hat die Kanzlerin erklärt, so, als würde es sich bei der Einnahme von Kabul um einen Schicksalsschlag handeln, den man nicht habe vorhersehen können. Irgendwann rächt es sich halt, wenn man den Leuten beim Geheimdienst immer misstraut und sich dort Beamte wünscht, die ihren Auftrag vor allem darin sehen, so zu handeln, dass alles, was sie tun, morgen in der „Süddeutschen“ stehen könnte.

Es gab auch Warnungen direkt aus dem Apparat. Über Wochen richtete die Botschaft in Kabul eindringliche Appelle an das Auswärtige Amt, zu handeln. In einem Lagebericht zwei Tage vor dem Sieg der Taliban beklagte sich der stellvertretende Botschafter bitterlich über die Untätigkeit. Wer das Außenministerium kennt, der weiß, dass der Mann damit seine Karriere aufs Spiel setzte.

Wenn wir in einem halbem Jahr nachschauen, wo er gelandet ist, werden wir ihn in einer zugigen Botschaft in irgendeiner ehemaligen Sowjetrepublik wiederentdecken, wo diejenigen landen, die zu große Unbotmäßigkeit an den Tag legen. Offenbar war das Entsetzen über die Unfähigkeit seiner Vorgesetzten so groß, dass er das in Kauf nahm.

Als Kanzlerin kann man sich sein Kabinett nicht aussuchen, das ist der Preis einer Koalition. Dass Heiko Maas ein Würstchen ist, wussten in Berlin immer schon alle. Jetzt wissen wir: Er ist für Menschen, deren Wohlergehen von seinen Entscheidungen abhängt, ein tödliches Würstchen. Aber warum Merkel auch hier die Dinge einfach schleifen ließ, statt ihren Kanzleramtschef anzuweisen, die Sache in die Hand zu nehmen, wird auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Möglicherweise gibt es ein Stadium der Kanzlerschaft, in dem einem alles egal ist.

Die Kanzlerin selbst agiert inzwischen so, als sei sie die Beobachterin ihres eigenen Handelns. Wenn sie vor das CDU-Präsidium oder die Presse tritt, redet sie, als bereite sie sich auf einen Kommentar in den „Tagesthemen“ vor. Es seien bittere Stunden in Afghanistan. Es habe nach dem Abzug der Truppen einen Dominoeffekt gegeben. Man müsse so viele Menschen wie möglich in Sicherheit bringen. Das ist der Auftritt einer besorgten Zeitzeugin, nicht einer Kanzlerin, die es in der Hand gehabt hätte, das Leid zu lindern.

Vielleicht mag ich es mir nur nicht eingestehen, und die lachende Merkel ist den Deutschen viel näher, als ich dachte. Vielleicht bietet eine Regierungschefin, die bei jeder Gelegenheit betont, wie sehr sie mit sich im Reinen sei, die Selbstentlastung, nach der eine Mehrheit der Wähler sucht.

Haben wir in Afghanistan nicht alles unternommen? Haben wir nicht Milliarden ausgegeben für Mädchenschulen und Straßen? Und können wir etwas dafür, wenn die Armee nicht in der Lage ist, sich gegen die Taliban zur Wehr zu setzen? Was ist das überhaupt für eine Idee, seine Werte in die Welt exportieren zu wollen?

Man konnte alle diese Argumente schon vor dem Fall von Kabul hören. Man konnte sie zum Beispiel hören, als die Verlängerungen des Bundeswehrmandats anstanden, bei denen dann die gleichen Leute dagegen stimmten, die nun militärisch abgesicherte Luftbrücken fordern.

Der Mensch ist ein abgründiges Wesen. Das gilt, wie man sieht, in ganz besonderer Weise für die Kanzlerin.

©Silke Werzinger

Weisheit der Straße

Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für einen Kandidaten entscheiden?

Anfang der Woche kündigte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Live-Gespräche mit den Spitzenkandidaten der Parteien an. „Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor der Wahl eine umfassende Meinung bilden können, hat die F.A.Z. ein neues Format ins Leben gerufen“, hieß es in einem Schreiben an die Abonnenten. „In vier Veranstaltungen stellen wir den Kandidaten Fragen zu Programmen, Auftreten und aktuellen Entwicklungen, die Sie gerne vorab einreichen können.“

Den Auftakt machte am Mittwoch Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union. In den nächsten Wochen folgen FDP-Chef Christian Lindner, der SPD-Kandidat Olaf Scholz und für die Grünen der Parteivorsitzende Robert Habeck. Moment, wird sich jetzt der eine oder andere sagen: Was ist denn das für eine Auswahl? Das geht ja gar nicht: eine reine Männerrunde. Die Grünen haben doch extra eine Spitzenkandidatin benannt, um sicherzustellen, dass auf Angela Merkel wieder eine Frau im Kanzleramt folgt.

Wie sich herausstellte, hatten die Grünen in letzter Minute Robert Habeck als Spitzenkandidaten benannt. Auf Angela Merkel geht die Erfindung der asymmetrischen Demobilisierung zurück, also der Langeweile als Wahlkampf-Mittel, um die Leute so zu ermüden, dass sie ihr Kreuz da setzen, wo sie es immer gesetzt haben. Die Grünen sind jetzt noch einen Schritt weiter: Sie machen ihre Kanzlerkandidatin einfach unsichtbar. Wer nicht mehr auftaucht, kann auch nichts Falsches mehr sagen.

Allenthalben wird über den Wahlkampf geklagt: zu wenig Inhalt, zu wenig Debatte, statt den großen Zukunftsfragen nur Nicklichkeiten und Klein-Klein. Täglich bombardieren einen die Medien mit neuen Hiobsbotschaften von der Klima- front. Und worüber streiten die Wahlkämpfer? Die religiöse Überzeugung von Laschets Spindoktor und die Irregularitäten bei Baerbocks Stipendium!

Als vorläufiger Tiefpunkt gilt ein ZDF-Sommerinterview mit Habeck. Einige besonders enthusiastische Beobachter maßen mit Stoppuhr in der Hand, wie lange die ZDF-Redakteurin den Parteivorsitzenden zu den Problemen des grünen Wahlkampfs befragte, statt zu den wirklich drängenden Fragen vorzustoßen (den Klimawandel und, nun ja, den Klimawandel). Die Uhr hielt bei 9:20 Minuten.

„Aktivismus für das Weiter-So“ beziehungsweise „Parteilichkeit für die Verdrängung“, nannte der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, Bernd Ulrich, die kritische Befragung, worauf sich die angegriffene Redakteurin genötigt sah, ihre Interviewführung in einer Selbsterklärung zu rechtfertigen.

Was Aktivismus angeht, kennt sich Ulrich aus, sollte man vielleicht dazu sagen. Der Mann hat gerade gemeinsam mit Deutschlands führender Klimaaktivistin, der Grünen Luisa Neubauer, ein Buch in den Handel gebracht. Dass Journalisten den Drang verspüren, sich der guten Sache zu verschreiben, kennt man. Dass ein leitender Redakteur der „Zeit“ im Wahlkampf mit einer von ihm favorisierten Lobbyistin über die ideelle auch eine finanzielle Verwertungsgemeinschaft begründet, darf man als Neuerung sehen. So gesehen hält der Wahlkampf doch Überraschungen bereit.

Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis machen. Es mag furchtbar oberflächlich erscheinen, aber mich interessiert die Frage, weshalb man bei den Grünen nicht Indianerhäuptling sagen darf, wie es sich mit Annalena Baerbocks Ausbildung verhält oder warum Armin Laschet auf Fotos immer eine so unglückliche Figur macht, mindestens so sehr wie die Vorschläge zur Lösung der Klimakrise.

Die Lösung kenne ich ja im Zweifel. Nach den Kernkraftwerken werden alle Kohle- und Gaskraftwerke abgeschaltet sowie ein Großteil der deutschen Autokonzerne lahmgelegt, damit Deutschland zum Klimaschutzstar aufsteigt. Vor dem dann wiederum die Chinesen bewundernd den Hut ziehen und sich sagen: „Wir lassen uns doch von den Deutschen bei der Energiewende nicht den Schneid abkaufen. Wenn die ihre Kohlekraft- werke ab 2030 stilllegen, dann ma-chen wir das schon nächstes Jahr!“

Nur weil sich Journalisten rasend für Politik interessieren, heißt das noch nicht, dass auch die normalen Leute das tun. Viele haben gar nicht die Zeit dafür. Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Die Zahl habe ich von Paul Ziemiak, dem Generalsekretär der CDU, und der muss es wissen.

Auch die Bekanntheit von Politikern wird gnadenlos überschätzt. Der „Spiegel“ hat einmal für einen Wissenstest nach den Namen der deutschen Ministerpräsidenten gefragt. Über 40 Prozent der Hessen konnten nicht sagen, wie ihr Regierungschef heißt. In Hamburg waren 50 Prozent ahnungslos, was den Namen des Stadtoberhauptes angeht. Am besten schnitt Horst Seehofer ab. Den konnte eine deutliche Mehrheit der Bayern auf Nachfrage als den Mann benennen, der sie regiert. Da war er allerdings schon als Bundesinnenminister nach Berlin gewechselt.

Normalerweise fällt es nicht so auf, wie unbekannt viele Politiker sind, weil man den Befragten am Telefon Namen und Funktion nennt, wenn man ihre Meinung in Erfahrung bringen will. Man nennt das „gestützte Umfragen“. Trotz der Hilfestellung (und der menschlichen Eigenschaft, Wissenslücken nicht freiwillig zu offenbaren) ist auch hier der Anteil der Unwissenden erstaunlich hoch.

Bei der berühmten „Spiegel“-Treppe, auf der Politiker nach Beliebtheit aufgereiht sind, sagten zum Jahreswechsel bei Heiko Maas 14 Prozent der Befragten, dieser Politiker sei ihnen unbekannt. Bei Olaf Scholz waren es 11 Prozent, bei Annalena Baerbock: 39 Prozent. Es dauert halt wahnsinnig lange, bis man sich als Politiker einen Namen gemacht hat. Deshalb hänge ich als Kolumnist ja auch so an bekannten Gesichtern. Der Tag, als Claudia Roth in die zweite Reihe verschwand, war für mich Karfreitag und Volkstrauertag in einem.

Wenn über ein Drittel der Wähler zu Beginn des Wahlkampfs keinen Schimmer hat, wen die Grünen da als Spitzenkandidatin ins Rennen geschickt haben, ahnt man, wie viel bis September noch in Bewegung ist. Erfolg und Misserfolg in den Umfragen sind zum Gutteil eine Frage des Timings, deshalb liegen sie auch so oft daneben.

Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden? Die großen Themen sind es jedenfalls nicht, auch wenn in den Zeitungen gerne das Gegenteil behauptet wird. Wofür Parteien wie die CDU oder die Grünen stehen, ist den meisten mehr oder weniger bekannt. Das ist der Vorteil an eingeführten Marken. Der Blick richtet sich auf den Mann oder die Frau an der Spitze. Das ist die große Unbekannte.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich mir auch wün-schen, die Journalisten würden endlich aufhören, nach den Flunkereien oder Pannen im Wahlkampf zu fragen. Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die wissen möchten, was für eine Person das ist, die sagt, dass sie das Land regieren will.

Für die großen politischen Fragen mag es unerheblich sein, ob Annalena Baerbock ihren Lebenslauf geschönt hat oder Armin Laschet im falschen Moment lacht. Aber um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die sich anschicken, das Kanzleramt zu übernehmen, können solche scheinbar nebensächlichen Begebenheiten durchaus hilfreich sein. Es sind manchmal die kleinen Gesten, die einen Blick hinter die sorgfältig kultivierte Fassade erlauben.

Ist es ungerecht, jemanden nach einem Fehlgriff oder einer unbedachten Äußerung zu beurteilen? Natürlich ist es das. Aber ist es besser, den Strategen und Beratern zu vertrauen, die ein möglichst perfektes Bild von ihrem Kandidaten zu zeichnen versuchen? Gegen die Welt der Plakate und hehren Versprechungen hilft manchmal nur der genaue Blick auf die Abweichung. Man kann das die Weisheit der Straße nennen.

©MICHAEL SZYSZKA

Plage unserer Zeit

Was sind das für Menschen, die Datenschützer werden wollen? Welche Mutter wünscht sich, dass ihr Sohn oder ihre Tochter einmal zu den Leuten gehört, die anderen das Leben schwer machen?

Ich habe etwas Waghalsiges getan. Ich habe mich beim Besuch der Eisdiele über die Luca- App angemeldet.

Es ging erstaunlich einfach, muss ich sagen. App runtergeladen, Barcode des Cafés eingescannt und schon ist man als Gast registriert.

Keine lästige Zettelwirtschaft mehr, keine Telefonnummer, die man umständlich auf ein Blatt Papier kritzeln muss. Wenn man den automatischen Check-out aktiviert, entfällt sogar die Aufgabe, sich nach dem Besuch wieder abzumelden.

Wie gesagt: supereinfach. Aber natürlich hatte ich bei der Nutzung ein schlechtes Gewissen. Was konnte man nicht alles über Luca lesen! Weil die App Daten zentral speichert, sei es jemandem mit Zugang zum System jederzeit möglich, Einzelne zu überwachen: Wohin sie gingen. Wie lange sie blieben. Wer sich mit ihnen im Restaurant oder auf einer Veranstaltung befunden habe. Zu Deutsch: Nur der Trottel, der keine Ahnung von den Fallstricken der digitalen Welt hat, vertraut so einer Technik.

Die Grünen im Bayerischen Landtag haben die Staatsregierung im Juni in einem Dringlichkeitsantrag dazu aufgefordert, die Luca-App einer Sicherheitsanalyse zu unterziehen. „Bei einer mehrere Millionen Euro teuren Software, die noch dazu mit höchst sensiblen persönlichen Daten arbeitet, muss ein hoher Datensicherheitsstandard sichergestellt sein“, teilte Benjamin Adjei, Sprecher für Digitalisierung, mit.

Höchst sensible persönliche Daten: Das ist das Stichwort, bei dem jeder Politiker in die Knie geht. Wer will sich schon vorwerfen lassen, er nehme Datensicherheit nicht ernst? Das ist so, als würde man seine Kinder bei 120 Stundenkilometern unangeschnallt auf dem Vordersitz herumturnen lassen.

Die Schule meines Sohnes hat mich informiert, dass im neuen Schuljahr Microsoft Teams nicht mehr verwendet werden darf. Die Schule sucht jetzt händeringend nach einer Lösung für den Fall, dass im Herbst doch wieder Distanzunterricht angeordnet wird. Deutschen Lehrern drohen rückwirkend sogar Strafzahlungen, wenn sie beim Homeschooling mit Zoom oder Microsoft gearbeitet haben.

Die Daten würden auf amerikanischen Servern landen, und dort sei die Datensicherheit nicht gewährleistet, heißt es. Bei Zuwiderhandlungen sei ein Bußgeld gerechtfertigt, verkündete der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber im „Handelsblatt“. Ich dachte, das sei ein Scherz. Erst appelliert man an die Lehrer, die Schüler im Lockdown nicht im Stich zu lassen, und dann bedroht man diejenigen, die dem Appell folgen?

Wie naiv von mir, das für einen Scherz zu halten. Datenschützer scherzen nicht. Ironie und Selbstironie sind in dem Beruf grundsätzlich verboten. Wenn Datenschützer lachen wollen, schauen sie sich die Knollenmännchen von Mordillo an. Das befriedigt ihr Bedürfnis nach einer heiteren Abwechslung vollständig.

Die Politik hat in der Pandemie nahezu jedes Grundrecht außer Kraft gesetzt. Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Bildungsfreiheit, Bewegungsfreiheit – alles war eingeschränkt oder ganz suspendiert. Nur der Datenschutz ist heilig, da darf keiner ran. Da kann das Virus wüten, wie es will, und die Intensivstation noch so voll sein. Ich habe mich auf dem Höhepunkt der Krise mit der Aussicht getröstet, dass auf meinem Grabstein immerhin stehen wird: „Aber seine Daten waren sicher“.

 

Verstehen Sie die deutsche Obsession mit dem Datenschutz? Ich nicht. Wir setzen uns ungerührt nackt mit einem Dutzend Fremder in die Hotelsauna. Aber wenn das Google-Auto um die Ecke biegt, um unseren leeren Vorgarten zu fotografieren, rufen wir panisch nach sofortiger Verpixelung.

Vor zwei Wochen traf ich auf einer Sommerparty einen Kollegen von Burda. Der Mann berichtete, dass in der Kita seines Sohnes bis Anfang des Monats ein großes Willkommensplakat am Eingang gehangen habe, auf dem jedes Kind mit Namen und einem kleinen Foto abgebildet war.

Dann war das große, liebevoll dekorierte Plakat plötzlich verschwunden. Was ist passiert, fragte mein Kollege die Kitaleitung. Man habe das Plakat entfernen müssen. Ein Vater habe darauf aufmerksam gemacht, dass die Kombination von Name und Bild eklatant gegen die geltenden Datenschutzrichtlinien verstoße. Lieber morgens namenlos und ungegrüßt als den Datenschützer unglücklich gemacht.

Es ist wie eine biblische Plage. „Sie wissen schon, der Datenschutz“, sagt die freundliche Sachbearbeiterin in der Personalabteilung, wenn man sie bittet, einem per Mail den Gehaltsnachweis zu schicken, den man für die Steuer braucht. Sie kennt einen seit Jahren, sie hat einen sofort an der Stimme erkannt, aber in dem Fall ist sie machtlos.

Früher ließ der strafende Gott Heuschrecken und Frösche vom Himmel regnen, heute lässt er Leute wie Ulrich Kelber auf die Menschheit los.

In Wahrheit sind den meisten Menschen die Bedenken der Datenschützer herzlich egal. Niemand fürchtet sich vor der Cloud. Oder dass sie in Amerika von einem die Bewegungsprofile durchstöbern. Wäre es anders, würden die Leute ja nicht wie verrückt im Internet herumgurken.

Seit einem Jahr muss jedes Unternehmen auf seiner Webseite um Einverständnis fragen, wenn es etwas speichern will. Jetzt drücken die Leute eben überall „akzeptieren!“. Praktischerweise leuchtet der „Akzeptieren“- Knopf immer blau oder grün, sodass man ihn nicht verfehlen kann.

Kennen Sie jemanden, der die Belehrungen durchliest, bevor er zustimmt? So etwas nennt man wohl einen Pyrrhus-Sieg.

Vorher hat man sich immerhin darauf hinausreden können, dass man nicht ausreichend informiert wurde. Jetzt haben es die Konzerne schwarz auf weiß, dass man alles akzeptiert hat, was sie mit den Daten anstellen.

Was sind das für Menschen, die Datenschützer werden wollen? Das frage ich mich. Ich nehme an, auch ihre Mutter hatte Pläne und Hoffnungen. Welche Mutter wünscht sich, dass ihr Sohn oder ihre Tochter einmal zu den Leuten gehört, die anderen das Leben schwer machen?

„Mama, heute habe ich wieder dafür gesorgt, dass unsere Daten sicher sind!“ Gut, es soll auch Eltern geben, die stolz darauf sind, wenn ihre Kinder Geldeintreiber werden. Oder Parkticketkontrolleure. Ein Glück für Herrn Kelber und seine Kollegen, dass der Kinderbuchautor Michael Ende noch nicht die Datenschützer kannte, als er für seinen Klassiker „Momo“ die grauen Herren ersann, die der Menschheit die Zeit stehlen. Das hätte das Image nachhaltig geprägt.

Die Einzigen, die wirklich glücklich über den Datenschutz sind, sind die Internetkonzerne. Lässt sich eine bessere Ausrede ersinnen, warum man niemanden hinter die Fassade blicken lässt?

Ab Februar nächsten Jahres sollen Unternehmen wie YouTube oder Facebook strafbare Inhalte dem Bundeskriminalamt melden, damit dieses dagegen tätig werden kann. So hat es die Bundesregierung in einem „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ beschlossen. Jetzt hat YouTube Klage gegen das Gesetz eingereicht – mit Verweis auf den Datenschutz.

„Für uns ist der Schutz der Daten unserer Nutzer:innen ein zentrales Anliegen“, schreibt die Leiterin Government Affairs und Public Policy, Sabine Frank, auf dem Unternehmensblog des Konzerns. Deshalb werde man sich vor Gericht gegen „diesen massiven Eingriff in die Rechte unserer Nutzer:innen“ zur Wehr setzen.

Um welche Delikte es sich handelt, die künftig beim BKA angezeigt werden müssen? Androhung von Mord, Kinderpornografie, Volksverhetzung, Aufforderung zur Vergewaltigung und Massenvergewaltigung – was man eben so bei YouTube unter „Rechte der Nutzer:innen“ subsumiert.

Wie gesagt: Der Datenschutz ist heilig. Das wird auch die Bundesregierung einsehen müssen.

©Sören Kunz

Die Kirche der Erwachten

Würden Rockstars wie Jim Morrison von den Doors heute auftreten, würden sie sofort von der Bühne geholt werden, und zwar von links. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer von MeToo! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste

Reden wir zur Abwechslung mal über Latex. Latex wird aus dem Saft des Gummibaums gewonnen und lässt sich zu eng anliegenden Kleidungsstücken verarbeiten, die sich in Fetischkreisen großer Beliebtheit erfreuen.

Es gibt eine nicht unbedeutende Szene, die über eigene Zeitschriften, Treffpunkte und Idole verfügt. Ich will hier nicht in die Einzelheiten gehen, schließlich ist dies eine Familienzeitschrift. Aber die Freunde des Latex attestieren dem Werkstoff wundersame Wirkungen auf das Liebesleben.

Wie jede Subkultur sucht auch die Latexszene Sichtbarkeit und Anerkennung. Wer auf den Kontakt mit Gummi schwört, hat schließlich genauso ein Anrecht darauf, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden, wie, sagen wir, die Freunde der Taxidermie oder der Philatelie. Lange übrigens nichts mehr von Philatelisten gehört. Gibt es die überhaupt noch?

Am vorletzten Wochenende sollte eine große Latexparty im Strandbad am Berliner Plötzensee stattfinden. Alles war vorbereitet. Auch die Anwohner der anliegenden Kleingartenkolonie hatten ihre Einwilligung gegeben. Man ist schließlich in Berlin und nicht in Kleinwummersdorf.

Wobei genau das nach dem Wochenende infrage steht. Die Parade musste in letzter Sekunde abgesagt werden. Die grüne Umweltstadträtin Sabine Weißler äußerte Bedenken. Lärmschutz und Landschaftsschutz gingen vor. Es sei nicht auszuschließen, dass die Grünflächen Schaden erlitten. Also aus für die „Tropicalia“.

Im „Tagesspiegel“ habe ich ein Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Senioren-Union, Wolfram Wickert, zu dem Thema gelesen. Herr Wickert ist nicht nur der Bruder des bekannten Fernsehmoderators Ulrich Wickert, sondern erkennbar auch ein Mann, dem die Freiheitsrechte des Bürgers am Herzen liegen.

Der Berliner sei fröhlich und witzig, befand Herr Wickert von der Berliner CDU, aber das, was die rot-grüne Regierung politisch mache, habe damit nichts tun: „Kein Witz, keine Schlagfertigkeit, nur Verwalterei. Alles wird verboten, quotiert, unmöglich gemacht. Das schränkt einen so ein, das schränkt diese Stadt ein, auch geistig und kulturell.“

Kann man sich ein besseres Sinnbild für die Verdrehtheit der politischen Verhältnisse denken? Die Senioren in der CDU machen sich für das Recht auf Fetischparty stark – gegen die Grünen, die meinen: Unser Strandbad muss sauber bleiben!

Wann sind sie links der Mitte so falsch abgebogen, dass sie heute so weit rechts rauskommen, dass selbst ihre erzkonservativen Eltern dagegen wie liberale Freigeister wirken? Ich stehe da wirklich vor einem Rätsel. Vielleicht waren die Eltern von Leuten wie Frau Weißler Achtundsechziger, und sie zahlen es ihnen jetzt heim, indem sie extraverkniffen auftreten.

Es bleibt ja nicht beim Partymachen. Grundsätzlich steht jede Lebensäußerung, die zu laut oder zu grell oder überhaupt zu unbedacht ist, unter Beobachtung.

Vor einigen Tagen war der 50. Todestag von Jim Morrison, dem Sänger der Doors. Sowohl in der „FAZ“ als auch in der „SZ“ erschienen seitenlange Huldigungen. In dem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde an einen Auftritt erinnert, bei dem sich Morrison vor dem Publikum entblößt und sein Geschlechtsteil präsentiert haben soll.

Stellen Sie sich das heute mal vor. Den Skandal kann man gar nicht ermessen. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer der MeToo-Kampagne! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste.

Man könnte Beispiel an Beispiel reihen. In der „Welt“ hat die Redakteurin Anna Schneider eine ganze Liste von Vorfällen erstellt, bei denen sich Musiker entschuldigen mussten, weil sie a: die falschen Worte wählten. Oder b: einer Handlung bezichtigt wurden, die heute als unangemessen gilt.

Billie Eilish musste sich bei den Fans entschuldigen, weil sie als 13-Jährige mal die Lippen zu einem Lied bewegt hat, in dem sich über Asiaten lustig gemacht wurde. Justin Bieber musste sich erklären, weil er als Weißer Dreadlocks trägt. Winston Marshall, Mitglied der Folkband Mumford & Sons, musste sich rechtfertigen, weil er das Buch eines konservativen Autors gelobt hatte. Er hat dann die Band verlassen. Eminem musste sich dafür erklären, dass in seinen Liedern so oft Gewalt gegen Frauen vorkommt. Und so weiter und so fort.

Eines steht schon mal fest: Musikagent ist auch kein Job mit Glamour mehr. Früher musste man im schlimmsten Fall die Rechnung begleichen, wenn die Rockband das Hotelzimmer zerlegt hatte. Aber bei jedem Satz darauf achten, dass sich der Schützling nicht um Kopf und Kragen redet? Da wird man besser Gouvernante. Oder Sittenwächter.

Ich glaube, das Ganze ist nur psychologisch zu erklären. Viele Leute, die bei der neuen Linken heute den Ton angeben, laborieren an Problemen, für die man früher einen Therapeuten aufgesucht hätte. Man soll nicht pathologisieren, schon klar. Aber in dem Fall sagen es die Betroffenen ja selbst: Bereits ein Begriff könne ausreichen, alte Wunden aufzureißen und überwundene Traumata wiederzubeleben. Wenn das nicht pathologisch ist, dann weiß ich auch nicht.

Im Englischen hat sich für die Anhänger der neuen Linken der Begriff „Woke“ eingebürgert. „Woke“ heißt so viel wie „wach“ oder „erleuchtet“. Das klingt nicht von ungefähr nach Sekte.

Warum sich Menschen einer Sekte anschließen, ist gut erforscht. Die neue Glaubensgemeinschaft gibt ihnen Halt und endlich Antworten auf unbeantwortete Fragen. Dazu kommt ein Gefühl des Auserwähltseins. Kritik von außen bestätigt die Anhänger nur in ihrer Überzeugung. Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt, verdient es, bestraft zu werden.

Das eigentliche Rätsel ist, wie es solchen Leuten gelingen konnte, ganze Parteien zu kapern. Welche Tür in die Dunkelheit man aufstößt, wenn man sich mit den Truppen der Wokeness einlässt, hat gerade die Kanzlerkandidatin der Grünen erfahren. Acht Tweets brauchte Annalena Baerbock, um zu erklären, warum sie in einem Interview ein Wort benutzt hatte, das man in dieser Welt nicht mehr benutzen darf.

Frau Baerbock hatte das N-Wort verwendet. Beziehungsweise: Sie hatte es, in Anführungszeichen gesetzt, ausgesprochen, um auf einen Fall von Rassismus aufmerksam zu machen. Sie hatte weder das Wort einfach gedankenlos genannt noch jemanden beleidigen wollen. Sie hatte nur einen aus ihrer Sicht empörenden Vorfall geschildert, in dem jemand den Begriff „Neger“ benutzte.

Folgt man Frau Baerbocks Selbsterklärung, gibt es also Wörter, deren negative Kraft so stark ist, dass sie selbst als Zitat verheerende Wirkung haben, weshalb man sie am besten ganz aus den Gedanken verbannt. Das stellt nicht nur die Geschichtswissenschaft vor neue Herausforderungen, sondern den politischen Diskurs insgesamt. Magisches Denken ist hier bislang nicht vorgesehen.

Auf LinkedIn ging diese Woche ein Text viral, in dem ein Nutzer daran erinnerte, dass man auch ein freundlicher, mitfühlender Mensch sein kann, ohne das ständig unter Beweis stellen zu müssen. „Ich komme aus einer Generation, die David Bowie, Lou Reed hörte und liebte und sich nie das Problem stellte, was für sexuelle Vorlieben sie hatten“, schrieb der Mann.„Es war uns egal, wir waren zufrieden und selig, weil ihre Musik uns berührte, Elton John, Freddie Mercury und George Michael. Und als Jimmy Somerville uns seine Geschichte als Kleinstadtjunge erzählte, waren wir gerührt und haben mitgesungen. Und es gab keine Gesetze, die uns zwingen sollten, solidarisch zu sein oder an einem ‚Zeichen gegen…‘ teilzunehmen.“

Offenbar hat der Autor einen Nerv getroffen. Der Text wurde vielfach geteilt. Aber ich fürchte, es beweist aus Sicht der Erwachten lediglich, wie rückschrittlich viele Menschen noch immer denken.

Am besten hören wir nur noch Meditationsmusik. Da kann nichts schiefgehen. Das Zirpen der Grillen, dazu ein sanftes „Om“. Ist auch lärm- und naturschutzverträglich. Da kann nicht einmal Frau Weißler aus Berlin-Mitte etwas dagegen einwenden.

©Silke Werzinger

Im Minus

Ist der ökologisch bewusst lebende Mensch ein besserer Mensch? Wenn man der Forschung glauben darf, trifft eher das Gegenteil zu. Wer sich für besonders vorbildlich hält, überzieht gerne das Moralkonto

E-Auto-Skandal in Potsdam. Die grüne Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher wurde dabei erwischt, wie sie heimlich den VW Passat ihres Staatssekretärs auslieh, weil sie dem E-Auto nicht traute. Die Frau ist eigentlich stolze Fahrerin eines Audi-e-tron-Dienstwagens. Nicht ganz billig der Spaß. Da muss eine alte Oma lange für stricken. Andererseits: Wenn’s der grünen Sache dient, ist dem Steuerzahler kein Opfer zu groß.

Dummerweise stand neulich eine Dienstfahrt nach Ravensbrück im Norden Brandenburgs an. Entfernung von der Landeshauptstadt: 113 Kilometer. Man habe auf den Benziner des Staatssekretärs zurückgegriffen, weil Erfahrungswerte mit dem E-Auto auf längeren Strecken gefehlt hätten, hieß es zur Begründung. Auf Deutsch: Man weiß ja nicht, ob man mit einem Audi e-tron hin- und zurückkommt oder auf halber Strecke liegen bleibt.

Ist nicht ganz die Werbung, die man sich für die Elektromobilität wünscht. Ich kann Frau Nonnemacher gut verstehen. Einmal bei der Elektrokarre das Gaspedal durchgedrückt und statt nach 350 Kilometern, wie vom Hersteller angeben, ist schon nach 100 Kilometern Schluss.

Ein Kollege von mir ist mal mit dem Tesla über die Autobahn gebrettert. Scheinwerfer an, Klimaanlage aufgedreht, Radio auf volle Lautstärke – das ganze Programm. Er kam genau 96 Kilometer weit. Auch E-Auto-Fahren will gelernt sein. Immer nur sanft beschleunigen, nie über 110 Stundenkilometer, Licht nur sparsam verwenden und selbst im Hitzesommer lieber offenes Fenster als Kühlung: Dann klappt’s auch mit dem E-Wagen.

Die EU-Kommission will Verbrenner ab 2035 grundsätzlich verbieten, wie sie jetzt verkündete. Wenn es bis dahin nicht eine Revolution beim Batterieantrieb gibt, werden wir uns bei längeren Fahrten vom Auto verabschieden müssen. Ab 2035 dann nur noch Bahn oder Flugzeug, wenn es in den Urlaub gehen soll. Möglicherweise sind bis dahin ja auch die berühmten Flugtaxis in Betrieb, die unsere Digitalstaatsministerin Dorothee Bär unermüdlich anpreist. Auto ist dann jedenfalls out.

Es ist nicht immer ganz leicht, politisches Programm mit persönlichem Verhalten in Einklang zu bringen, wie der Fall aus Potsdam zeigt. Bevor sie bei Fridays for Future dazu übergingen, ihre Social-Media-Accounts zu säubern, präsentierte man sich noch stolz als weit gereister Weltbürger.

Bei Luisa Neubauer verzeichnete der Instagram-Account eine Reisetätigkeit, die jeden Reisebüroagenten stolz gemacht hätte. Auch Katharina Schulze, die sympathische Grünen-Fraktionsvorsitzende aus Bayern, hat über die Jahre so viele Flugmeilen angesammelt, dass man mit einem rechtzeitigen Flugstopp eine ganze Startbahn hätte überflüssig machen können. Als der Bundestag 2019 eine Auswertung der Flugreisen seiner Abgeordneten vorlegte, lagen die Grünen deutlich vorne.

Darf man als grüner Politiker fliegen? Selbstverständlich. Aus der Tatsache, dass jemand den Klimawandel für ein drängendes Thema hält, folgt noch nicht notwendigerweise, dass er seinen politischen Überzeugungen alles unterordnen muss. Das ist wie bei der AfD. So nett ein AfD-Anhänger im Einzelnen zu Flüchtlingen sein mag, so knallhart kann er dennoch für das Ziel streiten, möglichst viele Fremde außer Landes zu schaffen.

Schwierig wird es immer dann, wenn man versucht, aus seiner politischen Haltung moralischen Mehrwert zu schlagen. Vom Übermenschen erwartet man auch übermenschliche Disziplin.

Der Sünder ist mir allemal lieber als der Tugendbold. Manchen mag es erstrebenswert erscheinen, nur von Menschen umgeben zu sein, die keinen bösen Gedanken mehr hegen. Schreiben Sie es meinem Charakter zu, aber ich stelle es mir grauenhaft langweilig vor. Worüber soll man noch reden, wenn sich alle ständig am Riemen reißen? Auch für Spott oder üble Nachrede wäre dann kein Platz mehr. Als Kolumnist könnte ich einpacken.

Mir ist auch diese merkwürdige Wendung ins Provinzielle suspekt. War man nicht gerade bei den Linken immer stolz darauf, wie weltgewandt und kosmopolitisch man ist? Und nun soll es über die heimische Scholle nicht mehr hinausgehen. Im Frühjahr auf den Brocken, im Sommer ins Watt und im Herbst dann Elbsandsteingebirge: Verglichen mit den Aposteln der CO2-Vermeidung sind selbst die Heimatfreunde am rechten Rand Waisenknaben. Das ist die touristische Variante der Hufeisentheorie: Deutschland, Deutschland über alles, diese Mal dem Klima zuliebe.

Vor einigen Wochen haben die Grünen ein Wahlplakat veröffentlicht, auf dem dargestellt war, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Es zeigte eine glückliche Familie im Lastenfahrrad, im Sattel der Vater, der, ein fröhliches Liedchen auf den Lippen, in die Pedale trat, vorne auf der Bank die strohblonde Mutter, die lächelnd auf die Köpfe ihrer Kinder blickt. Wenn man mir nicht dazugesagt hätte, dass das Plakat von den Grünen stammte, hätte ich es für ein Bild eines Arno-Breker-Epigonen aus dem Haus der Deutschen Kunst gehalten.

Die Frage ist ohnehin, ob der grün lebende Mensch der bessere Mensch ist. Wenn man der Forschung glauben darf, trifft eher das Gegenteil zu. Die Psychologie spricht von „Moral Licensing“: Wer sich moralisch in die Brust wirft, weil er sich besonders vorbildlich verhält, wie er meint, leitet daraus das Recht ab, es an anderer Stelle nicht so genau zu nehmen.

Die Forscher vergleichen das mit einem Konto, auf dem man sich jede gute Tat gutschreibt. Dummerweise überschätzen viele Menschen auch auf dem Moralkonto ihre Solvenz, sodass sie regelmäßig ihren Dispo überziehen.

Chinesische Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Menschen, die Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen, weil sie glauben, damit ihre Gesundheit zu fördern, ansonsten weniger auf ihre Ernährung achten. Im „Journal of Behavioral Decision Making“ wurde von einem Experiment berichtet, wonach Geschenke dazu führen, dass sich der Schenkende nach Übergabe etwas weniger höflich, etwas weniger treu und etwas weniger altruistisch benimmt als vorher.

Auch in den sozialen Medien lässt sich der Effekt beobachten, wie ich einem Artikel im Wissenschaftsteil der „Süddeutschen“ entnommen habe. Wer öffentlich gegen Rassismus oder Sexismus streite, trete anderen gegenüber selbst oft ziemlich garstig auf: Man kämpft ja schon für die gute Sache, da gibt es eben auch Verluste und Opfer, scheint die Devise zu sein.

Vorletzte Woche wurde Frau Nonnemacher bei einer neuen Missetat erwischt. Wie sich herausstellte, hatte sie dieses Mal den Dienstwagen ihrer Staatssekretärin zweckentfremdet. Weil sie ihre Jacke im Bundesrat hatte liegen lassen, wurde der Wagen in die Stadt zurückbeordert, um die liegen gebliebene Jacke holen zu lassen.

60 Kilometer Leerfahrt wegen eines Kleidungsstücks, und das wieder nicht elektrisch, sondern mit Super im Tank? Die Fraktionen von Linken und Freien Wählern forderten eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses. „Es stehen schwere politische Vorwürfe im Raum“, erklärte Sebastian Walter, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei.

Gut, dass ich nicht links wähle. Ich könnte sogar meinen Kanarienvogel spazieren fahren lassen, ohne dass ich mich vor einem Untersuchungsausschuss verantworten müsste. Dafür gebe ich jedem Bettler, an dem ich vorbeikomme, einen Euro.

Ich erwähne das, damit hier kein falscher Eindruck entsteht. Falls jemand bei der Moral-Schufa fragt: Mein Konto ist derzeit nur leicht im Minus.

©Sören Kunz

Faktenfindungsstörung

Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus. Kaum etwas wurde an Annalena Baerbock so gerühmt wie ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis. Was ist da schiefgelaufen?

Annalena Baerbock hat sich für ihren Umgang mit der Plagiatsaffäre entschuldigt. Sie sei in die alten Schützengräben gerutscht, hat sie der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt.

Bittere Pille für ihren Rechtsanwalt, Prof. Dr. Christian Schertz beziehungsweise die Prominentenkanzlei Schertz Bergmann, die Baerbock auf dem Weg nach unten engagiert hatte. Als alter weißer Mann bezeichnet zu werden ist bitter. Aber als alter Schützengraben? Das wünscht man niemandem.

Es war ohnehin nie ganz klar, was der berühmte Anwalt aus Berlin ausrichten sollte. Angeblich ging es darum, die Kanzlerkandidatin gegen den Vorwurf der Urheberrechtsverletzung zu verteidigen. Aber bis heute ist von einer Klage gegen die sogenannten Plagiatsjäger nichts bekannt.

Stattdessen strengte Schertz in eigener Sache eine Gegendarstellung gegen „Focus Online“ an, weil dort in einem Halbsatz seine Zeit bei dem ebenfalls sehr berühmten Urheberrechtsanwalt Paul W. Hertin fälschlicherweise von acht auf zwei Jahre verkürzt worden war. Unterschätze nie die Eitelkeit von Medienanwälten!

Andererseits: Mit der Beauftragung von Professor Schertz sind die Grünen endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, also dort, wo man das „Goldene Blatt“ liest, die arme Meghan Markle in ihrem Millionärselend bemitleidet und sich für die Ehekabalen im Hause Wulff interessiert. Zu den Mandanten gehören oder gehörten Bettina Wulff, Boris Becker, Karl-Theodor zu Guttenberg.

Apropos Becker: War Christian Schertz nicht der Mann, der aller Welt versicherte, wie solvent sein Mandant sei, als ein englisches Gericht den Tennischampion für zahlungsunfähig erklärt hatte? Gestern Ehrensolvenzbescheinigung für Becker, heute urheberrechtlicher Persilschein für Annalena Baerbock: Das Leben als Anwalt bringt immer neue Herausforderungen.

Wobei: Ich sollte aufpassen, was ich sage. Schertz gilt als klagefreudig. Der „Super Illu“ hat er mal eine Gegendarstellung reingedrückt, weil die geschrieben hatte, dass Schertz es gernhabe, wenn man ihn als Promianwalt bezeichne. Dazu stellte er fest: „Ich mag es nicht, als ‚Prominentenanwalt‘ bezeichnet zu werden.“ Ich nehme vorsorglich schon mal alles zurück, auch die Bezeichnung Promianwalt. Nur, wenn man Christian Schertz nicht als Promianwalt bezeichnen kann, als was denn dann?

Das gleiche Problem hat man jetzt mit seiner berühmten Mandantin von der grünen Partei. Das Letzte, was sie den Journalisten zurief, bevor sie sich in den Urlaub verabschiedete: Erstens seien an einem Buch immer mehrere Autoren beteiligt, und zweitens handele es sich in ihrem Fall gar nicht um ein Sachbuch.

Andere kommen von Tolstoi und Cervantes, Annalena Baerbock kommt von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, wie man nun weiß. Aber: Kein Sachbuch? Was ist es denn stattdessen? Abenteuerroman? Befreiungsliteratur? Oder etwas ganz anderes? Dokufiction heißt die Gattung im Fernsehen, wo man Erlebtes und Erfundenes mischt. Vielleicht ist Annalena Baerbock die Begründerin eines ganz neuen Genres. Was den Verkauf angeht, muss man sagen: Die Quote stimmt. Das, immerhin, steht auf der Habenseite.

Am Montag haben die Grünen ihre Wahlkampagne vorgestellt. Jetzt soll es endlich um die großen Themen gehen: den Klimawandel, die soziale Gerechtigkeit, die Digitalisierung des ländlichen Raums. Die Leute hätten einen Hunger nach inhaltlicher Auseinandersetzung, erklärte der Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner. Ich verstehe nicht so viel von inhaltlicher Auseinandersetzung wie Herr Kellner, aber als ich das mit dem Hunger las, war mein erster Gedanke: Wenn er sich da mal nicht täuscht. Das eine ist, was die Leute sagen, was sie für wichtig halten, das andere, was sie tatsächlich interessiert.

Ich finde, die eigentliche Pointe der Nominierung wurde bislang nicht richtig gewürdigt. Jede Stimme für die Grünen sei eine Stimme gegen den Klimawandel, heißt es doch. Da das Überleben der Menschheit auf dem Spiel stehe, müssten sie das Kanzleramt übernehmen. Noch wichtiger als der Kampf gegen den Hitzetod ist den Grünen allerdings der Einsatz für die Quote. Dahinter muss alles andere zurücktreten, wie sich jetzt zeigt.

Die Grünen hatten einen Kandidaten, der das mitbrachte, was Annalena Baerbock fehlt: langjährige Regierungsverantwortung (Umweltminister und Vizeministerpräsident in Schleswig-Holstein), ein solider Lebenslauf (Doktor der Philosophie) – dazu gesegnet mit der Gabe der freien Rede und einer Reihe unzweifelhaft selbst geschriebener Bücher. Dummerweise hat Habeck das falsche Geschlecht. Deshalb liegt das Kanzleramt jetzt wieder in weiter Ferne.

Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus, das ist die andere Lehre aus den zurückliegenden Wochen. Was hat man in führenden Blättern nicht alles über Annalena Baerbock gelesen. Ihre Reden: Rockkonzerte. Ihr Aufstieg: ganz ohne die üblichen Machtspiele und Intrigen. Ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis: stupend.

Als Frau, „die noch im Halbschlaf das Kleingedruckte des Kohlekompromisses aufsagen könnte“, stellte sie der „Stern“ vor, der dann auch nur eine wirkliche Schwäche ausmachen konnte: „ihre Detailverliebtheit“. Ich weiß nicht, in wie vielen Geschichten über Annalena Baerbock ich das Zitat einer Parteifreundin gefunden habe, dass die Parteivorsitzende noch nachts um drei anrufe, weil sie einen völkerrechtlichen Vertrag gelesen und eine Detailfrage habe.

Und nun? Nun sieht es so aus, als ob die Vielbesungene und -gelobte nicht mal in der Lage ist, den Namen Walter Lübcke richtig zu schreiben oder die brandenburgische Kleinstadt Ludwigsfelde geografisch korrekt zuzuordnen. Die „taz“ hat ihr Buch „Jetzt“ am Wochenende einem Faktencheck unterzogen. Die Zahl der Fehler und Ungenauigkeiten füllte eine ganze Seite.

Auch im mündlichen Vortrag unterlaufen ihr ständig erstaunliche Verwechslungen und Versprecher. Ich habe neulich mal nachgezählt. Ich bin allein im ersten Anlauf auf über 20 Fehlleistungen gekommen.

Dass sie die UN-Charta für ein Gremium hält, Willy Brandt zum Begründer der sozialen Marktwirtschaft kürt und meint, das Stromnetz lasse sich auch als Stromspeicher nutzen: geschenkt. Aber wenn sie ihre Begeisterung für Europa damit begründet, dass ihr Großvater im Winter 1945 an der Oder gegen die Russen gekämpft habe, wird es ein wenig bizarr. Es soll ja auf Pazifikinseln japanische Soldaten gegeben haben, denen man zu sagen vergessen hatte, dass der Krieg aus war. Aber an der Oder?

Der CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber litt bekanntlich an Wortfindungsstörungen. Bei Annalena Baerbock muss man möglicherweise von einer Faktenfindungsstörung reden.

Viel ist in den vergangenen Wochen über die Unfähigkeit der grünen Kampagnenmanager geschrieben worden, die es versäumt hätten, sich auf vorhersehbare Nachfragen vorzubereiten. Habt ihr eure Kandidatin denn gar keinem Check-up unterzogen, lautete der händeringende Vorwurf von der „taz“ bis zum „Spiegel“. Eine Frage wurde interessanterweise ganz selten gestellt: Warum Annalena Baerbock glaubte, mit den Mogeleien durchkommen zu können?

Ein Grund für die Sorglosigkeit liegt in der Kumpanei zwischen Teilen der Presse und grüner Partei. Wer zu lange auf Händen getragen wird, dessen Reflexe erlahmen. Dazu zählt auch der Gefahrensinn. Zu viel Lob verdirbt außerdem den Charakter. Wenn man ständig über sich liest, wie gut man sich mit den Fakten auskenne, beginnt man, es irgendwann zu glauben.

©Sören Kunz

Die Schummelliese

Ein Ghostwriter, der keinen Strich am Text macht. Eine Autorin, die bis 23 Uhr in Terminen feststeckt. Die Version, die Annalena Baerbock zur Entstehung ihres Buches präsentiert, ist erkennbar Kokolores.

Ich habe am Wochenende etwas ganz Verrücktes getan. Ich habe das Buch von Annalena Baerbock gelesen. Es heißt „Jetzt“ und beschreibt dem Klappentext zufolge, was die Parteichefin der Grünen „persönlich als Politikerin antreibt, wie sie regieren will und wie wir gemeinsam die Erneuerung schaffen“.

Alle Welt sagt, dass die Grünen der nächsten Regierung angehören werden. Da will man als Journalist vorbereitet sein. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich gemeinsam mit Frau Baerbock die Erneuerung schaffen will, die sie mir in Aussicht stellt. Aber im Zweifel werde ich ja ohnehin nicht gefragt.

Was habe ich von der Lektüre behalten? Führung gelingt nur im Team. Demokratische Macht wird auf Zeit verliehen. Wir tragen Verantwortung für das Ganze. Um unsere Ziele zu erreichen, müssen Alt und Jung zusammenarbeiten. Ach so, und ganz wichtig: Neben dem Klima immer an die Kinder denken, denn die Kinder sind unsere Zukunft!

Vom Vernünftigen zur Plattitüde ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Das Interessanteste an dem Buch ist seine Entstehungsgeschichte. In der Verlagsankündigung steht, Annalena Baerbock habe es selbst geschrieben. So findet es sich auch in der Autorenangabe bei Amazon.

Hut ab, dachte ich. Viele Leute glauben, so ein Buch schreibe sich quasi nebenbei. Weit gefehlt. Wenn Sie nicht ein Sabbatical eingereicht haben, geht jeder Abend am Schreibtisch drauf, jedes Wochenende und jeder Urlaub. Ich spreche aus Erfahrung.

Annalena Baerbock kommt um 23 Uhr nach Hause, wie man in „Jetzt“ erfährt. Eine endlose Folge von Besprechungen und Terminen, abends eine Podiumsdiskussion – so schildert sie ihren Tag. Und danach noch an den Schreibtisch? Meinen allergrößten Respekt. Das schafft nicht mal Angela Merkel, und die löst bekanntlich vor dem Frühstück drei Weltkrisen.

Ganz so auf sich allein gestellt war die Autorin dann zum Glück doch nicht, wie man im Kleingedruckten erfährt. „In Zusammenarbeit mit Michael Ebmeyer“, steht etwas verschämt auf Seite vier des Buchs, gleich unter dem Versprechen des Verlags, dass man sich der Nachhaltigkeit verpflichtet fühle. Das hat verständlicherweise meine Neugier geweckt. Da bei der grünen Kanzlerkandidatin zuletzt immer wieder Fragen zu ihrem Lebenslauf auftauchten, habe ich mich gefragt, was mit „Zusammenarbeit“ gemeint sein könnte.

Zum Schreibprozess gibt es unterschiedliche Angaben. Der Wikipedia-Eintrag von Ebmeyer führt ihn als „Co-Autor“ auf. Im „Tagesspiegel“ wiederum heißt es mit Verweis auf den Ullstein-Verlag, Baerbock habe das Buch allein geschrieben. Frau Baerbock selbst hat die Zusammenarbeit zwischenzeitlich so erklärt: Im Dezember und Januar habe sie mit Ebmeyer lange Gespräche geführt. Auf Grundlage der wörtlichen Transkripte habe sie dann das Buch verfasst.

Das ist so ziemlich die verrückteste Autoren-Konstruktion, von der ich je gehört habe. Ein Ghostwriter, den man dafür bezahlt, dass er einem das Mikrofon hinhält, ohne anschließend einen Strich am Text zu tun? Dafür braucht es eigentlich keinen hoch bezahlten Spezialisten, der schon Klienten wie Außenminister Heiko Maas betreut hat. Das schafft, mit Verlaub, auch eine Mitarbeiterin in der grünen Parteizentrale.

Hätte Annalena Baerbock den Ghostwriter bloß seinen Job machen lassen, muss man im Nachhinein sagen. Sie hätte sich nicht nur endlose Stunden am Schreibtisch erspart. Sie hätte jetzt auch jemanden, den sie bitten könnte, doch einmal zu erklären, warum ganze Passagen des Buches nahezu wörtlich aus anderen Quellen abgekupfert wurden.

Möglicherweise wäre es zu der Abschreiberei mit Ebmeyer an ihrer Seite gar nicht gekommen. Der Vorteil eines Ghostwriters ist ja, dass er über die Zeit und die Erfahrung verfügt, die ein Spitzenpolitiker nicht hat.

Warum versucht sich jemand größer und weltläufiger zu machen, als er ist? Weil er das, was er bislang geleistet hat, als ungenügend empfindet, wäre die naheliegende Antwort.

Annalena Baerbock ist das Produkt eines Milieus, das auf geradezu rührende Weise selbstbezogen und selbstgenügsam ist. Seit der frühesten Kindheit spielt sich ihr Leben in der grünen Welt ab: aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Nähe von Hannover, als Kind zusammen mit den Eltern in der Menschenkette gegen Wettrüsten und Atomkraft, mit 24 Jahren dann Mitglied bei den Grünen.

Auch ihr Berufsaufstieg hat sich nahezu ausschließlich in der grünen Welt vollzogen. Soweit ich das sehe, hat es noch nie einen Kanzlerkandidaten gegeben, der so wenig Berührung mit der Außenwelt hatte wie Annalena Baerbock. Alles, was sie ist, verdankt sie der grünen Partei.

Ich meine das nicht als Vorwurf. Viele Politiker gelangen nach oben, weil sie besser als andere den Apparat kennen beziehungsweise wissen, wie man sich in den Gremien, auf die es ankommt, Freunde macht. Die Probleme setzen oft dann ein, wenn der Parteipolitiker auf ein Publikum trifft, dem die Versiertheit im Gremienkampf nicht so imponiert wie dem Profi.

Der Wähler hat naturgemäß andere Fragen als das Parteimitglied. Der Wähler fragt sich: Wende zum klimagerechten Wohlstand, meinetwegen, aber vorher hätte ich gerne gewusst, ob ich zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehöre. Ob jemand seinen Lebenslauf etwas aufgemotzt hat, ist für viele zweitrangig, das ist die tröstliche Nachricht. Nur weil die Plagiatsjäger bei jedem geklauten Satz kopfstehen, folgt daraus nicht notwendigerweise, dass auch die Wähler das so verdammenswert finden. Was die Leute allerdings nach meiner Beobachtung definitiv nicht mögen, ist, wenn jemand versucht, ihnen ein X für ein U vorzumachen.

Dass ihr Lebenslauf etwas dünne geraten ist, den Eindruck hatte offenbar auch Annalena Baerbock. Wie soll man sonst das Bemühen erklären, die Ausbildungsstationen ein wenig aufzuhübschen, indem man Mitgliedschaften bei Organisationen erfindet, bei denen man gar nicht Mitglied werden kann, oder eine juristische Ausbildung vorgaukelt, die es nie gegeben hat?

Warum ausgerechnet auch noch ein Buch sein muss, wenn man ohnehin kaum weiß, wo einem vor lauter Terminen der Kopf steht: Das lässt sich nur aus der Konkurrenz mit Robert Habeck erklären. Bei Habeck käme allerdings niemand auf die Idee, er hätte seine Bücher nicht selbst geschrieben. Manche Dinge kann man sich nicht kaufen, die kann man sich nur erarbeiten. An dieser Erkenntnis führt kein Klappentext und kein Bestsellerrang vorbei.

Ich würde mich auf Übermüdung herausreden.Wer nach einem 16-Stunden-Tag noch die Nachtlampe anschaltet, um den Menschen draußen im Lande einen Weg zur Erneuerung aufzuzeigen, hat ein wenig Nachsicht verdient. Es ist doch kein Wunder, wenn um ein Uhr morgens Fehler passieren. Der Mensch ist schließlich kein Roboter. Ich glaube, das steht auch irgendwo in „Jetzt“.

Michael Ebmeyer, der Mann, der angeblich nur das Mikrofon hielt, ist übrigens wieder zum Schreibhelfer aufgerückt. Als „Co-Autor“ bezeichnete ihn der Grünen-Berichterstatter des „Spiegel“, Jonas Schaible, in einem Text darüber, wie sich die Grünen gegen die Plagiatsvorwürfe wehren. Als „Mitautor“ firmierte er am Mittwoch in einem Kommentar der „Süddeutschen“.

So kann es manchmal in der Verlagsbranche gehen: eben noch ein kleines Licht, das es nicht mal aufs Cover schafft – dann unversehens der Mann, der irgendwie mitverantwortlich ist für jedes Wort und jeden Fehler.

©MICHAEL SZYSZKA

Spinnt Spahn?

Der Kolumnist hat nie zu denen gehört, die den Gesundheitsminister für jeden Fehler in der Krise verantwortlich machten. Aber jetzt reicht es ihm. Solange Jens Spahn dabei ist, wird er im September alles wählen, aber nicht die Union

Führt die Regierung einen heimlichen Feldzug gegen Kinder? Haben die Kinder irgendetwas getan, wofür man sich in Berlin meint rächen zu müssen? Das frage ich mich inzwischen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war am Wochenende bei der Evangelischen Akademie Tutzing zu Gast. Das Thema lautete „Nach Corona?“. Erst sprach Wolfgang Thierse, früher Bundestagspräsident und heute Leiter des Politischen Clubs der Akademie, ein paar Einleitungssätze. Danach war Spahn an der Reihe.

Der Minister zog zunächst eine positive Bilanz. Nie sei das Gesundheitssystem so überlastet gewesen, dass man Patienten hätte abweisen müssen. Die Wissenschaft habe eine wichtige Rolle gespielt. Auch der Zusammenhalt der Gesellschaft sei etwas, worauf man stolz sein könne.

Dann kam er auf die Delta-Variante zu sprechen. Schulen seien Drehscheiben des Virus in die Haushalte hinein, sagte Spahn. Da man unter 12-Jährige nicht impfen könne, werde man nach den Sommerferien wieder Schutzmaßnahmen brauchen: Masken, Abstand, Wechselunterricht.

Als ich das erste Mal von dem Auftritt hörte, dachte ich, das sei ein Scherz. Rückkehr zum Wechselunterricht? Weiß der Minister, wovon er redet? Kennt er die Wirklichkeit in den Schulen?

Meine Schwiegermutter war bis vor Kurzem Lehrerin an einer Grundschule in Bayern. Ihre beste Freundin hat noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. Sie hat ihre Schüler jetzt zum ersten Mal seit einem Jahr in der Klasse ohne Maske gesehen. Es war für alle ein bewegender Moment. Einige Kinder wussten gar nicht, dass es Unterricht ohne Maske gibt.

Und das soll jetzt wieder alles von vorne beginnen?

Man muss in der Zeitung nur umblättern, um von der Ankündigung über die Wiedereinführung des Wechselunterrichts zu dem Bericht über die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen zu gelangen. Die Zahl der psychisch auffälligen Kinder ist inzwischen so groß, dass nur wer akut in Not ist, einen Therapieplatz bekommt. „Akut in Not“ heißt: selbstmordgefährdet.

Auch Kinder, die nicht an Depressionen leiden, haben es schwer, in den Schulalltag zurückzufinden. Am Wochenende wurde eine Studie publik, wonach die Qualität des Distanzunterrichtes dem von Sommerferien entsprach. Jeder weiß, wie viel in den Sommerferien gelernt wird.

Es ist nicht so, dass die Regierung kein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in der Pandemie hätte. Fußballfans liegen ihr sehr am Herzen. In München lagen sich 14000 Menschen nach dem Sieg über Portugal in den Armen. Das Stadion ist keine Drehscheibe des Virus, es ist ein Drehkreuz. Aber man will ja kein Spielverderber sein. Außerdem gibt es Wichtigeres zu diskutieren als den Infektionsschutz, die Frage der angemessenen Stadionbeleuchtung zum Beispiel.

Man kann sogar nach London reisen, um dort der Siegermannschaft zuzujubeln. England steht wegen der Delta-Mutante auf der Skala der Risikogebiete als Virusvariantengebiet auf der höchsten Stufe. Die Bundesregierung rät von Reisen nach London ab. Aber es ist auch nicht so, dass man den Reiseverkehr unterbinden würde oder die Schlachtenbummler anschließend in Quarantäne nähme. Mit der UEFA will es sich niemand verscherzen. Deshalb fragt man auch vorsichtshalber um Genehmigung, bevor man das Stadion in den Farben des Regenbogens erstrahlen lässt.

Politik diene den Menschen, heißt es gern. Vor allem dient sie den Gruppen, die sich besonders lautstark in Erinnerung bringen. Ganz oben in der Gunst stehen Friseure, wie man jetzt weiß. Auch die Besitzer von Baumärkten haben mächtige Fürsprecher. Ziemlich weit hinten finden sich Künstler, Autoren, Freischaffende. Ganz unten rangieren Familien.

Am Ende ist Politik ein Rechenspiel. Es gibt 22 Millionen Rentner, das ist der mit Abstand wichtigste Wählerblock. Wer die Rentner auf seiner Seite hat, der sitzt praktisch schon im Kanzleramt. Wenn ich als Politiker vor der Wahl stünde, was ich als Erstes öffne, Kreuzfahrtschiffe oder Klassenräume, ich wüsste auch, wofür ich mich entscheiden würde.

Ich habe nie zu denen gehört, die alles, was schiefläuft, an Spahn aufhängen. Als man ihm aus den Maskendeals einen Strick drehen wollte, war ich im Lager derjenigen, die Verständnis für die Eile beim Einkauf hatten. Ich fand auch den Vorwurf überzogen, er habe an Obdachlose minderwertige Masken abgeben lassen, weil die nicht ausreichend darauf getestet wurden, ob sie bei 70 Grad noch einwandfrei funktionieren.

Selbst als herauskam, dass sein Ministerium Millionen mit Schnelltests in den Sand gesetzt hat, da man bei der Erstattung der Kosten die einfachsten Plausibilitätchecks unterließ, dachte ich: Okay, nicht schön, aber für jeden ist das die erste Pandemie, auch für die Beamten im Gesundheitsministerium. Inzwischen denke ich, dass Spahn als Minister einfach heillos überfordert ist.

Was soll das heißen: die Schulen seien Drehscheibe des Virus in die Haushalte hinein? Wollen wir erst dann über eine Rückkehr zur Normalität reden, wenn sich niemand mehr ansteckt? Was wäre der richtige Zeitpunkt? Wenn sich die sogenannte Herdenimmunität einstellt? Ob die je erreicht werden kann, daran haben die Virologen große Zweifel.

Am Montag hat Spahn seine Ankündigung relativiert. Er findet jetzt auch, dass es wichtig sei, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, er sagt das nur, weil er weiteren Ärger vermeiden will. Die Zahl der Infektionen hat sich über das Wochenende ja nicht geändert. Auch die Voraussagen über die Verbreitung der indischen Mutante sind die gleichen geblieben.

Was mich rasend macht, ist die Mischung aus Fatalismus und Nonchalance. Wann habe ich das erste Mal einen Artikel über die segensreiche Wirkung von Luftfiltern gelesen? Im Sommer 2020? 3500 Euro kostet ein Gerät, das alle Schadstoffe so verlässlich aus der Luft filtert, dass 99 Prozent der Viren hängen bleiben. Selbst das „Cafe Luitpold“ am Münchner Odeonsplatz hat sich so einen Kasten angeschafft, damit die Kundschaft unbehelligt von Aerosolen den Kuchen genießen kann. Aber für unsere Kinder ist uns die Anschaffung zu kostspielig?

Vor ein paar Monaten stand in der Zeitung die Geschichte eines Unternehmers, der die Untätigkeit nicht mehr ertrug und deshalb der Schule seines Sohnes ein Dutzend Geräte schenkte. Kaum waren die Filteranlagen geliefert, trat die Schulverwaltung auf den Plan und verbot die Aufstellung. Man könne nicht ausschließen, dass die Stromleitungen überlastet würden. Vor dem Kampf gegen das Virus steht in Deutschland immer noch die Brandschutzverordnung.

Man kann sagen: Gut, Spahn, der ist Gesundheitsminister, was hat der schon bei den Schulen zu entscheiden? Auch mein Zutrauen in die Kultusminister geht gegen null. Alle behaupten, das Schicksal der Schulkinder sei ihnen wichtig, man wolle die Schulen auf keinen Fall wieder schließen. Aber ich glaube, genau so wird es kommen. So wie ich die Kultusminister kenne, werden sie sich jetzt in die Sommerferien verabschieden, um mit Beginn des neuen Schuljahres dann erstaunt festzustellen, dass die Infektionszahlen im Herbst ja wieder steigen.

Meine Frau hat eigentlich immer die Union gewählt. „Solange Spahn dabei ist, wähle ich sie nicht mehr“, erklärte sie am Wochenende. Ich habe ihr beigepflichtet. Es ist ungerecht, den angesammelten Ärger an einer Person festzumachen, aber das ist nun einmal das Privileg des Wählers. Auf die Stimmen der Familie Fleischhauer wird die Union im September verzichten müssen.

©Sören Kunz

Die Verachtung des Wählers

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen. Auf den linken Führungsetagen fragt man sich händeringend, warum der Erfolg ausbleibt. Vielleicht liegt hier die Erklärung

Zu den bewundernswerten Eigenschaften des Kapitalismus gehört die Fähigkeit, alles zu seinem Vorzug zu nutzen, jetzt eben den Kampf gegen den Rassismus. Mein Freund Jakob Augstein vertritt die These, dass dem Kapitalismus im Grunde gar nichts Besseres passieren könne als die Fixierung auf Minderheiten.

Wäre ich Konzernboss, würde er sagen, dann ist der Deal doch ganz einfach: Stellen wir halt in der Führungsetage ein paar Leute ein, die fremd klingende Namen haben, und reden von „Audianer_innen“ statt von Beschäftigten. Solange sich an den Produktionsbedingungen oder den sozialen Verhältnissen nichts wirklich ändert: alles im Lot.

Im neuen Buch von Sahra Wagenknecht findet sich eine Geschichte, die Augsteins These sehr schön illustriert. Als der Lebensmittelhersteller Knorr im vergangenen Sommer ankündigte, seinen Saucenklassiker von „Zigeunersauce“ in „Paprikasauce Ungarische Art“ umzubenennen, war die Erleichterung groß. Endlich ein Sieg über den Rassismus! Großes Lob für die Einsichtsfähigkeit des Unternehmens!

Dass die zum Konsumgüterkonzern Unilever gehörende Firma den Mitarbeitern im Stammwerk Heilbronn zeitgleich einen neuen Tarifvertrag aufgezwungen hatte, mit deutlich schlechteren Bedingungen, fand hingegen kaum Beachtung. Keine Schlagzeile dazu, keine Erwähnung auf den Hauptnachrichtenseiten. Die Einzigen, die schäumten, waren die Betriebsräte, aber die gelten ja ohnehin als Leute von gestern.

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt herrscht auf der linken Seite des politischen Spektrums Rätselraten, wie man so tief fallen konnte. „Das Wahlergebnis ist für die SPD wirklich furchtbar, obwohl wir wissen, dass wir genau auf die richtigen Themen gesetzt haben“, erklärte die SPD-Spitzenkandidatin Katja Pähle, ein Satz, der das händeringende Unverständnis perfekt zusammenfasst. Eine der beiden Vorsitzenden der Linkspartei ließ sich zu der Einschätzung hinreißen, die Partei habe keine Fehler gemacht, die „gesellschaftliche Verfasstheit“ in Sachsen-Anhalt sei eben falsch.

Das Problem der Linken ist, dass sie Wählerstimmen mit Likes verwechseln. Wenn ein Thema auf Twitter oder Instagram besonders trendet, denken sie in der Parteizentrale, dass es auch im Wahlkampf zünden wird. Oder wie ein kluger Kopf neulich schrieb: „Die ganze Wahlkampfstrategie der SPD ist aus der Erfahrung entstanden, dass zustimmende Tweets und Postings zu Gender, Feminismus und Identitätspolitik gut geklickt werden.“

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen, dass sie es seien. Die Verkäuferin bei dm kann sehr wohl beurteilen, ob sich ihr Leben verbessert, wenn Olaf Scholz nach seiner Zeit als Bürgermeister und Bundesfinanzminister den Rollenwechsel zum „intersektionellen Feministen“ anstrebt. Im Zweifel sagt sie: Bleibt mir weg mit eurem komischen Feminismus. Mich interessiert, wann die Schulen wieder öffnen, damit die Blagen aus dem Haus sind, und weshalb meine Stromrechnung ständig steigt.

Die Verfechter der intersektionellen Theorie sagen, dass man das eine tun könne und das andere deshalb nicht lassen müsse. Das ist theoretisch richtig, aber so läuft es in der Praxis nicht. Eine politische Bewegung muss Schwerpunkte setzen. Für jedes Thema, das in den Vordergrund rückt, rutscht ein anderes aus dem Blickfeld.

Als ich groß wurde, war der hart arbeitende Mensch, der sich durch Fortbildung aus dem Sumpf seiner Unmündigkeit zieht, das Leitbild der Sozialdemokratie. Die romantische Idee, die man in Willy-wählen-Haushalten wie dem meinen von den sogenannten einfachen Menschen hatte, war zugegebenermaßen etwas kitschig.

Über das Leben am unteren Ende der Gesellschaft hatte man in den aufgeklärten Milieus schon damals eher vage Vorstellungen. Aber niemals wäre es meiner Mutter in den Sinn gekommen, sich über ungebildete Menschen lustig zu machen oder sie zu verhöhnen, weil sie nicht ihren bildungsbürgerlichen Ansprüchen genügten. Also damals: working class hero statt white trash.

Wenn heute von der Unterschicht die Rede ist, dann allenfalls am Rande. Schon das Wort, mit dem man die Abwertung aufgrund der Klassenzugehörigkeit dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus beiordnet, ist seltsam sperrig. Man spricht jetzt von „Klassismus“. Für mich klingt das eher nach einer Krankheit als nach einer politischen Diagnose.

Man kann die Entfernung von der Basis interessanterweise auch im Journalismus beobachten. So, wie sich viele Politiker zu fein für ihre Wähler sind, so schreiben viele Journalisten über die Köpfe ihrer Leser hinweg.

Ich wollte immer möglichst viele Menschen erreichen. Wenn man mir die Wahl zwischen einer Kapelle und einer Großkirche lässt, entscheide ich mich automatisch für die große Bühne. Ich dachte am Anfang meiner journalistischen Laufbahn, alle würden so denken. Aber da habe ich mich geirrt. Den meisten meiner Kollegen ist der Applaus ihrer Umgebung wichtiger als der publikumswirksame Auftritt.

Der Leser spielt, anders als man vermuten sollte, auf Redaktionskonferenzen oft nur eine untergeordnete Rolle. Die erste Frage, die sich viele Journalisten stellen, lautet: Was werden die Kollegen über meinen Text denken? Der mit der SPD-Berichterstattung betraute Redakteur hat vor allem die anderen mit der SPD-Berichterstattung betrauten Redakteure im Blick, der für die Grünen zuständige Redakteur den Kreis der Grünen-Kenner.

Da den Experten andere Dinge interessieren als den Laien, verschiebt sich der Fokus der Berichterstattung: vom Allgemeinen aufs Spezielle und vom Außergewöhnlichen aufs Detail, mit dem man unter seinesgleichen glänzen kann. Im Prinzip gilt das für alle Themengebiete, bei denen sich ein Spezialistentum herausbildet: Die Feministin richtet sich mit ihren Texten vornehmlich an andere Feministinnen, die Klimawandelwarner*in an die anderen Klimawandelwarner*innen, der Nazijäger an die Gemeinde der Nazijäger.

Dummerweise ist der Kreis der Spezialisten deutlich kleiner als die Zahl der eher durchschnittlich interessierten Menschen. Der Effekt ist unmittelbar an der Auflage ablesbar. Im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dem es egal sein kann, was die Leute vom Programm halten, muss sich eine Zeitung oder ein Magazin an der Kasse bewähren. Wer an seinen Lesern vorbeischreibt oder ihnen das Gefühl gibt, dass er sich für klüger hält als sie, hat da auf Dauer einen schweren Stand.

Die spannende Frage ist: Warum fällt es vielen politisch bewegten Menschen so schwer, den eingeschlagenen Weg zu verlassen? Die Logik sollte einem sagen, dass man gut beraten ist, sich für die Leute zu interessieren, von deren Zustimmung man abhängt. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Statt von seinen fixen Ideen zu lassen, werden die Anstrengungen verdoppelt. Also hebt man noch mehr Aufrufe gegen Klimawandel und Rassismus ins Programm. Im Zweifel handelt man nach dem Motto: lieber weniger Leser oder Wähler, dafür aber die richtigen.

Wollen Sie noch einen Witz hören? Joe Kaeser, der ehemalige Siemens-Chef, unterstützt jetzt Annalena Baerbock. Er finde, sie gebe eine prima Kanzlerin ab, hat er erklärt.

Mich erinnert das an den Atheisten, der auf seine alten Tage zum Glauben findet. Klar kann man sagen: besser spät als nie. Ich finde es halt nur so furchtbar opportunistisch. Acht Jahre an der Spitze eines der größten Dax-Konzerne stehen, in dieser Zeit Millionen machen, und das nicht nur ökologisch bewusst, um dann, wenn einen der Ruhestand zwickt, den grünen Denker zu geben, damit man auf den Podien neben den Leuten sitzt, die einen eben noch angefeindet haben?

Aber so ist halt der Kapitalist. Wenn man ihm die Gelegenheit gibt, quasi kostenlos auf die richtige Seite zu rutschen, nimmt er sie dankbar wahr. Vielleicht sollten die Grünen Eintrittsgeld für ehemalige Dax- Chefs nehmen. Wer zum grünen Klub dazugehören will, muss sich von der Hälfte seines Vermögens trennen.

Es gibt im Englischen eine schöne Redewendung: Put your money where your mouth is, lautet sie. Ich glaube, ich kann mir eine Übersetzung ersparen.

©Michael Szyszka

Mein Haus, mein Rad, mein Volvo

Mit den Grünen ist es wie mit allem, was gut und teuer ist: Man muss sie sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Um dabei zu sein, braucht es auch die entsprechenden Mittel

Viele Leute in meinem Milieu verhalten sich nach dem Motto: links reden, rechts leben. Ich halte es andersherum. Also rechts reden, links leben.

Meine Kinder bringe ich morgens im Lastenfahrrad zum Kindergarten (Ganztagskita, da Dual Career Couple). Für den Weg ins Büro nehme ich die S-Bahn. Im Juni kommt die Solaranlage aufs Dach. Solardächer gibt es ja leider noch nicht, anders als die grüne Parteivorsitzende meint, wenn sie im „Bild am Sonntag“-Interview ankündigt, Solardächer bei Neubauten zur Pflicht machen zu wollen.

Bislang muss man sich noch mit Solarpanels behelfen. Aber auch so darf ich mich zu den Vorzeigebürgern zählen: 11 kWp, plus Energiespeicher. Wenn endlich die Sonne vom Himmel brennt, wie von Fridays for Future versprochen, bin ich ab Sommer autark. Der nächste Schritt ist dann der eigene Brunnen. Dann brauche ich auch die Stadtwerke nicht mehr.

Gut, der SUV trübt ein wenig die Ökobilanz. Aber erstens ist es ein Volvo, der geht irgendwie als grün durch. Und haben wir nicht außerdem gerade gelernt, dass der SUV unter Anhängern der Grünen besonders beliebt ist?

Die Marktforscher der Beratungsfirma „Puls“ haben bei Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten ein Auto erworben haben (oder daran denken, in den nächsten sechs Monaten eines zu erwerben), nachgefragt, welchen Typ sie bevorzugen. 16,3 Prozent der Grünen outeten sich als Geländewagen-Fans, so viele wie bei keiner anderen Partei. Am schlechtesten schnitten Sympathisanten der Linkspartei ab. Für die ist Klassenkampf noch ein Begriff: Die sind für die SUV-Industrie und ihre Verheißungen verloren.

Den grünen Lebensstil muss man sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Sorry, dass ich das so deutlich sage. Um mithalten zu können, braucht man nicht nur das richtige Bewusstsein, sondern auch die entsprechenden finanziellen Mittel.

Schon ein Blick auf die Stromrechnung zeigt, dass die Klassengesellschaft nicht verschwunden ist, nur weil keiner mehr darüber redet. Fragen Sie mal einen Möbelpacker, was er davon hält, dass wir in Deutschland heute die höchsten Strompreise in Europa haben. Ich bin sicher, er wird einem mit ruhiger Stimme auseinandersetzen, dass die Energiewende nun einmal ihren Preis habe.

„Aber die Förderung, die Förderung!“, höre ich jetzt einige rufen. Leider gilt auch hier: Wer hat, dem wird gegeben. Das ist wie mit dem Milliardär, der noch in der ärgsten Wirtschaftskrise sein Vermögen mehrt, weil er über Anlagemöglichkeiten verfügt, auf die kein normaler Bürger Zugriff hat. Die Solaranlage wird großzügig von der Gemeinde gesponsert. Auch für das Lastenfahrrad gibt es in München einen Zuschuss, vorausgesetzt, es ist elektrisch.

Ich habe mich im Netz umgesehen, was die aktuellen Ausführungen kosten. Das Einsteigermodell Babboe City-E schlägt mit 2749 Euro zu Buche. Beim Urban Arrow, einem unter trendbewussten Eltern derzeit sehr beliebten E-Bike, muss man 4750 Euro auf den Tisch legen. Das sind für viele Menschen drei Jahresurlaube. Aber mei, dafür gondelt man dann garantiert CO2-neutral durch die Gegend.

Auch über das eigene Dach für die Fotovoltaikanlage verfügt, Gott sei’s geklagt, nicht jeder. Dass die grünen Pläne den Traum von der eigenen Immobilie noch weiter in die Zukunft schieben werden, darf als ausgemacht gelten. In Berlin haben sie in einem Großexperiment erprobt, welche Auswirkungen die Mietpreisbremse hat, die jetzt ins grüne Wahlprogramm soll. Die Zahl der angebotenen Mietwohnungen hat sich binnen eines Jahres halbiert. Dafür stiegen die Preise für Eigentum um 12 Prozent.

Mir soll es recht sein. Ich habe schon gekauft. Als neulich in meiner Gemeinde Bürgermeisterwahlen waren, habe ich für die grüne Kandidatin gestimmt. „Mehr Radwege sind doch gut, das hebt den Wert unseres Hauses“, sagte meine Frau, die aus der Finanzindustrie kommt und der ich auch in politischen Dingen meist folge. Nur im Bund sollte man die Grünen besser nicht ranlassen, meinte sie: Da könne zu viel Unsinn passieren.

Wen die grüne Wende wie viel kosten wird, das ist die große Frage. Vor zwei Wochen war Annalena Baerbock beim ZDF zu Gast. Wie es denn in Zukunft mit dem Fliegen aussehe, wurde sie gefragt. Ihre dort geäußerte Position lässt sich so zusammenfassen: Wir müssen verzichten, aber nichts wird eingeschränkt. Jeder könne fliegen, wohin er wolle, aber natürlich dürfe es keinen Konsum auf Kosten künftiger Generationen geben. Als die Interviewer sich mit den Antworten unzufrieden zeigten, erreichte die Kanzlerkandidatin schließlich das rettende Ufer: Der globale Flugverkehr müsse eingeschränkt werden. Globale Lösungen sind immer gut, da kann niemand etwas dagegen haben.

Das Wolkige und Wohlklingende ist die Paradedisziplin der Grünen, da macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Parteiprogramme bringen es mit sich, dass sie sich so lesen, als wäre die ideale Gesellschaft gleich um die Ecke, wenn sich nur alle endlich ein wenig am Riemen reißen würden. Die einzige Partei, die auf jeden Schmonzes verzichtet, ist die AfD, aber dort haben sie ja auch jeden Versuch aufgegeben, sympathisch zu wirken. Trotzdem bemühen sich die meisten Parteien wenigstens, hier und dort etwas Handfestes anzubieten.

Andererseits: Warum die Wähler vergraulen, wenn es auch ohne allzu Konkretes geht? Im Prinzip ist man sich ja einig, dafür sorgt schon die erstaunliche soziale Homogenität der Anhängerschaft.

Die Grünen waren immer ein Elitenprojekt. Keine andere Partei versammelt in ihren Reihen so viele akademisch gebildete oder zumindest anakademisierte Menschen. Nirgendwo ist der Anteil derjenigen, für die Wachstum schon deshalb keine Perspektive sein muss, weil sie auf die eine oder andere Weise vom Staat leben, ähnlich groß.

Lange haben sich die Grünen ihrer Herkunft geschämt. Bei der Wahl 2013 meinten sie noch, ein ambitioniertes Sozialprogramm auflegen zu müssen, um zu beweisen, dass sie auch etwas von Hartz IV verstehen. Inzwischen zeigen die Grünen ganz unverstellt, dass sie die Partei derer sind, die die Sorge ums Materielle weitgehend überwunden haben.

Auch die Grünen wissen, dass es da draußen Menschen gibt, die ihre Kinder nicht Jonas und Lena nennen, Montessori für einen Schaumwein halten und bei Fridays for Future bereits beim Buchstabieren ins Stolpern geraten. So wie man als gebildeter Mensch ja auch weiß, dass es im Regenwald Stämme gibt, die im Lendenschurz durch die Gegend streifen und noch mit Pfeil und Bogen jagen.

Man sieht sie halt nur nie. Jeder Grüne zählt mehr migrantisch bewegte LGBTQIA+-Aktivisten in seinem Bekanntenkreis als Abkömmlinge aus der Unterschicht. Schon das Wort ruft Unbehagen hervor. Deshalb ist auch ganz viel von klimagerechter Gesellschaft die Rede, das klingt irgendwie weitläufiger als die soziale Gerechtigkeit, für die man früher bei den Linken stritt. Zur Not erhöhte man halt die Hartz-IV-Sätze. Wenn es an etwas nie mangelt in der grünen Welt, dann an Geld. Das wächst dort auf den Bäumen.

Etwa 25 Prozent der Deutschen geben in Umfragen an, im September für die Grünen stimmen zu wollen. Weitere 25 Prozent sagen, dass sie sich theoretisch vorstellen könnten, grün zu wählen. Die Parteiführung wertet dies als Zeichen, dass die Grünen inzwischen Volkspartei seien. Für mich sind die Zahlen eher Ausdruck des Wohlstands dieser Gesellschaft.

Für 50 Prozent der Deutschen sind auch 200 Euro mehr für den Mallorcaflug kein Problem. Die Erhöhung der Ticketpreise hätte im Gegenteil sogar einen Vorteil. An Bord wäre man endlich wieder mehr unter sich: weniger Plebs, mehr Baedeker. Wenn das kein Versprechen an die Anhängerschaft ist!

Wer zählt als Opfer?

Die Mutter des Autors wurde am 26. April mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingewiesen. Seitdem ringen er und sein Bruder mit den Lockdown-Regeln, die jeden Kontakt verbieten

Eine Frau steht in der Küche und füttert die Katze. Es ist 10 Uhr morgens. Am Mittag wird sie ihren Mantel überziehen und sich auf den Weg in die kleine Stadt machen, um wie jeden Tag beim Italiener ihr Mittagessen abzuholen. Sie ist 84 Jahre alt. Sie hat Mühe, sich an Dinge zu erinnern, die man ihr erst vor Kurzem erzählt hat. Manchmal wird sie dann ärgerlich. Aber wenn man sie fragen würde, wie es ihr geht, würde sie sagen, dass sie sich nicht beklagen könne.

Plötzlich wird ihr unwohl, so als ziehe eine Wolke im Kopf auf. Das Telefon klingelt, einer der Söhne ist am Apparat. Du redest so komisch, Mama, sagt er, was ist los?

Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einem Krankenzimmer. Fremde Menschen treten an ihr Bett und machen sich an ihr zu schaffen. Sie fragt nach ihrem Zuhause, ihren Kindern. Die werde sie leider für längere Zeit nicht sehen können, sagt man ihr.

Die ältere Frau ist meine Mutter. Sie hat am 26. April einen Schlaganfall erlitten. Ich habe es in meiner letzten Kolumne erwähnt, als ich über die Unerbittlichkeit der Corona-Regeln schrieb. Wenn davon die Rede ist, dass man nicht voreilig öffnen dürfe, wird oft so getan, als gehe es darum, dass die Geburtstagsfeier pünktlich stattfinden kann oder der Jogger nach 22 Uhr wieder auf die Straße darf. Ich glaube, viele machen sich nicht bewusst, welche dramatischen Einschränkungen mit dem Lockdown verbunden sind, der nach wie vor in weiten Teilen Deutschlands gilt.

Ich dachte, das Kontaktverbot in der Klinik wäre temporär. Irgendjemand werde schon ein Einsehen haben, dass dies für eine alte Frau, die plötzlich aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurde, ein untragbarer Zustand ist. Aber es hatte niemand ein Einsehen. Alles, was wir zu hören bekamen, war, dass die Corona-Regeln grundsätzlich keine Besuche von Angehörigen erlauben würden. Ob man die Mutter nicht im Rollstuhl vor die Tür schieben könne, fragte mein Bruder. Nicht möglich, sagt die Stationsärztin. Sie wissen, die Ansteckungsgefahr! Aber die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken, tendiert draußen doch gegen null. Es tut uns leid, keine Ausnahme möglich.

Mein Bruder ist einmal geimpft, meine Mutter hat bereits ebenfalls eine erste Impfung erhalten. Spielt keine Rolle. Könnte man die Mutter nicht ein zweites Mal impfen, damit sie in die Gruppe derjenigen aufrückt, für die gelockerte Regeln gelten? Für Impfungen ist das Krankenhaus nicht zuständig. Außerdem gibt es auch bei vollständig Geimpften ein Restrisiko. Daher weiterhin: strenges Besuchsverbot.

Wir versuchen, uns aus den Bruchstücken an Informationen, die wir erhalten, ein Bild zu machen. Erst heißt es: ein leichter Schlag, man müsse sich keine Sorgen machen. Dann ist plötzlich von Lähmungserscheinungen die Rede. Ach, das hat Ihnen niemand gesagt? Ja, Lähmung der rechten Seite, das Sprachzentrum ist ebenfalls betroffen. Damit entfällt auch die Möglichkeit zum Telefonat. Später heißt es, meine Mutter habe im Krankenhaus eine Hirnblutung erlitten, Folge einer dort erfolgten medikamentösen Behandlung.

Das ist also die Lage: eine 84-jährige Frau, mutmaßlich verwirrt und geschockt, ohne Aussicht auf ein tröstendes Gespräch oder die Chance, sich mit jemandem, den sie kennt, über die Risiken einer Behandlung zu beraten. Angeblich hat man ihr empfohlen, einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen, da man Herzrhythmusstörungen festgestellt hat. Es heißt, sie habe die Operation abgelehnt. Ob sie wusste, was sie ablehnt?

Ich erzähle das nicht, weil ich Mitleid schinden will. Es gibt Menschen, die es noch schlimmer getroffen hat. Meine Schwägerin berichtet am Telefon von einer Freundin, die beide Eltern verloren hat, ohne dass sie Abschied hat nehmen können. Sie liege nachts manchmal wach und frage sich, wie die letzten Momente ihrer Eltern ausgesehen haben mögen, in der Isolation, ohne Gelegenheit, noch einmal die Hand eines vertrauten Menschen zu spüren.

Inzwischen sind immerhin die Palliativpatienten vom Kontaktverbot ausgenommen. So gesehen hat man Pech, wenn man zu langsam oder zu schnell stirbt. Was in den Krankenhäusern passiere, sei furchtbar, sagt die Schwägerin, und sie ist kein sentimentaler Mensch. Sie ist selbst Ärztin.

Ich erzähle das, weil ich es leid bin, dass so getan wird, als habe der Lockdown keine Opfer zur Folge. Ich bin immer wieder sprachlos, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen, die niemanden an die Pandemie verloren haben, im Namen der Corona-Opfer sprechen.

Ich habe in der erwähnten Kolumne beschrieben, was passiert, wenn man von der Berichterstattung in den Kampagnenmodus wechselt. Ich erwähnte dabei auch den „Spiegel“, der mit einer Reihe von Prognosen spektakulär danebenlag. Am Nachmittag der Veröffentlichung meldete sich der Ressortleiter der Wissenschaftsredaktion, Olaf Stampf, auf Twitter. „Wenn 70000 Tote seit Oktober keine furchtbare Zahl ist, weiß ich auch nicht“, schrieb er. Hat Olaf Stampf einen Angehörigen verloren, fragte ich mich, als ich das las. Weiß er, wie es sich anfühlt, wenn erst der Vater stirbt und dann die Mutter?

Mein Vater ist im April letzten Jahres gestorben. Er lebte in einem Pflegeheim. Er hat sich furchtbar gegen den Umzug gewehrt, wie viele alte Menschen, die wissen, dass der Schritt unumkehrbar ist. Fast ein Jahr lang hat er gebettelt, dass man ihn wieder nach Hause lasse. Irgendwann hat er sich gefügt. Was ihn aufrecht hielt, waren die Besuche meiner Mutter. Morgens um 10 Uhr kam sie, um ihm beim Frühstück zu helfen. Sie saß neben ihm, wenn er in der Zeitung las, und auch, wenn er in seinem Rollstuhl döste.

Als die erste Welle Deutschland heimsuchte, hieß es, niemand außer dem Pflegepersonal dürfe das Heim betreten. Man kann der Heimleitung keinen Vorwurf machen, sie hat alles getan, was in ihrer Macht stand. Als meine Mutter wieder zu meinem Vater durfte, gab es den Mann, den sie verlassen hatte, nicht mehr. Wäre ich pathetisch, würde ich sagen: Das Virus hat ihn ausgelöscht, wie eine Kerze, der man den Sauerstoff entzieht. Zehn Tage später war mein Vater tot.

Ist er ein Corona-Opfer? Gehört er zu denen, die der bayerische Ministerpräsident als die „wahren Opfer“ der Krise bezeichnet hat? Was ist das überhaupt, ein wahres Opfer?

Der Gesundheitsminister hat einen Intensivpfleger in die Bundespressekonferenz eingeladen, damit er aus seinem Alltag berichtet. Das Video des Auftritts wurde tausendfach geteilt. Ich bewundere Leute, die Leben retten. Andererseits: Ist es nicht die Aufgabe eines Intensivpflegers, schwer kranke Menschen zu versorgen, unabhängig von der Art der Erkrankung?

Man könnte sich auch fragen: Warum lädt Jens Spahn nicht einen Kinder- und Jugendpsychiater ein, der Auskunft geben könnte, wie es auf seiner Station aufgrund des Lockdowns aussieht? Oder einen Seelsorger, der berichtet, wie es ist, wenn die Menschen einsam sterben, weil die Regeln es so verlangen? Weil man dann plötzlich einen anderen Blick auf die verhängten Maßnahmen bekäme?

Ich fürchte, wenn ich noch einmal höre, dass den Leuten, die für Lockerungen sind, Menschenleben egal seien, muss ich speien. „80000 Menschen tot“, brüllte der ZDF-Moderator Jan Böhmermann im Streit um die Videos, mit denen eine Reihe von Schauspielern gegen die Corona-Maßnahmen protestierte, ins Netz. Nur das: „80000 Menschen tot“. So, als sei die Zahl der Menschen, die seit dem Beginn des Lockdowns an Covid gestorben sind, ein Argument, gegen das sich jeder Einwand erübrige.

Hat Jan Böhmermann einen geliebten Menschen verloren? Trauert er um den Verlust? Oder ist sein Auftritt nur ein Stunt, eine der Aktionen, mit denen er sich im Gespräch hält? Ein Ressortleiter des Redaktionsnetzwerkes RND schrieb, die Schauspieler würden die Angehörigen verhöhnen. Ich weiß nicht, welche Angehörigen der Mann kennt. Ich fühlte mich nicht verhöhnt.

Am Dienstag durfte mein Bruder meine Mutter nach 16 Tagen sehen. Die Oberärztin sagte, ihr Zustand sei so traurig, dass er nahe an dem einer Palliativpatientin sei, da könne man eine Ausnahme machen. Er durfte eine Stunde lang ihre Hand halten. Bei der Verabschiedung erinnerte man ihn daran, dass dies wirklich eine einmalige Ausnahme gewesen sei.

„80 000 Menschen tot“, brüllt Jan Böhmermann ins Netz ©Marie Wolf

Die große Bildungsillusion

Immer mehr Schüler haben Abitur, die Zahl der Einser-Abiturienten steigt und steigt. Was nach einem großen Erfolg der Bildungspolitik aussieht, ist in Wahrheit das Ergebnis eines kleinen, aber entscheidenden Tricks

Sind Menschen in Ländern, die von der SPD regiert werden, dümmer als anderswo und wählen daher SPD? Oder werden sie dümmer, weil die SPD regiert, und schneiden deshalb bei Bildungstests schlechter ab?

Seltsame Frage, werden Sie jetzt vielleicht sagen: Wie kommt Fleischhauer denn darauf? Ganz einfach, wäre meine Antwort: Ich habe mir die Ergebnisse der Studien angesehen, in denen der Kenntnisstand von Schülern ab der vierten Klasse erhoben wird. Überall, wo die SPD regiert, hängen die Kinder hinterher. Es gibt also, so muss man daraus schließen, einen Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Bildungsniveau.

Man kann es auch konkret machen: In Bayern und Sachsen schneiden Schüler mit weitem Abstand am besten ab. In Schleswig-Holstein, Hessen und dem Saarland sind die Ergebnisse immer noch sehr manierlich. Weit hinten liegen regelmäßig Berlin, Bremen oder das schöne Rheinland-Pfalz, egal, ob man nun nach den Rechenkünsten oder dem Lesen fragt.

In Bremen hinken die Schüler ihren Altersgenossen im Süden leistungsmäßig ein Jahr hinterher. Was umgekehrt bedeutet: Wer in Bayern lebt, kann sein Kind jede Woche einen Tag zu Hause lassen, ohne dass es auffallen würde, wenn er nach der Grundschule in den Norden zöge. Vielleicht sollte man die Teilnahme an „Fridays for Future“ vom Wohnort abhängig machen: Demo-Verbot für alle SPD-regierten Länder. Dann haben sie dort möglicherweise endlich eine Chance, zu Bayern und Sachsen aufzuschließen.

Bildungspolitik ist ein vernachlässigtes Feld. Dabei ist das, was an den Schulen geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht), für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutsam wie die Frage, wie viele Kohlekraftwerke das Land verträgt. Was wir heute nicht in die Köpfe der Kinder bekommen, werden wir auch in 20 Jahren dort nicht vorfinden.

Hin und wieder steigen aus dem Schulalltag beunruhigende Nachrichten auf. Vergangene Woche machte das Ergebnis der neuesten Pisa-Untersuchung die Runde, wonach jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren schon bei einfachen Satzkonstruktionen an seine Grenzen stößt. Aber das beschäftigt die Medien gerade mal einen Tag, dann sind sie wieder beim Klimagipfel in Madrid oder dem Wunschzettel der SPD für die große Koalition.

Manchmal gibt es Streit. Bayern und Baden-Württemberg haben ankündigt, den Nationalen Bildungsrat zu verlassen. Ich habe nicht ganz verstanden, worum es geht. Offenbar fürchten die Bayern, dass es an bayerischen Schulen bald so zugehen könnte wie im Rest der Republik, wenn sie einem zentral ausgehandelten Abitur zustimmen.

Mich macht schon mal misstrauisch, wenn ausgerechnet der Berliner Bürgermeister Michael Müller von einem Affront spricht. Ich habe zehn Jahre lang in Berlin gelebt, ich kenne die Berliner Schullandschaft aus eigener Anschauung. Lassen Sie es mich so sagen: Man kann auch in Berlin für seine Kinder eine gute Schule finden. Man muss allerdings sehr lange Fahrwege in Kauf nehmen.

Ich glaube, Bildung ist deshalb kein großes Thema, weil im Prinzip alles zu laufen scheint. Immer mehr Schüler haben Abitur. Inzwischen verlässt fast jeder zweite Jugendliche die Schule mit dem Ausweis der Hochschulreife. Die Schüler werden auch immer besser. Die Zahl der Einser-Abiturienten ist binnen zehn Jahren von 20 auf 25 Prozent gestiegen. Was zwei Deutungen zulässt: Wir haben es heute mit der klügsten Generation zu tun, die jemals in Deutschland zur Schule gegangen ist. Oder jemand hilft nach, und damit meine ich nicht den Nachhilfelehrer. Die Lebenserfahrung spricht für die zweite Annahme.

Ich habe mich darüber lange mit dem Frankfurter Didaktikprofessor Hans Peter Klein unterhalten. Klein ist Biologe. Zur Bildungspolitik kam er, weil er jedes Jahr in seinen Vorlesungen mit den Absolventen der deutschen Bildungsanstalten zu tun hat. Vielen Erstsemestern fehlen heute selbst Grundkenntnisse, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren. Die Durchfallquoten im Grundstudium nähern sich in einigen Fachbereichen dem Wert von 70 Prozent. Also begann Klein sich für die Frage zu interessieren, was im Abitur eigentlich geprüft wird.

Die erste Erkenntnis war: Die Kultusminister sind dazu übergegangen, den Schwerpunkt von der Vermittlung von Wissen auf die Vermittlung von Kompetenz zu verlagern. Im Abitur wird folgerichtig nicht mehr geprüft, was jemand an Wissen erworben hat, sondern ob der Prüfling in der Lage ist, Wissen anzuwenden. Das ist weit mehr als eine semantische Nuance, es ist eine fundamentale Änderung des Bildungsauftrags.

Wenn nicht der Erwerb von Wissen, sondern die Anwendung von Wissen entscheidend ist, müssen sich die Fragestellungen ändern. Klein hat eine Reihe von Abituraufgaben zusammengetragen, an denen man sehen kann, dass in der Frage bereits alle für die Antwort wichtigen Informationen enthalten sind. Es reicht also, die Aufgabe aufmerksam zu lesen, um zum richtigen Ergebnis zu kommen.

Weil ihm niemand so richtig glauben wollte, dass man heute auch ohne Kenntnisse in der Sache durch eine Prüfung kommt, hat Klein in einer Art Guerilla-Experiment die Abituraufgabe im Fach Biologie in Nordrhein-Westfalen einer neunten Klasse vorgelegt. Das Ergebnis: vier Fünfer, 14 Vierer, fünf Dreier, drei Zweier und eine Eins. Womit bewiesen wäre, dass in NRW jeder, der Lesen und Schreiben kann, theoretisch in der Lage ist, die Hochschulreife zu erwerben.

Den Kultusministern ist es natürlich unangenehm, wenn die Bildungsillusion auffliegt, deshalb machen sie ein großes Geheimnis ums Abitur. Wie groß die Bildungsunterschiede in Deutschland sind, fällt nur dann wirklich auf, wenn ausnahmsweise einmal ungestützt gefragt wird, was ein Kind weiß. Eines der Bundesländer, die sich der Bildungsschummelei verweigert haben, ist Bayern. Auch in Sachsen und Baden-Württemberg hält man das Pauken von Zahlen und Fakten nicht per se für einen Zopf, der eingemottet gehört.

Viele Reformer klagen seit Langem darüber, dass die Bildungspolitik Ländersache ist. Kaum ein Reformaufruf kommt ohne die Forderung aus, endlich die Kleinstaaterei in der Bildung zu beenden. Ich bin da entschieden anderer Meinung. Dass in einigen Bundesländern die Kinder noch etwas lernen, das über den Erwerb von „Kompetenz“ hinausgeht, haben wir allein dem Föderalismus zu verdanken.

Wir hätten heute überall Berliner Verhältnisse, wenn die Bundesregierung auch in der Schulpolitik entscheiden dürfte. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Sozialdemokratisierung der Gesellschaft hätte ausgerechnet vor dem Gymnasium halt gemacht?

Der eigentliche Skandal guter Bildung ist, dass sie Unterschiede besonders sichtbar macht und gerade nicht nivelliert. Das mittelbegabte Kind wird mit der richtigen Förderung besser, das überdurchschnittlich intelligente wird seinen Klassenkameraden weit enteilen. Schule kann immer nur das fördern, was bereits da ist.

Deshalb steht die Gemeinschaftsschule links der Mitte ja auch so hoch im Kurs: Lieber alle gleich schlecht als die einen schlecht und die anderen sehr gut.